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Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien zur Einführung

AutorNicolas Pethes
VerlagJunius Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783960600114
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Nicht nur Individuen, sondern auch Gruppen, Kollektive und Nationen konstruieren ihre Identität durch den Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit: Jahrestage, Denkmäler, Museen und Bibliotheken bilden die rituelle und mediale Basis für das »kulturelle Gedächtnis«, das in den Kulturwissenschaften seit über zwei Jahrzehnten intensiv diskutiert wird. Diese Einführung präsentiert die wichtigsten Themen dieser Diskussion, indem sie den Bogen von der Kritik des Gedächtnisses bei Friedrich Nietzsche über die Etablierung einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie bei Aby Warburg und Maurice Halbwachs bis hin zu gegenwärtigen Theorien spannt. Im zweiten Teil des Buchs werden unter den Stichwörtern Rituale, Rhetorik, Speichertechniken, Gedächtnismetaphern, Kanon, Zensur und Ästhetik die Techniken und Funktionen des kulturellen Gedächtnisses befragt.

Nicolas Pethes ist Professor für Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum.

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Leseprobe

1. Natur oder Technik? Von der antiken Philosophie zur modernen Psychologie


Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien machen ein Angebot, historisch entstandene und medial gestützte gesellschaftliche Kommunikationsformen und Überlieferungszusammenhänge mittels einer Semantik von Erinnern und Vergessen zu beschreiben. Die Alltagssemantik der Erinnerung, die den Bezug eines gegenwärtigen Bewusstseins auf ein vergangenes Ereignis meint, das in dieser Bezugnahme erneut wahrgenommen, rekonstruiert, kontextualisiert und interpretiert wird, bietet dabei eine ganze Reihe von Anschlussmöglichkeiten für die Beschreibung von Prozessen, die innerhalb kultureller Zusammenhänge beobachtet werden können. Möglicherweise ist ein solcher ›kultureller Zusammenhang‹ nichts anderes als die entsprechende Aktivierung von Erinnerungen. So leitet sich die sogenannte abendländische Kultur beispielsweise aus der griechischen Antike her, da sich politische, philosophische und ästhetische Vorstellungen der Gegenwart – man denke in dieser Reihenfolge etwa an demokratische Verfassungen, ontologische Erkenntnistheorien oder klassische Kunstkonzeptionen – auf antike Modelle beziehen können. Wirft man umgekehrt einen Blick in die aufgrund solcher Bezugnahmen bis heute überlieferten Texte, so stellt man fest, dass sie ihrerseits bereits von einem immensen Bewusstsein für die kulturelle Bedeutung der Erinnerung geprägt sind: In Hesiods Dichtung von der Entstehung der Welt, der Theogonie, findet sich z. B. der Hinweis auf den Mythos, dem zufolge die Musen, die die verschiedenen technischen und künstlerischen Leistungen des Menschen befördern, gemeinsame Töchter einer Göttin namens Mnemosyne, Erinnerung, seien. Wenn weiter die beiden Homer zugeschriebenen klassischen Epen der griechischen Antike, die Ilias und die Odyssee, beide mit einem Anruf an die Musen anheben, so verweisen sie damit die Dichtung an die Kompetenz dieser Erinnerung. Und dass dieses Gedächtnis ein anderes ist, wenn ein fahrender Sänger die Verse der Epen auswendig vorträgt, als wenn sie abgeschrieben und in Bibliotheken aufbewahrt werden, deutet Platon an. In seinem Dialog Phaidros erzählt er den Mythos, dem zufolge der ägyptische König, dem der Gott Theut die Erfindung der Schrift präsentierte, diese Erfindung für eine Schwächung des Gedächtnisses hielt.

Damit unterscheidet Platon zwischen einem ›natürlichen‹ Gedächtnis, das dadurch ausgezeichnet ist, dass es über seine Inhalte verfügt und sie nicht nur reproduzieren, sondern auch verstehen und erläutern kann, und einem ›technischen‹ Gedächtnis, das diese Inhalte außerhalb eines solchen natürlichen Bewusstseins speichert und keine Sorge für ihre angemessene Reproduktion trägt. Diese Unterscheidung ist deshalb so zentral, weil Platons Philosophie über weite Strecken auf dem erstgenannten, dem verinnerlichten Gedächtnis beruht: Indem Platon die Welt in diejenige der Ideen und diejenige der Erscheinungen aufteilt und den Menschen nicht nur mit einem (zur Sphäre der Erscheinungen gehörigen) Körper, sondern auch mit einer (zur Ideenwelt gehörigen) Seele ausgestattet sieht, hat der Mensch die Möglichkeit, Zugang zur Welt der Ideen zu finden, wenn sich seine Seele – die, da sie unsterblich ist, vor ihrer Inkarnation zu dieser Welt gehörte – an das vormals Geschaute und im Zuge der Inkarnation Vergessene erinnert. Die Erkenntnis der Wahrheit ist bei Platon also ein Prozess der Erinnerung (anámnesis), der aber keinerlei externer Hilfsmittel bedarf.

Diese Vorstellung einer ›inwendigen‹ Erinnerung hat das christliche Abendland maßgeblich geprägt: Der Kirchenvater Augustinus überträgt im vierten Jahrhundert n. Chr. in seiner Lebensbeichte Confessiones die Vorstellung einer erinnerungsfähigen unsterblichen Seele auf die christliche Heilslehre, die im gesamten Mittelalter in Gestalt von Bibelüberlieferung und Feiertagen zugleich auch zentraler Bezugspunkt der kulturellen Tradition ist. Und Jean-Jacques Rousseau greift Augustinus’ Textform einer autobiografischen Erinnerung im Rahmen der säkularisierenden Tendenzen der europäischen Aufklärung auf und legt mit seinen Confessions die Grundlage für das Selbstverständnis des modernen Subjekts als nicht austauschbares Individuum.

