Erwachsenenalter
Bernhard Schmidt-Hertha
1 Erwachsenenalter – um was geht es?
Der Beginn des Erwachsenenalters ist nur aus juristischer Perspektive mit der Volljährigkeit interindividuell klar zu bestimmen, womit die Dauer dieser Lebensphase gemäß aktueller Lebenserwartung (77,3 bzw. 88,5 Jahre) 59,3 Jahre für Männer und 64,5 Jahre für Frauen umfassen würde. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive lässt sich der Eintritt in das Erwachsenenalter – wenn überhaupt – nur individuell und retrospektiv auf ein bestimmtes Alter festlegen, womit selbst die Festlegung auf eine durchschnittliche Dauer problematisch wird. Zieht man noch das in jedem Fall individuell sehr unterschiedliche Ende des Erwachsenenalters durch den Tod in Betracht, so erscheint ein kalendarischer Altersbegriff wenig hilfreich, um die Lebensphase Erwachsenenalter auch nur näherungsweise zu umreißen.
Das biologische Alter orientiert sich demgegenüber an der körperlich-physiologischen Entwicklung, die sich zwar in typischen Verläufen über die Lebensspanne beschreiben lässt, aber individuell in ganz unterschiedlichen Tempi und keineswegs irreversibel verläuft. Gleiches gilt für das psychische Alter, das insbesondere in kognitionspsychologischen und gerontologischen Studien im Zentrum steht. Auch hier lassen sich zwar durchschnittliche Verlaufskurven (z. B. für die Entwicklung kristalliner und fluider Intelligenz) nachzeichnen, die allerdings erhebliche und mit dem Alter zunehmende interindividuelle Differenzen ausblenden. Insbesondere täuschen entsprechende Verlaufsdiagramme darüber hinweg, dass gerade die kognitive Entwicklung bis ins hohe Alter weder linear noch irreversibel verläuft, sondern deren Plastizität bis ins höchste Alter auch Entwicklungsgewinne zulässt (vgl. Baltes 1987).
Das Erwachsenenalter als Lebensphase wird aber insbesondere durch kulturell tradierte und institutionell normierte Rollenzuschreibungen und Erwartungshaltungen geprägt, die weitgehend unabhängig von individuellen biologischen und psychischen Entwicklungsprozessen die soziale Stellung von Mitgliedern einer Gesellschaft ordnen. Im Sinne dieses sozialen Alters ist das Erwachsenenalter eng an Mündigkeit und intellektuelle Reife einerseits sowie die Teilhabe an der gesellschaftlichen Produktivität andererseits gekoppelt. Die erstmalige Aufnahme einer Erwerbsarbeit zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts kann in diesem Sinne als Übergang in das Erwachsenenalter verstanden werden, während der Übertritt in die Nacherwerbsphase in eine wiederum eigenständige Lebensphase mündet – das Alter (vgl. Kruse 2006).
Jenseits des Modells der Lebensphasen werden jüngere und ältere Menschen in sozialwissenschaftlichen Studien oft auch als Vertreter unterschiedlicher Generationen betrachtet. Generationen innerhalb einer Familie werden meist als Abfolge menschlicher Reproduktion und im Hinblick auf ihr Verhältnis zueinander (Kinder/Eltern, Enkel/Großeltern, etc.) untersucht. Ein solcher genalogischer Generationenbegriff impliziert eine unterschiedliche Generationszugehörigkeit in Abhängigkeit von den jeweiligen Interaktionspartnern und der familiären Situation. Demgegenüber versteht ein historisch-politischer Generationenbegriff, wie er von Karl Mannheim (1928) geprägt wurde, verschiedene Generationen auch als Ausdruck und Produkt gesellschaftlicher Veränderungen. Die Deutungsmuster und Einstellungen von Menschen – so die Annahme – sind geprägt durch einschneidende historische Ereignisse und Entwicklungen, die sie in einer bestimmten Lebensphase (insbesondere dem Jugendalter) erfahren haben. Diese geteilten Erfahrungen (Kriegserfahrung, Wirtschaftswunder, 68er-Bewegung, etc.) können Personen miteinander verbinden und zu einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer „Generation“ führen. Generationen sind dann also Konstrukte, die aus geteilten Erfahrungen und einem subjektiven Gefühl der Zugehörigkeit heraus entstehen, und von Wissenschaftlern rekonstruiert werden.
