LEKTÜRE
Erwin Strittmatter war Schulstoff. Wir nahmen »Tinko« und »Ole Bienkopp« im Deutschunterricht durch. »Tinko« war in der siebten oder achten Klasse dran. Das war bei unserem Klassenlehrer Herrn Schmidt, der katholisch war und der deshalb so viele Kinder hatte, das behauptete jedenfalls meine Mutter, die war im Elternaktiv und wusste Bescheid. Herr Schmidt glaubte an Gott und gleichzeitig an den Sozialismus. Unter seiner Anleitung teilten wir die Figuren im Roman in zwei Gruppen ein: in solche, die für, und solche, die gegen den Fortschritt auf dem Lande waren. Zahlenmäßig ergab das eine ziemlich ausgeglichene Bilanz, trotzdem gewannen am Ende natürlich die Guten. Während wir im Unterricht den Tinko-Stoff behandelten, lief gleichzeitig eine Kampagne, um die letzten Einzelbauern zum Eintritt in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zu bewegen. »Sozialistischer Frühling auf dem Lande« wurde das genannt. Ich war für den Frühling. Es gab zwar keine Schlagsahne mehr zu kaufen, und die Butter und das Fleisch wurden wieder rationiert, doch das, so tröstete mich mein Vater, seien nur die Schwierigkeiten des Übergangs. In der Weltgeschichte setze sich der Fortschritt niemals ohne zeitweilige Rückschläge durch.
Mit dieser Auffassung stand ich in meiner Klasse ziemlich allein. Das war offensichtlich, obwohl meine Mitschüler bei solchen Themen im Unterricht eher schwiegen. Nur Wolfgang Kümmel, der schräg hinter mir saß, meldete sich einmal und sagte mit zitternder Stimme, er wisse von Bauern, die sich erhängt hätten, weil sie nicht in die Genossenschaft eintreten wollten. Darauf herrschte ein Moment Stille. Ich drehte mich um und starrte Wolfgang erschrocken an. Ob das stimmte, was er da gerade gesagt hatte? Was würde Herr Schmidt darauf antworten? Seltsamerweise tat Herr Schmidt so, als hätte er nichts gehört. Wir sollten das Buch aufschlagen, meinte er, und Beispiele für Strittmatters besondere Sprache heraussuchen. »Die Großmutter strich über die härene Schürze«, an diesen Satz erinnere ich mich noch, und er ist für mich bis heute verbunden mit dem Bild von Wolfgang Kümmels trotzigem blassem Gesicht.
Interessanter und aufregender als das Buch war der Film »Tinko«, den wir uns in einer Vormittagsvorstellung un seres Kinos anschauten. Dieser ohrenbetäubende Lärm im Saal jedes Mal vor einer solchen Schulvorstellung, die Gegenstände, die hin und her geworfen, die Püffe und Knüffe, die verteilt wurden. Erst wenn der Gong ertönte und das Licht erlosch, wurde es plötzlich still. Der Schauspieler Günther Simon spielte Tinkos Vater. Der Junge nennt ihn aber fast bis zum Ende des Films nur den »Heimkehrer«, weil er ihm nach so vielen Jahren Krieg und Gefangenschaft fremd geworden ist. Der »Heimkehrer« gehörte im Film übrigens zu denen, die sich für den Fortschritt auf dem Lande einsetzten. Das wunderte mich nicht, denn seitdem Günther Simon die Hauptrolle im Thälmann-Film gespielt hatte, verkörperte er für mich in allen seinen Rollen immer auch ein bisschen Ernst Thälmann, der vielleicht doch nicht tot war, wie es ja sogar in dem Lied hieß, sondern still und bescheiden in der Maschinen-Traktoren-Station eines Dorfes für den Sozialismus arbeitete.
Strittmatters Roman »Ole Bienkopp« behandelten wir 1964 oder 1965 im Unterricht, als ich schon zur Oberschule ging. Immerhin erstaunlich, dass dieses Buch bereits ein oder zwei Jahre nach seinem Erscheinen in den Lehrplan aufgenommen wurde. War denn unser Bildungssystem so flexibel? Ich rufe unsere damalige Deutschlehrerin Frau Rothe an. Sie erinnert sich sofort, wir waren schließlich ihre erste Klasse gleich nach dem Studium. »Ole Bienkopp«, sagt sie, habe zwar nicht im Lehrplan gestanden, aber es habe aktuelle Empfehlungen gegeben, die sie gern aufgriff, um uns an die moderne DDR-Literatur heranzuführen. Sie meint auch, wir seien beeindruckt bis begeistert gewesen, vor allem von dieser neuartigen knappen Sprache.
An meine damalige Begeisterung erinnere ich mich noch. Doch inzwischen habe ich das Buch aufs neue gelesen und kann den holzschnittartigen, schwerfälligen Text mit diesem Gefühl nicht mehr in Verbindung bringen. Von der »Bienkopp«-Lektüre der Schulzeit war mir nur die Figur der Frieda Simson im Gedächtnis geblieben, die unsympathische Bürgermeisterin, die mit ihren Intrigen das ganze Unglück über Ole Bienkopp brachte und die ständig mit einem schwarzen »Diarium« herumfuchtelte – ehrlich gesagt wuss te ich damals gar nicht richtig, was ein Diarium eigentlich war –, dorthinein notierte sie jedenfalls alle missliebigen Äußerungen ihrer Mitmenschen. Ich erinnerte mich auch, dass der Bau der Rinderoffenställe, eine der eklatanten Fehlentscheidungen der SED-Landwirtschaftspolitik jener Jahre, in dem Buch eine Rolle spielte. Doch ich war mir nicht sicher, ob der Autor den Bau dieser Ställe nun befürwortet oder abgelehnt hatte. Vielleicht lag es daran, dass dieser Punkt auch im Unterricht ein bisschen undeutlich geblieben war.
