Kapitel 1 – Du bist die Stadt Gottes
Menschliche Wesen haben bemerkenswerte Fähigkeiten, das zu erreichen, was man spirituelle Erfahrungen nennt. Niemand ist von dieser Möglichkeit ausgeschlossen. Jene, die sich danach sehnen, die innere Türe zu öffnen, erwartet eine wundervolle Welt. Wir brauchen nicht weiter als bis zum Funktionieren unseres Herzens, Verstandes und Körpers auszuholen. Durch diese scheinbar belanglosen Aspekte unserer tagtäglichen Existenz, kann das Unendliche aus dem Inneren heraus entfaltet werden. Es bedarf lediglich der Anwendung einiger effektiver Methoden oder Übungen.
Dank des Einsatzes von unzähligen Suchenden und Weisen über Tausende von Jahren sind heutzutage sehr vielfältige spirituelle Übungen verfügbar. Die Erfahrung hat gezeigt, dass einigen dieser Übungen eine größere Bedeutung zukommt, als anderen. Das hauptsächlich deswegen, weil sie grundlegende Änderungen in uns anregen, worauf nachfolgende Übungen und Erfahrungen aufbauen können. Es gibt also bei den Übungen eine logische Ordnung, die uns, wie wir festgestellt haben, auf einen logischen Kurs der Entwicklung durch den Dschungel unserer eigenen Entfaltung geleiten kann. Das ist allerdings nicht annähernd so schwierig, wie es sich anhören mag, wenn wir bereit und willig sind, die wichtigsten Übungen an erste Stelle zu setzen. Von diesen ausgehend wird alles mehr oder weniger automatisch weiterfließen.
Im System der Fortgeschrittenen Yoga Übungen (FYÜ) beginnen wir mit einer kurzen, zweimal täglichen Routine der tiefen Meditation. Innerhalb von ein paar Wochen oder Monaten, nachdem wir die tiefe Meditation gelernt haben, können wir das Pranayama der Wirbelsäulenatmung, das wir unmittelbar vor der tiefen Meditation ausführen, hinzunehmen. Diese beiden Übungen bilden den Kern des FYÜ-Ansatzes. Sie kultivieren zwei Eigenschaften in uns, die die Grundlage für alle nachfolgenden Übungen bilden. Außerdem kommt es durch sie zu tief greifenden, unendlichen und in unser tägliches Leben eingewobene spirituelle Erfahrungen. Die tiefe Meditation kultiviert die Eigenschaft der inneren Stille oder Ruhe. Das Pranayama der Wirbelsäulenatmung kultiviert die Eigenschaft der ekstatischen Leitfähigkeit und den Fluss der göttlichen Energie im Körper sowie darüber hinaus. Kommen diese beiden Aspekte unserer inneren Natur auf, können eine ganze Reihe anderer Übungen mit hinreichender Effektivität angewandt werden, was unseren Erfahrungshorizont enorm ausdehnt. Zu diesen Übungen gehören Samyama, Asanas, Mudras, Bandhas, Selbstanalyse und tantrische Sexualmethoden. All diese Übungen werden in den FYÜ-Schriften behandelt.
Zusätzlich zu diesen Übungen, von denen einige ziemlich exotisch sind und früher esoterisch waren, beschäftigen wir uns ebenso mit scheinbar mondäneren Aspekten unseres täglichen Lebens – was wir essen und wie wir unseren Körper rein und gut in Schuss halten, so dass dadurch unsere Gesundheit gestärkt und unsere spirituelle Entwicklung erleichtert werden. In Bezug auf die Ernährung und innere Reinigung können bestimmte, erwiesenermaßen wirksame Methoden angewandt werden – besonders während bestimmter Phasen unserer inneren Entwicklung.
Während man mit Ernährung und Techniken zur inneren Reinigung schnell die Herbeiführung und Beibehaltung guter Gesundheit und eines langen Lebens assoziiert, gehen wir hier anders an die Sache heran. Für uns sind Gesundheit und ein langes Leben nur Nebenwirkungen oder zusätzliche Effekte vernünftiger spiritueller Übungen und Fortschritts. Tatsächlich ist ein gesunder Körper die natürliche Folge spiritueller Gesundheit.
Es wird behauptet, der menschliche Körper sei die Stadt Gottes. Damit es in einer Stadt allen gut geht, ist es notwendig, an der zentralen Quelle mit Kernübungen zu beginnen, um dann den Energiefluss durch die Stadt auf eine Weise zu stimulieren und zu regulieren, dass ein Wachstum auf dem höchsten Niveau des Funktionierens möglich ist. Vieles läuft bei diesem Prozess automatisch ab, weil es ein Produkt unserer natürlichen inneren Evolution ist. Wir stimulieren diesen natürlichen Prozess nur mit spirituellen Methoden. Das ist die Perspektive, die wir bei der Ernährung und den inneren Reinigungsmethoden einnehmen.
