BACH
Durchs Herz zum Kopf
Der erste Akkord trifft mich mit voller Wucht, prallt zurück an die Wände des Kirchenschiffs und hat binnen Sekunden den gesamten Raum erfüllt. Dieser Akkord, der der Orgel so unvermittelt entweicht, ist mächtig, kraftvoll, majestätisch. Nichts bleibt von ihm unberührt, jeder kann ihn hören und fühlen. Mein ganzer Körper spürt ihn. Der riesige Raum scheint zu schwingen. Die Kirche ist bis in die hinterste Ecke erfüllt von diesem ersten Tongebilde, in Sekundenschnelle aufgeladen mit seiner gewaltigen Energie, zum Bersten gespannt.
Unvermittelt löst sich eine einzelne Stimme, sie entweicht der Anspannung des wuchtigen Akkords – scheint davonzulaufen, entfernt sich von der Gruppe ihrer Töne, kehrt zurück, lockt die nächste hervor. Die folgt ihr, ist tiefer. Sie jagen sich, treffen aufeinander und entfernen sich wieder. Plötzlich erklingt eine dritte Stimme. Mir stockt der Atem. Was ist das? Ich sehe ein Spiel, eine Unterhaltung. Mal leicht plaudernd, dann wieder ernst. Ich denke zurück an damals, erinnere mich an diesen ersten Akkord, der mich vor einem halben Jahrhundert so erschüttert hat. Ich sehe mich als Kind in unserer Kirche, vielleicht fünf Jahre alt und vollkommen im Bann dieser Anordnung von Tönen. Es ist die Musik von Johann Sebastian Bach.
Die Kirche unserer presbyterianischen Gemeinde, die mir in der Erinnerung so riesig vorkommt, ist ein kleines weißes Gebäude aus Stein, auf deren enge Empore natürlich auch keine gewaltige Orgel passte. Doch war das Instrument stark genug, um den Raum mit seinem Klang zu erfüllen.
Als Kind hatte ich keine Kenntnis davon, nach welchen Prinzipien Bach seine Musik komponierte. Gleichwohl lag in einer dieser ersten Begegnungen mit dem Komponisten womöglich eine Ahnung von etwas absolut Außergewöhnlichem, einer Ordnung, die dieser Musik ihr festes Fundament gab und mir selbst ein Gefühl tiefer Sicherheit. Der Lauf der verschiedenen Stimmen, die – jede für sich – ihrer Wege gingen, ohne jemals ungeordnet zusammenzustoßen, hatte etwas Beruhigendes. Ich ahnte: Es würde keine Kollision geben, keinen Crash. Keine Beliebigkeit, eine Struktur eindrücklicher Klarheit. So denke ich an diese Momente zurück. Ich sehe mich als Kind in unserer Kirche, in der mich meine erste Begegnung mit dem Komponisten aufgewühlt, emotional erschüttert hat – wie sonst soll ich mein Empfinden in diesen kindlichen Momenten bezeichnen? Er hat mich zutiefst bewegt. Meine damaligen, gänzlich unreflektierten Reaktionen als Kind auf die Musik Bachs erkläre ich mir heute so – in vollem Bewusstsein der Komplexität und Vollkommenheit des Bach’schen Kosmos, ohne das ich die Musik heute nicht mehr hören werde.
Die kindliche Unbedarftheit ist natürlich verschwunden. Gleichwohl muss es dieser Eindruck von Ordnung gewesen sein, der mich mitgerissen und ergriffen hat, und die enorme Energie, mit der die Töne in diesem System vorangetrieben werden. Weiter und weiter. Die Spannung, die Bach in der Führung der einzelnen Stimmen aufbaute, meinte ich damals in meinem Atem spüren zu können, genauso wie die Dramatik, die er in seine Musik hineinlegte. Hinter den Tönen, die sich da unaufhörlich aneinanderreihten, hörte und fühlte ich einen Steuermann, einen Lenker, der ganz selbstverständlich die Verantwortung für den Klang und die einzelnen Stimmen übernahm, sie nicht sich selbst überließ, sondern sie in höchster Sorge und Bedachtsamkeit führte.
Zu dem regen Musikleben, das sich in Morro Bay in meiner Kindheit entwickelt hatte, gehörte neben den Orchestern auch die Kirchenmusik. Das alles floss sozusagen ineinander. Die Kirche meiner ersten Begegnung mit Bach wurde bald zu klein, zwei neue, größere Gebäude wurden gebaut, in die sich das Gemeindeleben mit seiner Musik verlagerte. Dort sangen wir Bach-Choräle und Kantaten, Kinder und Erwachsene gemeinsam. Während der Proben überkam mich damals häufig die Assoziation verschiedener Schubladen, in denen die einzelnen Stimmen fein säuberlich sortiert waren, so klar und deutlich voneinander getrennt und doch als Teil eines großen Ganzen. Ich verfolgte diese ganz eigenständigen Melodien, einzigartig arrangiert zu einem steten Strom. Die Chor-Kompositionen Bachs haben mich als Kind mitgerissen, die berühmten Kantaten, die Oratorien für Weihnachten und Ostern. Das war aus meinem Leben als Kind und Jugendlicher nicht wegzudenken. Im Chor war ich nicht nur Zuhörer, sondern schon als kleiner Sänger ganz selbstverständlich Teil dieses stetig fließenden Stroms, seiner Strudel und Untiefen, seiner überraschenden Schnellen und an anderen Stellen seines majestätischen Dahingleitens.