Trotz Platons Gegenüberstellung von Erinnerung und Schrift prägt die Vorstellung eines ›inneren‹ Gedächtnisses also auch die abendländische Schriftkultur und das Zeitalter des Buchdrucks. Dass aber auch diese Erinnerungsform keineswegs nur ›von selbst‹ funktioniert, sondern auf ganz bestimmten Techniken beruht, die seine Leistungsfähigkeit fördern, hat man in der Antike ebenfalls schon gewusst. Die – vor allem in Rom entstehenden – Lehrbücher der Rhetorik enthalten allesamt ein Kapitel, das nach Anweisungen zu Themenfindung, Aufbau und sprachlicher Ausgestaltung einer Rede auch eine Methode vorschlägt, mittels deren man sich eine solche Rede einprägen kann, denn vor Gericht oder auf dem Marktplatz sprach man in der Antike selbstverständlich noch ›frei‹ (wie eine weitere Metapher für die zugehörige Erinnerungsleistung lautet).

Diese Methode heißt, vom Griechischen abgeleitet, Mnemotechnik bzw. auf lateinisch ars memoriae. Diese Kunst oder – im allgemeinen Sinn der Worte téchne bzw. ars – ›Technik‹ der Erinnerung bestand darin, dass man sich für die einzelnen Redeteile Orte (tópoi, loci) innerhalb eines strukturierten Gebäudes vorstellte, innerhalb deren man die einzelnen Argumente als Vorstellungsbilder (eikónes, imagines) ablegte, um dann, beim Redevortrag, diese imaginierten Räume so abzugehen, dass man jedes Bild an seinem Ort (und damit alle Argumente und Beispiele in der vorgesehenen Reihenfolge) wieder auffinden konnte.

Eine solche Rezeptur wirkt umständlich und manieriert, und doch kann man ihre kulturhistorische Bedeutung kaum hoch genug einschätzen: Bis ins Mittelalter und die Frühe Neuzeit hinein war die Mnemotechnik die zentrale Organisationsform für die Vermittlung von Wissen (Berns/Neuber 1993): religiöse, kosmologische und mathematische Traktate wurden mit Grafiken versehen, die die Wissensgegenstände bildlich und räumlich anordneten (Yates 1966/1990). Das Ende dieser jahrtausendelangen Konjunktur einer rhetorischen Merktechnik hängt mit einem Ereignis zusammen, das durchaus analog zur Erfindung der Schrift bei Platon verstanden werden kann: die Durchsetzung des Buchdrucks in Europa seit dem 15. bis hin zur Entstehung des modernen Massenbuchmarkts im 18. Jahrhundert. Das Medium Buch reduzierte als dauerhafter Speicher die Notwendigkeit, zu tradierendes Wissen auswendig zu wissen und sich entsprechend strukturiert zu merken. Schon im 17. Jahrhundert lässt sich feststellen, dass die Rhetorik nur noch als Stillehre verstanden wird, die insbesondere die Literatur des Barock prägt, während die auf den mündlichen Vortrag zielenden Lehren der memoria und der actio ›vergessen‹ wurden. Gleichzeitig prägte das mnemotechnische Prinzip der Verknüpfung von Orten und Bildern aber auch noch einen weiteren Bereich der Rhetorik, der unmittelbar zu diesen Stillehren gehörte und innerhalb dessen die Tradition der ars memoriae mithin erhalten blieb: Für die argumentative Anlage und exemplarische Belege einer Rede haben die antiken Rhetoriken das System der Topik entwickelt, d.h. schematisierte Argumentationsmuster bzw. Metaphernfelder, die den Produzenten wie den Rezipienten gleichermaßen vertraut waren und auf diese Weise die Plausibilität einer Argumentation stützten. Ausgehend von Aristoteles versteht man unter einem Topos die grundlegenden Begründungsformeln wie z. B. die Relation zwischen Ursache und Wirkung und deren Zuordnung zu bestimmten Personen. Cicero weitet dieses weitgehend logische System aber auf ganze Bildfelder aus, die man bei bestimmten Redeinhalten oder Beispielen assoziiert und die er loci communes, Gemeinplätze, nennt. Die Bedeutung derartiger Topoi für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung besteht nun im Nachweis, dass sie die Literatur des gesamten Abendlands von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein geprägt haben. So ist der berühmteste dieser Topoi, der locus amoenus, als angenehmer Begegnungsort zweier Liebender traditionell mit einem stabilen Inventar aus Sonnenschein, Bachplätschern und Vogelzwitschern ausgestattet und als solcher bis heute wiedererkennbar. Die Topik ist damit eine der zentralen Konstanten der kulturellen Überlieferung (Curtius 1948).

Auf diese Weise kann man sagen, dass die Rhetorik sowohl als technische Anweisung als auch als Archiv für konventionalisierte Bildvorstellungen so etwas wie das ›Gedächtnis‹ der abendländischen Kultur gewesen ist. Als ein solches topisches Gedächtnis fungierte es aber naturgemäß eher konservativ: Die Rhetorik ist, auch wenn sie die Schriftkultur des Abendlands geprägt hat, eine orale Kulturtechnik, und orale Kulturen tendieren dazu, ihre Traditionsbestände möglichst ohne Variationen zu tradieren, da solche...

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