Vorwort
In der Zeit des Studiums der chinesischen Sprache, der dreijährigen Arbeit in einer Missionsstation und dreijähriger Lehrtätigkeit in einem Spätberufenenseminar im Süden Taiwans kam ich zur Überzeugung, dass das Verständnis der Heilsbedürftigkeit des Menschen und der Heilsbedeutung des Werkes Christi entscheidend wichtig ist für die Begründung und die Praxis jeder Evangelisation. Gerade im geistigen Raum Chinas, in dem die Menschen um die Länge ihrer Geschichte und die Höhe ihrer Kultur wissen, fragen nachdenkliche Menschen (meistens zwar nur unausdrücklich) die Missionare: Was bringt ihr? Ist das, was ihr uns bringen wollt, gut für uns, brauchen wir es? Und Missionare, welche die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Heilsmöglichkeit der Nichtchristen und die Bedeutung der nicht-christlichen Religionen kennen und anerkennen, müssen sich fragen: Was wollen wir hier eigentlich? Wenn diese scheinbar einfachen Fragen keine Antwort finden, dann erscheint die Verkündigung des Evangeliums wie ein Angebot ohne Nachfrage, wie Reklame für Kühlschränke bei den Eskimos.
Jedoch ist das Verständnis der Heilsbedeutung der Botschaft und des Werkes Christi entscheidend wichtig auch in unserer Welt, in der ein großes Angebot von Weltanschauungen und Religionen nachdenkliche Christen fragen lässt: Warum bin ich eigentlich Christ? Was bedeutet es mir, Christ zu sein? Brauche ich das überhaupt? Welchen besonderen Wert hat es? Ist es für Leben und Sterben hilfreich? Wenn diese Fragen nicht beantwortet werden, erscheint das Christsein und Christbleiben leicht nur wie eine manchmal liebe, manchmal lästige Gewohnheit. Dann können Christen nicht die Forderung der Heiligen Schrift erfüllen: „Seid stets bereit, jedem [und auch euch selbst] Rede und Antwort zu stehen, der nach [dem Grund] der Hoffnung fragt, die euch beseelt“ (1 Petr 3,15). Kurz: Sowohl für die Evangelisation wie für das Christsein ist das Verständnis der Heilsbedeutung des Werkes Christi von großer Wichtigkeit. Darum handelt theologisches Bemühen um das Verständnis der Heilsbedeutung der Botschaft und des Werkes Christi („Soteriologie“) nicht von einer theologischen Nebenfrage. Dabei geht es vielmehr um die stets geforderte Rechenschaft über den Sinn und Wert des christlichen Glaubens.
Einen weiteren Anstoß, mich eingehender mit Soteriologie zu befassen, gab die Übernahme der Landessprache in die Liturgie. So richtig und wichtig diese Maßnahme war, sie war nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zu dem vom Konzil angestrebten Ziel, „das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen“ (SC 1). In der Liturgie wird ja das Gedächtnis des Heilswerkes Christi gefeiert und vergegenwärtigt. Ihre Gebete sprechen mit eindrucksvollen Worten des Neuen Testaments vom Heilswerk Christi. Doch können viele Menschen sie nicht verstehen. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Früher waren die Gebete und Lesungen der Liturgie unverständlich wegen der für die meisten Menschen unverständlichen lateinischen Sprache. Jetzt sind sie immer noch unverständlich, weil sie auch in ihrer Muttersprache für viele Menschen unverständlich bleiben. Wenn zum Beispiel eine Präfation der Osterzeit von Jesus Christus sagt: „Durch seinen Tod hat er unseren Tod vernichtet, durch seine Auferstehung das Leben neu geschaffen“, sind die einzelnen Worte verständlich, der Sinn des Ganzen hingegen nicht. Denn man muss doch fragen: Wie wurde durch den Tod Jesu am Kreuz vor 2000 Jahren der uns mit Sicherheit erwartende Tod vernichtet? Wie wurde unser Leben durch die Auferstehung Jesu neu geschaffen? Wir Menschen sind doch wie eh und je vielfältigem Leid unterworfen und treiben dem sicheren Tod entgegen. Manche der nun in der Muttersprache gehörten Worte sind nicht nur in ihrem Sinn schwer verständlich, sondern in gefährlicher Weise missverständlich. Wenn zum Beispiel in jeder Eucharistie von dem Blut gesprochen wird, „das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden“, liegt der Gedanke nahe, dass der Tod Christi ein Opfer sei, das Gott von Zorn zu Gnade und Vergebung bewegte.
Gewiss, zahlreiche gläubige Menschen haben durch das Wirken des Heiligen Geistes in der schlichten Mitfeier der Hochfeste, in der Betrachtung, im Gehen des Kreuzwegs, beim Beten des Rosenkranzes, in Zeiten großer Freude und tiefer Trauer den Sinn ihres Glaubens an den im Stall geborenen, an den die Liebe das Vaters verkündenden, an den von Menschen gekreuzigten und von Gott auferweckten Jesus erfahren. Dennoch ist und bleibt es eine wichtige Aufgabe der Theologie, den Sinn des Glaubens an den Mittler des Heiles zu entfalten, zu klären und gegen naheliegende Missverständnisse zu sichern und den Gläubigen einen verstehenden und fruchtbaren Mitvollzug der Liturgie zu ermöglichen.
