Das Erwachsenenschutzrecht – eine Einführung
Nach 50 Jahren Revisionsbestrebungen ist Anfang 2013 das Erwachsenenschutzgesetz in Kraft getreten und hat das über hundertjährige Vormundschaftsrecht abgelöst. Im Vordergrund stehen wie im Vormundschaftsrecht das Wohl und der Schutz hilfsbedürftiger Menschen. Doch das heutige Gesetz bietet auch Möglichkeiten, in guten Tagen für sich selbst vorzusorgen. Es ist ein Gesetz für uns alle.
Von der Vormundschaft zum Erwachsenenschutz
Das alte Vormundschaftsrecht befasste sich hauptsächlich mit Menschen, die nicht oder nur unzureichend für sich selber sorgen konnten. Für sie war ein starres Massnahmensystem vorgesehen. Das alte Gesetz war nur für einen kleinen Kreis bedeutsam: Betroffene, Angehörige und Fachleute. Das ist heute anders.
Seit das Erwachsenenschutzrecht in Kraft ist, können auch gesunde Menschen für den Zeitpunkt ihrer eigenen Urteilsunfähigkeit vorsorgen. Zudem verbessert das Gesetz die Rechte von schutzbedürftigen Menschen und bietet Möglichkeiten zu massgeschneiderter Hilfe.
Schutz für die Schwachen
Unsere Vorväter hatten es gut gemeint. Mit dem Bild einer intakten Familie im Kopf formten sie Anfang des letzten Jahrhunderts das Vormundschaftsrecht für diejenigen Erwachsenen, von denen die Gesellschaft dachte, dass sie wie Kinder auf Fürsorge und Unterstützung angewiesen seien. Geschützt werden sollte, wer unter «Geistesschwäche» oder an «Geisteskrankheit» litt. Dieser Schutz bestand im Wesentlichen im Entzug der Handlungsfähigkeit (siehe Seite 18) und in einer Bevormundung. Zudem befasste sich das Vormundschaftsrecht mit Menschen, die durch «Trunksucht», «Verschwendung» oder «lasterhaften Lebenswandel» auffielen. Und auch wer zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt worden war, musste streng nach Gesetz bis zum 31. Dezember 2012 bevormundet werden. So wurden in den letzten hundert Jahren Zehntausende entmündigt und bekamen einen Vormund.
Das Vormundschaftsrecht war nur für Ausnahmesituationen gedacht: für Menschen, zu denen niemand aus der Familie schaute. Wenn für die Entmündigung einer Person kein ausreichender Grund vorlag, wurde ein Beirat eingesetzt. Und wer «bloss» wegen Abwesenheit, Unfähigkeit oder Krankheit nicht selber handeln konnte oder nicht gut genug zu seinen Finanzen schaute, bekam einen Beistand. In den 1980er-Jahren wurde das Vormundschaftsrecht mit den Bestimmungen zur fürsorgerischen Freiheitsentziehung (FFE) ergänzt. Dieses Gesetz auf Bundesebene ersetzte die kantonalen Bestimmungen für «Gesindel», «Arbeitsscheue und Liederliche», die sogenannten Versorgungsgesetze.
Weg mit alten Zöpfen!
Alles unter Kontrolle? Nein. Es zeigte sich je länger, je deutlicher: Der Schutz, den der Gesetzgeber den Hilfsbedürftigen geben wollte, engte diese viel zu häufig und viel zu stark ein. Als unsere Ur- und Ururgrossväter das Vormundschaftsrecht in Kraft setzten, hatten sie nicht berücksichtigt, dass Erwachsene nicht hilflos wie kleine Kinder sind.
Urteilsfähige Erwachsene können sich zum Beispiel anhand der Frage «Was wäre, wenn?» durchaus mögliche zukünftige Ereignisse vorstellen – Kinder können das nicht. Dieser kognitiven Fähigkeit wird mit dem Erwachsenenschutzrecht Rechnung getragen. Zudem macht der Gesetzgeber in jedem einzelnen der neuen Gesetzesartikel deutlich, dass Hilfsbedürftige nicht willenlose Geschöpfe sind, sondern dass ihre Selbstbestimmung zu fördern ist.
Startschwierigkeiten des Erwachsenenschutzes
Fünf Jahre nach der Einführung des Erwachsenenschutzrechts entzündet sich die Diskussion an der Kesb, der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde. Glaubt man den sozialen Medien und Boulevardjournalisten, bekommt man den Eindruck, dass die Kesb in der Dämmerung graue Gestalten losschickt, die um die Häuser schleichen und ihre Nasen in fremde Angelegenheiten stecken.
Dem ist nicht so: Die Kesb wird erst tätig, wenn sie sich von Gesetzes wegen einschalten muss – ebenfalls von Gesetzes wegen hat sie dabei die Menschenwürde und die Selbstbestimmung eines jeden Einzelnen zu beachten.