2 Historische Dimension
Die Betrachtung des Erwachsenenalters als Lebensphase hat ihre historischen Wurzeln in der Abgrenzung zur Kindheit, die im 16. und 17. Jahrhundert als Entwicklungsstadium mit eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten entdeckt wurde (vgl. Aries 2007). Erst durch die Beschreibung der besonderen Bedürfnisse und Eigenheiten des Kindes gewinnt auch das Erwachsenenalter als Kontrastierungsfolie an Kontur. Das Bild des Erwachsenenalters präzisiert sich weiter, als Ende des 19. Jahrhunderts sich allmählich die Jugend als Phase des nicht mehr Kindseins und noch nicht Erwachsenseins herausbildet. Das Erwachsenenalter wird dabei aber als finaler Zustand verstanden, in dem alle Entwicklungsschritte bewältigt wurden, die gesellschaftliche und berufliche Integration des Individuums endgültig vollzogen sind und eine weitgehende Ablösung vom Elternhaus erfolgte. Auch wenn die Bildungs- und Lernfähigkeit von Erwachsenen schon in Platons Paideia vorausgesetzt wurde, so erfolgt eine differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit personalen Entwicklungsprozessen im Erwachsenenalter erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Daraus resultiert schließlich auch eine weitere Ausdifferenzierung der Lebensphase zwischen Jugendzeit und Lebensende in frühes, mittleres und höheres Erwachsenenalter. Diese Einteilung bezieht sich weniger auf sozialstatistische Altersangaben als auf die aktuelle Lebenslage von Individuen und die damit verbundenen Entwicklungsaufgaben.
Erwachsensein fungiert auch als normatives Entwicklungsleitbild (vgl. Kade 1983), als zu erreichendes Ziel vorangegangener Lebensphasen. In Abgrenzung zu Kindheit und Jugend zeichnet sich die Lebensphase Erwachsenenalter nach Kade (1983) heute durch Erfolg als dominantes Bewertungsmaß, ein individualisiertes Selbstbewusstsein, eine Partikularisierung von Beziehungen, die Anerkennung der Pflicht zur Selbstdisziplinierung und universalistische Moralvorstellungen aus. Aus strukturfunktionalistischer Perspektive werden diese Merkmale auch als Sozialisationsziele begriffen.
3 Theoretische Konzepte
Erwachsenenalter ist aus Perspektive gegenwärtiger Erziehungswissenschaft also als eine (Weiter-)Entwicklungsphase zu verstehen, in der sich das Verhältnis des Individuums zu sich selbst und zu seiner Umwelt durch die Bewältigung von altersbezogenen Anforderungen (entwicklungspsychologische Perspektive) und die Auseinandersetzung mit der sozialen und materiellen Umwelt (sozialisationstheoretische Perspektive) verändert.
Entwicklungspsychologische Perspektive
Nach ersten theoretischen Überlegungen zur menschlichen Entwicklung über die gesamte Lebensspanne von Tetens im 18. Jahrhundert stammen aus dem 19. Jahrhundert frühe empirische Datensammlungen, die die kognitive, psychische und physiologische Entwicklung als lebenslangen Prozess mit Daten zu allen Altersgruppen unterlegen. Mit den Arbeiten von Charlotte Bühler in den 1930er Jahren kann dann erstmals von einer systematischen entwicklungspsychologischen Annäherung an das Erwachsenenalter gesprochen werden (vgl. Pinquart 2012), die bis heute zu einer immer weiter ausdifferenzierten Betrachtung der Entwicklung nach Kindheit und Jugend fortgeführt wurde. Die Lebensphase Erwachsenenalter wird dabei unterschiedlich in einzelne Phasen aufgeteilt, wobei die Differenzierung von frühem, mittlerem und höherem Erwachsenenalter eher einen Minimalkonsens als eine theoretisch klar umrissene Untergliederung darstellt. Darüber hinaus wird häufig zwischen einer frühen und späten Phase des Alters (auch drittes und viertes Lebensalter) unterschieden und von Arnett (2004) mit der „Emerging Adulthood“ eine Zwischenstufe zwischen und Jugend und Erwachsenenalter eingeführt.
Je nach theoretischem Zugang wird Entwicklung im Erwachsenenalter als Abfolge von Stufen, Krisen oder als Ergebnis von Entwicklungsaufgaben und biographischen Wendepunkten gesehen (vgl. auch Pinquart 2012). Jenseits dieser theoretischen Modellierungen haben sich die von Baltes (1987) formulierten sieben Leitsätze einer Lebensspannenpsychologie inzwischen empirisch wiederholt bestätigt und können als grundlegend für eine Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters gelten. Die psychische Entwicklung ist dabei beschrieben als lebenslanger Prozess (1), der sich durch die Gleichzeitigkeit von Gewinn und Verlust der Anpassungsfähigkeit (2) auf unterschiedlichen Ebenen und ein hohes Maß an Plastizität (3) auszeichnet. Diese Entwicklung verläuft multidimensional und multidirektional (4), d. h. verschiedene Leistungs- und Verhaltensbereiche können sich unabhängig voneinander entwickeln und die damit verbundenen Veränderungen von Dispositionen sind grundsätzlich reversibel. Historische, kulturelle, alters- und lebenszeitgebundene Einflüsse...