Nach der Oberschule war bei mir erst einmal Schluss mit Strittmatter. Ich las weder »Pony Pedro« noch den »Schulzenhofer Kramkalender«. Auch die beiden ersten Bände des »Wundertäters« müssen an mir vorbeigegangen sein. Jetzt widmete ich mich all den Schriftstellern, die ich bis dahin versäumt hatte: Hemingway und Kafka, Grass, Böll, Frisch und Steinbeck, Sartre und Dürrenmatt, deren Werke nach und nach als Lizenzausgaben in der DDR herauskamen oder mich auf anderem Wege erreichten. Von Zeit zu Zeit las oder hörte ich etwas über Erwin Strittmatter. Ich wusste, dass er mit seiner Familie auf dem Lande lebte, auf einem Bauernhof, und dort Pferde züchtete. Auf Fotos in Zeitungen und Zeitschriften wirkte er meist ein wenig verträumt und schüchtern, und er sah dem bekannten Schauspieler Erwin Geschonneck ziemlich ähnlich.
Erst im Jahr 1980 kam mir wieder ein Roman von Erwin Strittmatter in die Hände, der dritte Band des »Wundertäters«. Offenbar hatte mich jemand auf das Buch aufmerksam gemacht. So lief das doch damals: mündlich weitergegebene kurze Bemerkungen, Gerüchte über ein Beinahe-Verbot. Es muss mir gelungen sein, eines der raren Exemplare zu erlangen. Ich las die Geschichte gespannt und berührt. Sie traf genau meinen Nerv. Strittmatters vorsichtige, subtile Abrechnung mit dem Stalinismus der fünfziger Jahre passte zu dem Prozess der inneren Distanzierung, den ich zu dieser Zeit durchmachte. Zu einer offenen Auflehnung reichte es noch lange nicht, aber ich begann viele der bisher für unverrückbar gehaltenen Werte zu hinterfragen und konnte mich dabei mit diesem Stanislaus Büdner identifizieren, der sich Stück für Stück frei macht von seinem Glaubens- und Dogmen ballast, um die Welt endlich mit eigenen Augen zu sehen. Über den seltsamen Schluss des Buches, in dem eine Agentin aus dem Westen das brisante Manuskript von Stanislaus Büdner rauben will und dabei – in Notwehr – von ihm erschossen wird, habe ich mir wohl kaum Gedanken gemacht. Vielleicht weil diese abrupte Wendung nicht zu dem passte, was ich in dem Buch suchte oder finden wollte. Nach einem erneuten Blick in den »Wundertäter III« scheint mir jedoch, dass dieser unschuldige »Mord aus Notwehr«, wie der Autor selbst die Szene in seinem Tagebuch deutete, eine eigene Logik besitzt.1 Die führt uns eher weg von Stanislaus Büdner und hin zu Erwin Strittmatter und den bisher weniger bekannten Seiten seiner Biographie.
Nicht lange nachdem ich den Roman gelesen hatte, wurde ich zufällig auf der Leipziger Buchmesse von Fritz Pleitgen, dem damaligen ARD-Korrespondenten in Ostberlin, angesprochen, der sich mit einem Kamerateam in der Messehalle postiert hatte, um die Besucher nach ihrer Meinung über die aktuelle DDR-Literatur zu fragen. Ich erzählte Pleitgen vom dritten Band des »Wundertäters«, wie beeindruckt ich sei, dass dort Geschehnisse vorkämen, die bisher in der DDR-Literatur mit dieser Offenheit nicht behandelt worden seien. Doch offensichtlich wollte mein Interviewer das nicht hören. Er ging darauf gar nicht ein, sondern fragte mich schließlich ganz direkt nach Schlesinger, Kunert, Loest und anderen Autoren, die kurz zuvor in die Bundesrepublik ausgereist waren. Mit einem unbehag lichen Gefühl im Bauch – aber nun konnte ich ja nicht mehr zurück – sagte ich dazu einige Sätze. Als ich mir einige Tage später die Sendung im Fernsehen – wahrscheinlich war es das Kulturmagazin »Titel, Thesen, Temperamente« – anschaute, war alles, was ich zum »Wundertäter« gesagt hatte, weggeschnitten, und nur meine eher ausweichenden Bemerkungen über die in den Westen gegangenen Autoren wurden gesendet. War das der enge Blickwinkel von Pleitgen, der sich mit der DDR-Literatur vermutlich nicht auskannte und deshalb einzig auf die ausgereisten Schriftsteller fixiert war? Wurde Strittmatter als kritischer Autor im Wes ten kaum wahrgenommen, weil er weder öffentlich angegriffen noch reglementiert worden war? Er gehörte zur Nomenklatura der DDR-Künstler. Bis zum Ende der DDR blieb er in dieser Rolle, und er blieb nach außen hin loyal, unabhängig davon, was sich hinter den Kulissen abspielte und wovon hier noch die Rede sein wird. Mir ist nicht bekannt, dass er sich im Herbst 1989 etwa zu den Verhaftungen von Demonstranten äußerte oder dass er auf einer der vielen Veranstaltungen damals das Wort ergriffen hätte, wie es Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Heym und andere taten.
Erwin Strittmatter rückte erst wieder in mein Blickfeld, als im Jahr 2008 in den Feuilletons Artikel auftauchten, die einen bisher eher unbekannten Teil seiner Biographie beleuchteten. Der Germanist Werner Liersch enthüllte, dass der Schriftsteller während des Zweiten Weltkriegs nicht – wie bisher...