[23]Informationskapitel 2:
Erschwerende Erziehungsbedingungen
Wenn Erziehung schwierig wird
In der Erziehung beeinflussen sich Kinder und Eltern gegenseitig. Manchmal machen es Kinder ihren Eltern einfach, manchmal aber auch ausgesprochen schwer. Wir gehen davon aus, dass Eltern grundsätzlich gute Absichten bei ihrer Erziehung verfolgen und ihr Bestes geben. Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen gehören aber selbst in den besten Familien zum Erziehungsalltag dazu. Dabei können sich auch schwierige Situationen ergeben, die nicht schnell oder mitunter gar nicht lösbar scheinen. Die Schwierigkeiten können so festgefahren sein, dass sich Kinder und Erwachsene aufreiben und keinen Ausweg mehr finden. Ursache solcher scheinbar unlösbaren Probleme ist häufig eine sogenannte gegenseitige Zwangsinteraktion zwischen Kind und Erziehungsperson.
In diesem Kapitel wird zunächst erläutert, welche Merkmale auf Seiten eines Kindes die Erziehung erschweren können. Anschließend wird das Modell der Zwangsinteraktion (Coersion) dargestellt.
Eigenschaften eines Kindes, die Erziehung erschweren
Eltern, die mehrere Kinder haben, machen meistens die Erfahrung, dass ihre Kinder sehr verschieden sind. Die gleichen Erziehungsmethoden können sich bei dem einen Kind ganz anders auswirken als beim anderen Kind. Jeder Mensch ist eben anders und ganz besonders. Dass jedes Kind einzigartig ist, lässt sich natürlich schon an Äußerlichkeiten festmachen. Viele Geschwisterkinder haben unterschiedliche Augenfarben, Haarfarben, Körperbau, individuelle Gesichtszüge, einzigartige Fingerabdrücke oder ein unterschiedliches Geschlecht. Mit Ausnahme des Geschlechts sollten diese äußerlichen Merkmale keinen Einfluss auf die [24]Erziehung nehmen. Das Geschlecht spielt insofern eine besondere Rolle, da rein statistisch betrachtet Jungen häufiger aggressiv und verhaltensauffällig sind als Mädchen. Solche Ergebnisse gehen jedoch nicht auf die äußerlichen Geschlechtsmerkmale zurück, sondern auf andere biologische Faktoren, beispielsweise auf den höheren Testosteronspiegel bei Jungen.
Kinder unterscheiden sich jedoch nicht nur rein äußerlich voneinander, sondern auch in ihren „inneren Werten“. Viele Studien haben gezeigt, dass bestimmte Merkmale oder Eigenschaften sogenannte Risikofaktoren für eine gesunde Entwicklung darstellen und die Erziehung erschweren können (Beelmann & Raabe, 2007; Bengel et al., 2009). Zu diesen Faktoren zählen:
1. Schwieriges Temperament,
2. Geringe Selbstkontrolle,
3. Unterdurchschnittliche Intelligenz,
4. Geringe Soziale Kompetenz.
Die einzelnen Faktoren sowie ihre Einflüsse werden im Folgenden kurz erläutert.
1. Temperament: Unter „Temperament“ werden zeitlich stabile Eigenschaften zusammengefasst, wie Emotionalität, Aktivität sowie Aufmerksamkeit und Ausdauer. Kinder mit einem schwierigen Temperament zeigen ausgeprägte negative Emotionen. Sie reagieren beispielsweise stark auf Kleinigkeiten, sodass bereits eher unbedeutende Auseinandersetzungen mit unangemessen heftigem Ärger, Wutausbrüchen oder mit explosionsartigem Schreien und Weinen beantwortet werden. Die Kinder sind dann nur schwer wieder zu beruhigen. Ein schwieriges Temperament ist zudem durch starke motorische Unruhe, kurze Aufmerksamkeitsspanne und Impulsivität gekennzeichnet. Betroffene Kinder wirken daher oft zappelig, können nicht lange sitzen bleiben, scheinen ständig in Bewegung zu sein, sind oft sehr laut; sie lassen sich leicht ablenken, vermeiden ungeliebte Aufgaben wie Hausaufgaben und bringen angefangene Tätigkeiten oft nicht zu Ende; sie haben oft Schwierigkeiten, auf etwas zu warten, platzen mit ihren Antworten heraus oder reden übermäßig viel.
[25]Ein schwieriges Temperament erschwert es den Erziehungspersonen, dem Kind Regeln und Werte zu vermitteln. Zudem erhöht ein schwieriges Temperament meist das Belastungsniveau in der Familie. Die betroffenen Kinder werden häufiger von Gleichaltrigen abgelehnt und haben ein erhöhtes Risiko, später eine psychische Störung zu entwickeln und strafrechtlich auffällig zu werden.