Ein Yoga-Zweig, den man »Reinheit« nennt
Yoga ist eines der umfassendsten Systeme spiritueller Übungen, das über viele Jahrhunderte tradiert wurde. Yoga heißt „Verbindung“ oder „vereinigen“. Die Methoden des Yoga erleichtern das Verbinden oder Vereinigen unserer inneren Natur mit unserer äußeren, das Verbinden unserer göttlichen mit unseren weltlichen Aspekten. Deshalb sprechen wir von unserem menschlichen Nervensystem oft als Tor zwischen dieser Welt und dem Göttlichen. Wir müssen nur das Tor öffnen und können dann hier auf Erden ein göttliches Leben leben. Es ist gar nicht notwendig, deshalb irgendwohin zu gehen, um vielleicht auf dem Gipfel eines Berges zu praktizieren. Wir brauchen nicht unseren Job zu kündigen, unseren Besitz aufzugeben oder unsere Familie zu verlassen. Wenden wir die Yoga-Methoden einige Minuten jeden Tag an, können wir genauso weitermachen wie zuvor, nur sind wir dann viel glücklicher und effektiver im täglichen Leben. Dies sind die wirklichen Vorzüge von Yoga.
Das traditionelle Yoga-System ist in den Yoga-Sutren des Patanjali beschrieben und besteht aus den acht Gliedern:
- Yama (Verbote)
- Niyama (Gebote)
- Asanas (Körperstellungen)
- Pranayama (Atemtechniken)
- Pratyahara (Nach innen Kehren der Sinne)
- Dharana (Aufmerksamkeit auf ein Objekt)
- Dhyana (Meditation – Auflösen des Objekts)
- Samadhi (Aufgehen in reines Bewusstsein)
Die kombinierte Anwendung der drei letzten Yoga-Glieder mit einer bestimmten, Samyama genannten Technik bringt das hervor, was man mit Stille im Handeln bei den täglichen Aufgaben des Lebens umschreiben kann.
Die ersten beiden Yoga-Glieder, Yama (Verbote) und Niyama (Gebote) bilden so etwas wie Verhaltensmaßregeln. Das ist vergleichbar mit dem, was man in all den spirituellen Traditionen der Welt – das „tu dies nicht, tu dies, etc.“ – findet.
Zu den Verboten und Geboten zählen:
- Yama (Verbote) – Ahimsa (keine Gewalt), Satya (Wahrhaftigkeit), Asteya (Nicht-Stehlen), Brahmacharya (Bewahrung und Kultivierung der sexuellen Energie) und Aparigraha (keine Habsucht).
- Niyama (Gebote) – Saucha (Reinheit), Santosha (Zufriedenheit), Tapas (Hitze/Fokussierung/spirituelles Üben), Swadhyaya (Studium von spirituellen Schriften und des Selbst) und Ishwara Pranidhana (Hingabe an das Göttliche).
Beachte, dass Saucha (Reinheit) das Erste ist, was man befolgen muss. Dazu zählen auch die Prinzipien der Ernährung und der Shatkarmas (Reinigungstechniken für den Körper). Saucha bezeichnet den Teil des Yoga, der die Verhaltensmaßregeln betrifft, denen man in unserer modernen Welt besonders viel Aufmerksamkeit schenkt. Viele von uns leben in einer Kultur, die besessen ist von Ernährungsfragen und dem physischen Körper. Beim Yoga ist Saucha wichtig. Doch ist es nur ein Zweig des breiten Spektrums unserer Übungen.
Auch wenn viele traditionelle Ansätze der Yoga-Unterweisungen sagen, Yama (Verbote) und Niyama (Gebote) seien die Grundvoraussetzungen für den Beginn mit Übungen weiter unten in der Liste der acht Glieder, gibt es auch einige (zu denen wir bei FYÜ zählen), die diese Sichtweise nicht teilen. Yama und Niyama kann man auch als Folge eines integrierten Ansatzes der Beschäftigung mit den Übungen ansehen. Wir beginnen mit tiefer Meditation, Pranayama, Körperstellungen und anderen Methoden, d.h. wir kümmern uns erst einmal gar nicht um die Verhaltensrichtlinien von Yama und Niyama.
Wählt man einen integrierten Ansatz, dann ergeben sich Yama und Niyama ganz natürlich als Folgewirkungen.
Dies ergibt sich aufgrund einer Eigenschaft, die jedem eigen ist und die wir das In-Verbindung-Stehen im Yoga nennen. Das soll so viel aussagen, dass eine Übung, die wir wie eine Ursache nutzen, andere Übungen als Wirkung hervorbringt. Je tiefer die Übungen greifen, die wir als Ursache nutzen, desto tief greifender werden zusätzliche Yoga-Glieder stimuliert. Ein praktisches Beispiel davon wäre:
Beginnen wir mit der tiefen Meditation und dem Pranayama der Wirbelsäulenatmung als Kernübungen, dann werden wir feststellen, dass Aspekte von Übungen, die zu den Yamas und Niyamas gehören, sich als Wirkung ganz natürlich einstellen. Durch diese Wirkungen werden dann in unserer Praxisroutine weitere Ursachen hervorgebracht und viel mehr als hätten wir zum Einstieg ausschließlich die Yama- und Niyama-Methoden angewandt.
Dies hat große Bedeutung, wenn wir Ernährungsmethoden und Methoden der inneren Reinigung in Betracht ziehen. Nutzen wir die yogischen Prinzipien der Ernährungs- und Reinigungsmethoden als ein Ergebnis von aufkommender innerer Stille und ekstatischer Leitfähigkeit, die wir in uns durch die tiefe Meditation und das Wirbelsäulen-Pranayama kultiviert haben, dann können wir da viel mehr herausholen. Wenn wir andererseits das Thema der...