Auf Grund dieser Überzeugung habe ich ausdrücklich gewünscht, den Kurs Soteriologie übernehmen zu dürfen, als ich im Jahre 1968 meine Lehrtätigkeit an der theologischen Fakultät der Katholischen Fujen Universität in Taipei (Taiwan) antrat. Eigentlich ist Soteriologie (oder „Erlösungslehre“) ein Teil der Christologie, die an dieser Fakultät von dem bekannten Theologen P. Dr. Aloisius Chang Chun Shen SJ betreut wurde. Im Hinblick auf meinen Wunsch jedoch wurden Christologie und Soteriologie unter uns aufgeteilt. Theoretisch ist eine solche Trennung nicht ideal und entspricht nicht einem gegenwärtigen Trend, welcher die seit dem 13. Jahrhundert übliche Trennung von Christologie und Soteriologie zu überwinden sucht. Praktisch jedoch hat sie sich in Taiwan und China bewährt, insofern der Erlösungslehre mehr Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet werden konnte, als es sonst meistens geschehen kann, weil die Christologie vielfach wenig Zeit findet für Fragen der Soteriologie. So habe ich in den über 35 Jahren meiner Lehrtätigkeit in Taiwan und (seit 1990 gelegentlich) in Priesterseminaren in China (Shanghai, Xi An, Wuhan) mehrfach den Kurs über Soteriologie gegeben. Mit Hilfe von ehemaligen Studentinnen habe ich in Taiwan ein Buch mit dem Titel „Einführung in die Soteriologie“ verfasst, das in zwei Auflagen erschienen ist. Schließlich konnte ich durch ein in Shanghai gedrucktes Buch meine Gedanken zu diesem Thema auch den Christen in China vermitteln.
Natürlich kann man sagen und fragen: Für Christen auf der „Schönen Insel“ (Formosa = Taiwan) und im „Reich der Mitte“ (China) mag eine ausführliche Behandlung soteriologischer Themen hilfreich und vielleicht sogar dringend notwendig sein. Aber brauchen wir eine derartig ausdrückliche Reflexion auf Kernfragen des christlichen Glaubens in Europa und Deutschland, wo Menschen seit über 1000 Jahren den christlichen Glauben kennen, wo große Denker und Heilige darüber nachdachten und weithin anerkannte und vom kirchlichen Lehramt verwendete Deutungen des Heilswerkes („Erlösungstheorien“) entwickelten? Können wir uns nicht mit diesen Anschauungen begnügen?
Bei allem Respekt vor der Bemühung und der Leistung der Theologen, bei voller Würdigung der wertvollen Impulse, welche die herkömmlichen Auffassungen über die Erlösung durch Jesus Christus den Menschen und der Kirche vermittelten, können wir uns doch nicht mit ihnen begnügen, denn wir haben (wenigstens in ihrer Dringlichkeit) neue Fragen, die sogar von aufgeweckten Schulkindern gestellt werden können: Wenn man sagt, Christus ist für alle Menschen am Kreuz gestorben, bedeutet das, dass er für die Neandertaler und Pekingmenschen, für die Feuerlandindianer und Tibeter gestorben ist? Einfache gläubige Menschen, die Leid und Bosheit erfahren und von Katastrophen, Gewalt und Unterdrückung hören, können fragen: Wovon wurden wir erlöst? Menschen, die den fruchtbaren Einfluss anderer Religionen auf das Leben der Menschen und ihre Kultur kennen, müssen fragen: Wie ist Jesus Christus für diese Menschen Mittler des Heils? Wer Menschen anderer Religionen oder ohne Religion kennt, die ihre familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Pflichten gut erfüllen, muss sich fragen: Was bedeutet mein christlicher Glaube für mich und meine Mitmenschen? Wer aber auch nur einer dieser scheinbar einfachen Fragen gründlich nachgeht, wird spüren, dass sie nicht beantwortet werden können, solange wir nicht sagen können, was unser Glaube an Jesus Christus als Mittler des Heils besagt.
Da nach meiner Erfahrung Menschen in Ost und West (wenn auch mit verschiedener Tönung) die im Grunde gleichen Fragen stellen, hege ich die Hoffnung, dass meine in Taiwan und China entwickelten Überlegungen in veränderter Form auch Menschen in unseren Breiten hilfreich sein können. Gewiss ist wohl alles, was ich zu sagen habe, schon von anderen irgendwo gesagt und geschrieben worden. Dennoch denke ich, dass man manche wertvolle Gedanken aufnehmen, weiter entwickeln und neu darstellen kann. Damit verbinde ich die Hoffnung, dass diese Schrift einigen Christen hilft, allen sie Fragenden und nicht zuletzt sich selbst Rechenschaft zu geben über ihren Glauben (1 Petr 3,15), weil sie selbst Zugang gefunden haben zum Reichtum des Heiles Christi (Eph 3,8).
Dominikanerkonvent Heilig... |