Rechtliche Grundlage: das Schweizerische Zivilgesetzbuch
Das Erwachsenenschutzrecht ist im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) in den Artikeln 360 bis 456 geregelt. In diesem Gesetzbuch geht es wie in einem hochstehenden Roman oder in einer billigen Soap um die grossen Themen des Lebens: um Geburt, Jugend und Kindheit, Zusammenleben, Heirat und Sterben. Dazwischen um Eigentum, Vereinsleben, Scheidung und Erben – und seit dem 1. Januar 2013, seit das Erwachsenenschutzrecht Bestandteil des ZGB ist, geht es vermehrt auch um Menschenwürde und Selbstbestimmung.
Die Geschichte des ZGB hat im vorletzten Jahrhundert begonnen: 1892 gab der Bundesrat grünes Licht für die Entwürfe eines vereinheitlichten schweizerischen Privatrechts. Bis dahin waren lediglich das Obligationenrecht, die persönliche Handlungsfähigkeit, die Eheschliessung und die Scheidung auf eidgenössischer Ebene geregelt. Alles andere war Sache der Kantone. Seit 1912 regelt das ZGB das Personen-, Familien-, Erb- und Sachenrecht auf gesamtschweizerischer Ebene. Das Obligationenrecht (OR) einschliesslich des Handels- und Wertpapierrechts ist dem ZGB als fünfter Teil angegliedert.
Fast alles ist im ZGB kurz und knapp beschrieben – nicht etwa, weil die Juristen im Bundeshaus nur halbe Arbeit geleistet haben, sondern weil sich die Fragen des Lebens nur in den Grundsätzen regeln lassen. Die im ZGB enthaltenen Gesetzesartikel wurden und werden deshalb durch Entscheide der Gerichte und des Bundesgerichts ständig anhand des Zeitgeistes interpretiert und ausgelegt. So ist es auch beim Erwachsenenschutzrecht.
Im Folgenden erhalten Sie einen Überblick darüber, was das Erwachsenenschutzrecht bringt. Und Erklärungen für einige Begriffe, die immer wieder auftauchen, wenn es um Menschen geht, die nicht genügend für sich selber sorgen können.
Selbstbestimmung und Schutzbedürfnis – eine Abwägung
Niemand wird bestreiten, dass Kinder des Schutzes bedürfen. Damit sie nicht unter die Räder kommen, muss man ihnen oft Vorschriften machen und ihnen zeigen, wo es langgeht. Sonst würden sie nie ins Bett gehen, statt Gemüse nur Pommes essen und die Zähne nicht putzen. Sie sind also auf Betreuung, Unterstützung und insbesondere auf Förderung durch ihre Eltern angewiesen. Wenn Vater und Mutter dieser Aufgabe nicht gewachsen sind, muss der Staat dafür sorgen, dass die vernachlässigten Mädchen und Buben die notwendige Unterstützung erhalten. Andernfalls wäre das Kindswohl gefährdet.
Wie aber sieht es aus, wenn ein 30-Jähriger oder ein 80-Jähriger noch oder wieder eines besonderen Schutzes bedarf, wenn gar sein Wohl gefährdet ist? Die Gründe für Gefährdungen und für die Hilfsbedürftigkeit von Erwachsenen können vielfältiger Natur sein. Zu denken ist an körperliche und psychische Erkrankungen, aber auch an Unerfahrenheit oder Unfähigkeit. Klar ist heute, dass schutzbedürftige Menschen nicht einfach wie Kinder behandelt werden dürfen; es geht weder um Erziehung noch um Nacherziehung. Vielmehr sind die Selbstbestimmung und die Würde des Menschen zu beachten.
Jede Gesellschaft muss entscheiden, wie sie mit ihren schutzbedürftigen Mitgliedern umgehen will, wo sie die Grenzen setzt und wann der Staat einen Menschen fremdbestimmen soll und darf. Schwierig wird es vor allem dann, wenn solche Menschen der Überzeugung sind, dass sie keiner Hilfe bedürfen. Hier wird immer ein Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Bedürfnis nach Schutz und Unterstützung bestehen.
Das Erwachsenenschutzrecht bezweckt nichts anderes, als die Schwächezustände zum Wohl hilfsbedürftiger Personen auszugleichen – zu diesem Zweck kann das Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt werden. Im Vergleich zum alten Vormundschaftsrecht wird die Selbstbestimmung deutlich höher gewichtet. Es geht nicht mehr, dass der Übervater Staat alles vorschreibt. Die Selbstbestimmung auch von schwächeren Mitgliedern der Gesellschaft soll wenn immer möglich gewährleistet sein. Nur dort, wo es nicht anders geht, soll die Behörde beziehungsweise die Beiständin oder der Beistand nötigenfalls auch gegen den Willen einer schutzbedürftigen Person handeln.
Erwachsenenschutzrecht – ein Gesetz von heute
Im Kern geht es beim Erwachsenenschutzrecht um Personen, die an einem Schwächezustand leiden – einer psychischen Störung, einer geistigen Behinderung, einer Urteilsunfähigkeit oder einer vergleichbaren Schwäche – und deshalb wichtige eigene Angelegenheiten wie die Finanzen nicht mehr regeln können oder ihre Gesundheit stark vernachlässigen. Das ist die grosse Klammer dieses Gesetzes, die die einzelnen...