1. Schalten | Walten. Tatsache und Theorie des Fernsehens
Das Fernsehbild ist das erste Bild, das man ein- und ausschalten und sogar umschalten kann. Es ist, wie vor allem Marshall McLuhan immer wieder betont, ein elektrisches Bild: das Bild im Zeitalter der Elektrisierung (MK, 18 ff.). Elektrisches Licht ist aber nicht nur künstlich und flächendeckend und verwandelt Nacht in Tag (MK, 69), es ist vor allem schaltbar. Das Fernsehen als Medium elektrisch schaltbarer Bilder hat damit eine alle anderen Bildmedien überragende, eine »waltende« und bis heute prägende Wirkung gehabt. Es hat die westliche Populärkultur und die allgemeinen Kommunikationsverhältnisse von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis um die Jahrtausendwende dominiert. Es hat uns vom Zeitalter der klassischen, analogen Massenmedien wie Zeitung, Film und Radio hinübergeführt in das Zeitalter der digitalen und vernetzten Medien. Damit hat es auch der gegenwärtigen Medienkultur und -praxis in noch oftmals unbegriffenem Maße seinen Stempel aufgedrückt. Es hat ganze Lebensformen gestaltet, das Zeitalter des Konsums heraufgeführt und begleitet, der Kleinfamilie ihre Ökonomie und Moral gegeben und ihren Verhaltens- und Wissensalltag bestimmt. Fernsehen hat Politik- und Machtstrukturen definiert. Es hat die Bilderproduktion und den Umsatz an Bildern exponentiell anwachsen lassen. Es hat Zeitordnungen geschaffen und durchgesetzt, von einem veränderten Tages- und Wochenrhythmus bis zum Grundverständnis von Aktualität, von Ereignis und Zustand bis zu den Praktiken der Erwartung und Erinnerung. Es hat Träume besetzt. Über Ordnungen im Raum hat es in massiver Weise Prozesse der Ein- und der Ausschließung in Gang gesetzt und mittels seiner Programme Kontrollformen über die Wissensverteilung etabliert, die bis heute in Kraft sind. Fernsehen hat ohne jeden Zweifel Einfluss ausgeübt auf den Wandel der Generationen- und Geschlechterbeziehungen, auf die Herausbildung und den Umbau differenzierter globaler Kulturen, auf Natur in ihrem Verhältnis zu Kultur und Technik. Sein weltweiter Umgang mit Bildern und Tönen markiert eine unhintergehbare Folie für deren Konsistenz und Anmutung, ihre Transformations- und Zirkulationsfähigkeit. Hinsichtlich Reichweite, Durchdringungstiefe und Vermittlungsgeschwindigkeit der Information setzt es noch immer den Standard. Und es befindet über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, über Offensichtlichkeit und Verborgenheit, Nähe und Entfernung, Wirklichkeit und Fiktion, über Prominenz und Normalität. Fernsehen hat Geschichte geschrieben. Es hat darüber entschieden, was eine Erzählung, was eine Nachricht, was ein Subjekt und ein Objekt – und was überhaupt ist (wir kommen speziell darauf gleich zurück).
Trotzdem sehen sich viele Theorieansätze, die sich dem Fernsehen zuwenden, zu einer markanten und seltsamen Feststellung gezwungen: Als Gegenstand der Theorie nämlich sei das Fernsehen marginal geblieben. Fernsehen und Theoriebildung befinden sich – so sagen es viele Fernsehtheorien selbst – im Zustand tiefster Inkommensurabilität (GTF, 8; UT, 23 f.). Auch wenn andere es optimistischer sehen (FF, 8 f.), so fällt tatsächlich auf, dass zwar ein Grundbestand an einigermaßen anerkannten fernsehtheoretischen Gedanken und Einzelbeobachtungen vorliegt. Aber dieser Bestand ist bislang nie auch nur zum – und sei es umstrittenen – Vorschlag einer Gesamtschau, einer monografisch vorgetragenen Globaltheorie und auch nur gelegentlich zu einer Summe integriert oder ausgebaut worden. Anders als beispielsweise die Schrift oder der Film hat das Fernsehen keine Theorie, auch keine Mehrzahl an Theorien, hervorgebracht, die mehr als einen isolierten Teilaspekt des Mediums erfassen und das Medium auf den Begriff, auf ein Modell oder einen in der Einheit der Differenzen gefassten Blickwinkel festlegen würden. Theoretisch scheint Fernsehen bis heute weitgehend unverstanden und seine Theorie jedenfalls unformuliert geblieben zu sein.