Diese frühen Begegnungen mit Bach und die tiefe Verbundenheit, die über die Jahre meiner Kindheit daraus erwuchs, sind womöglich ein erster, entscheidender Teil der Antwort auf die Frage, warum Bach über all die Jahrzehnte eine unerschütterliche Konstante in meinem ganz persönlichen, intimen Musikerleben geblieben ist und mich bis heute in Atem hält. Es ist ein Stück weit kindliche Prägung, eine Resultante der Umstände, in die ich eben zufällig hineingeboren wurde. Die frühe, kindliche Prägung ist offenbar wirkungsmächtig.
Aber begründet sie notwendigerweise eine lebenslange Faszination für die Musik eines einzigen Komponisten? Oder dafür, dass ich bei meinen Reisen und Abenteuern durch die Welt der Klassik und darüber hinaus immer wieder zu Bach und seiner Musik zurückkehre, gleichsam als würde ich nach Hause kommen? Wenn ich zu Hause in Kalifornien bin, Zeit für mich habe und vor meinem Regal mit den vielen Noten stehe, die sich im Laufe meines Lebens angesammelt haben, dann greife ich unwillkürlich zu Noten von Bach, ziehe vielleicht eine seiner Kantaten aus dem Regal, eine Invention oder auch das Wohltemperierte Klavier. Ich setze mich an den Flügel und spiele Bachs Musik. Manchmal für eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten, dann wieder versinke ich für Stunden in seiner Welt.
Über Bach und seine Musik habe ich im Laufe meines Lebens mehr nachgedacht, als auf diese Seiten passt. Und es ist mehr über ihn geforscht und geschrieben worden, als ich jemals lesen oder auch nur bedenken könnte, um dem Rätsel der Zentrifugalkraft dieser Musik auf den Grund zu gehen. Aber wenn ich versuche, ein wenig davon zu erklären, dann beginnt dieser Versuch mit Bachs großen pädagogischen Fähigkeiten.
Johann Sebastian Bach war nicht nur ein großer Komponist und Kantor, sondern auch ein begnadeter Pädagoge. Heute nehmen wir ihn nicht mehr als solchen wahr. Zu seiner Zeit allerdings war das nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil: Wer von Berufs wegen musizierte, sich als Kantor in der Kirche oder fürstlicher Kapellmeister seinen Lebensunterhalt verdiente, der vermittelte Musik. Das Musizieren und Komponieren lernte man als Handwerk. Studiengänge an Musikhochschulen oder Konservatorien, wie sie heute überall angeboten werden, gab es damals nicht. Musik war eine Art Ausbildungsberuf. Wer Glück hatte, ging bei Bach buchstäblich in die Lehre.
Der Komponist nahm immer wieder Lehrlinge in sein Haus auf. In seiner Zeit als Thomas-Kantor in Leipzig soll er nebenher bis zu sechzig Studenten der Universität unterrichtet haben. Nicht zu vergessen eine Anzahl von Schülern aus den zahlungskräftigen Adelskreisen. Streift man durch die Literatur, findet man vielerorts Berichte seiner Schüler über die Art und Weise, wie er ihnen – meist anhand seiner eigenen Kompositionen – die Welt der Musik eröffnete. Seine Welt. Lernen bei Bach bedeutete nicht nur, Stücke zu studieren und in möglichst vollendeter Form am Tasteninstrument zu reproduzieren; es bedeutete Musikerziehung im weit umfassenderen Sinn. Seine Schüler lernten, sofern sie willig und begabt und ehrgeizig genug waren, auch das Improvisieren oder die Kunst der Komposition.
Bach wusste, dass dafür nicht nur die technischen Voraussetzungen eines hervorragenden Pianisten vonnöten waren, sondern vor allem ein musiktheoretisches Fundament, welches ihnen die charakteristischen Merkmale damaliger Kompositionskunst nahebrachte. Das Genie schuf diese selbst. Für seine Söhne und Schüler komponierte er die als zweistimmige Inventionen und dreistimmige Sinfonien bekannten dreißig Klavierstücke und fasste diese in einem Clavier-Büchlein für seinen Sohn Wilhelm Friedemann zusammen, die er drei Jahre später noch einmal überarbeitete und in neuer Reihenfolge in seinem Lehrbuch Aufrichtige Anleitung versammelte. Hier sind die einzelnen Inventionen und Sinfonien streng systematisch abwechselnd in Dur und Moll, ausgehend von der Grundtonart C-Dur, durch alle Tonarten angeordnet.
Bach selbst hat die Zweckbestimmung seines wohl ersten Unterrichtswerks ganz klar benannt: Nicht nur mit zwei und sogar drei Stimmen sollten Klavierliebhaber und Lernbegierige verfahren lernen, sondern auch einen starken »Vorgeschmack« auf das Komponieren bekommen. Musik hören kann jeder, musizieren kann jeder, der ein Instrument beherrscht. Komponieren und damit etwas Neues erschaffen kann nur der, der die theoretischen Grundlagen dafür irgendwann einmal verinnerlicht hat. Und genau das wollte Bach erreichen: mit erkennbarer Systematik, verpackt in wunderbare Melodien.
Im Alter von zwölf oder 13 Jahren habe ich mich erstmals ernsthaft mit diesen kleinen Kompositionen befasst – und in ihnen damals, ehrlich gesagt, zunächst nicht mehr als notwendige Etüden gesehen, die mir mein Lehrer aufgegeben hatte.
Dass das konzeptionelle Denken Bachs als Grundlange für seine Schaffenskraft in diesen Miniaturen überdeutlich wird, habe ich damals natürlich noch nicht erkennen, sondern womöglich lediglich erahnen können. Heute weiß ich es....