Die einfachste, naheliegendste Erklärung für diesen Umstand ist, dass genau diejenigen, die für die Theoriebildung eigentlich zuständig wären und die für die Theoriearbeit ausgebildet sind, Akademiker, Medienwissenschaftler, Intellektuelle, Kritiker, Philosophen, Feuilletonisten, sich für das Fernsehen schlichtweg nicht interessieren. Fernsehen ist eine überwiegend kommerziell geprägte massenkulturelle und daher notwendig triviale Form. Es ist einerseits primitiv und oft vulgär, andererseits auf eine komplexe, teure und aufwendige Technik gegründet (noch Mitte der 1980er Jahre, vor dem Eindringen des PC in das Alltagsleben, war das Farbfernsehgerät das mit Abstand komplizierteste technische Gerät im Durchschnittshaushalt). Beides, das Vulgäre wie das technisch Komplexe, zieht akademische Begriffs- und Theoriebildung nicht gerade an. Es lädt im Gegenteil dazu ein, Fernsehen mit Verachtung und eindeutiger Abwertung zu begegnen. Hartmut Winkler hat dafür die treffende Formulierung vom »Olymp und Schweinekoben« gefunden (NH, 93). Der Götterhimmel akademischer Begriffsarbeit scheut den Blick auf, schon gar den Aufenthalt am Schweinekoben unsäglicher kommerzieller und alltagskultureller Trivialität. Allerdings muss man sagen, dass auch der Film oder das Radio in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts derlei Eigenschaften aufweisen; auch sie sind massenmedial und technisch verfasst. Auch sie provozierten zahlreiche kritische Abhandlungen. Aber es hat dennoch niemanden gehindert, sich auf eine ernsthafte und als gültig anerkannte Theoriebildung zu diesen Medien einzulassen. Film- und Radiotheorie haben es daher durchaus zu monografischer Würdigung gebracht, deren Ansehen und Umfang die Fernsehtheorie mühelos hinter sich lassen.
Es muss also weitere Gründe für den Theoriemangel geben. Eine weitergehende und eher medientheoretisch inspirierte Erklärung könnte im Anschluss an den Medienpädagogen Neil Postman ansetzen (WAT, 83 ff.). Theoriearbeit und theoretische Reflexion sind demnach grundsätzlich begriffsgesteuert. Sie sind deshalb im weitesten Sinne an die Schriftform und an deren Rationalität gebunden. Genau darauf aber, auf die abstrakte, logische Rationalität der Begriffe und der Argumentation und auf die sie tragende und begründende mediale Form der Schrift, ziele, so Postman, der zentrale Angriff des Fernsehens. Die abendländische Schrift- und Argumentationskultur und mit ihr die Fähigkeit zur Theoriebildung und -diskussion werden vom Fernsehen massiv untergraben und schließlich außer Kraft gesetzt. Das liegt natürlich an der Bildzentriertheit des Mediums, vor allem aber an der (Un-)Logik in der Verkettung und Anordnung seiner Bilder. Wir werden darauf in dieser Einführung noch ausführlich zurückkommen. Hier soll zunächst die Annahme genügen, dass das Fernsehen keine angemessene Theoriebildung erfahren hat, weil es seiner Form nach einer Theorie- und Begriffskultur grundfremd ist.
Überzeugend erscheint dies allerdings bei näherem Hinsehen auch nicht. Denn durch nichts ist gesagt, dass Theorie sich nur an ohnehin schon theorieförmigen Gegenständen und Themen ausbilden kann. Die Unlogik des Fernsehens könnte im Gegenteil Theoriebildung geradezu herausfordern – sie hat es aber bislang offenbar nicht getan; jedenfalls nicht, solange wir an »große« Theorie denken. Der Philosoph Stanley Cavell bietet in seinem Essay über »Die Tatsache des Fernsehens« eine andere und sehr bedenkenswerte Überlegung an. Auch er wählt das verblüffende Ungenügen in der Theoretisierung des Fernsehens als Ausgangspunkt (TF, 125). Und auch er betrachtet auf der Suche nach einem Grund für dieses Ungenügen zunächst die Formen- und Anordnungswelt des Fernsehens. Als dominante kulturelle Form, die das Medium ausgeprägt und durchgesetzt hat, macht Cavell die Form der Serie aus (TF, 132-139). Alles, was Fernsehen zu sagen und zu zeigen hat, muss demnach durch die Anordnung in der (einen oder anderen) Form der Serie hindurch. Um zu begreifen, was Fernsehen ist und leistet und warum – und um zu verstehen, warum es theoretisch unbegriffen geblieben ist –, muss man sich mit der Form der Serie befassen.
Um etwas zu begreifen, ist es nützlich, es zunächst von etwas anderem zu unterscheiden. So unterscheidet Cavell Serien des Fernsehens von den Genres des Films (TF, 132 ff.). Dass Cavell gerade diesen Ausgangspunkt wählt, liegt daran, dass er sich mit dem Phänomen der Genrebildung im Film früher schon ausgiebig befasst hatte. Wie die Serien des Fernsehens umfassen auch die Genres des Films in nahezu beliebiger Fortsetzbarkeit große Anzahlen einzelner, wohldefinierter Teile oder »Werke« und ordnen sie zu Gruppen an. Aber in der Beziehung des Teils zum Ganzen, des Werks zum Genre bzw. der Episode zur Serie, unterscheiden sie sich, so Cavell, erheblich. Die Eigenschaften nämlich, die ein Film haben muss, um zu einem bestimmten Genre gezählt zu werden, werden in den Filmen des jeweiligen Genres selbst ständig neu ausgehandelt. Und zu einem bestimmten Genre gehört ein Film nicht etwa dann, wenn er bestimmte Eigenschaften aufweist, sondern wenn er sich an dieser Aushandlung beteiligt. Als Form reflektiert ein Film...