2. Selbstkontrolle: Selbstkontrolle ist die Fähigkeit, kurzfristig auf etwas zu verzichten oder einen Wunsch zurückzustellen, um mittel- oder langfristig einen größeren Vorteil zu erreichen oder einen Nachteil zu vermeiden. Beispielsweise möchte ein Jugendlicher in einem Geschäft unbedingt eine Hose haben, hat aber nicht ausreichend Geld dafür. Bei hoher Selbstkontrolle wird der Jugendliche weiter sparen, um sich seinen Wunsch mittelfristig erfüllen zu können. Eine geringe Selbstkontrolle könnte dazu führen, dass er frustriert eine günstigere Hose kauft oder die Hose klaut; er würde also nur einen kurzfristigen Vorteil im Blick haben. Geringe Selbstkontrolle ist also durch das Verlangen nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet. Hierbei werden dann nur die kurzfristigen Vorteile gesehen und mögliche langfristige Nachteile übersehen oder billigend in Kauf genommen. Einer Person mit geringer Selbstkontrolle fällt es beispielsweise schwer, auf etwas Größeres hin zu sparen, da das verfügbare Geld meist sofort für Kleinigkeiten ausgegeben wird. Hausaufgaben werden nicht erledigt, weil Treffen mit Freunden oder Computerspiele kurzfristig angenehmer sind; die langfristigen negativen Konsequenzen in Form von schlechten Noten, Konflikten mit Eltern, Ärger mit Lehrern werden ausgeblendet.
Geringe Selbstkontrolle erschwert die Erziehung und erhöht das Risiko für Verhaltensauffälligkeiten.
3. Intelligenz: Durchschnittliche Intelligenz, gute Leistungsmotivation und daraus resultierende Erfolgserlebnisse in der Schule erleichtern die Erziehung und senken das Risiko für die Entwicklung einer psychischen Störung.
Unterdurchschnittliche Intelligenz führt hingegen häufig zu Misserfolgserlebnissen in der Schule, was zu Lustlosigkeit führen und langfristig [26]ein geringes Selbstwertgefühl bewirken kann. In diesem Fall benötigen die Kinder deutlich mehr Unterstützung beim Lernen und den Schularbeiten von ihren Eltern. Die Hausaufgabensituation kann sich dann in die Länge ziehen. Oft müssen Eltern die Kinder immer wieder zum Weitermachen motivieren und auffordern. Solche Situationen stellen hohe Ansprüche an die Erziehungskompetenz der Eltern und erhöhen die emotionale Belastung in der Familie. Eine niedrige Intelligenz erschwert dem Kind zudem das Lernen von Regeln. Eltern betroffener Kinder müssen also auch hier deutlich mehr liebevolle Unterstützung zeigen und Geduld aufbringen.
4. Soziale Kompetenz: Hierunter versteht man Fertigkeiten, die es einem Kind bzw. Jugendlichen ermöglichen, sich an die geltenden Regeln einer Gesellschaft anzupassen und eigene Interessen in angemessener Weise durchzusetzen. Kinder und Jugendliche mit hoher sozialer Kompetenz sind bereit, Aufgaben in einer Gruppe zu übernehmen, bieten anderen ihre Hilfe an, sind ehrlich, halten ihre Versprechen, setzen sich selbstsicher für ihre Rechte ein, kennen und akzeptieren die geltenden Regeln; sie sind einfühlsam und können sich gut in die Situation von anderen Personen hineinversetzen.
Kinder und Jugendliche mit niedriger sozialer Kompetenz sind meist weniger kommunikativ. Über ihre Bedürfnisse, ihren Ärger oder ihre Belastungen sprechen sie oft zu spät oder gar nicht. So tragen sie unwillentlich selbst dazu bei, dass sich ihre Probleme vergrößern und festigen. Sie verhindern eine rasche und gute Lösung ihrer Probleme, weil Eltern, Lehrer oder Mitschüler nicht einbezogen und nicht frühzeitig informiert werden. Stattdessen versuchen diese Kinder und Jugendliche, ihre Probleme oft durch unangemessene, beispielweise aggressive Verhaltensweisen zu lösen. Dadurch geraten sie oft in Konflikt mit Autoritätspersonen und Gleichaltrigen.
Niedrige soziale Kompetenzen wirken sich sehr negativ auf die Eltern-Kind-Beziehung aus. Sie führen oft zum Verlust von Freundschaften, Ärger in der Schule und im Verein. Dadurch erhöht sich die Belastung auch für die Familie. Soziale Kompetenzen sind grundsätzlich erlernbar und somit auch durch Erziehung positiv zu beeinflussen.
[27]Schlussfolgerungen: Erziehung wird als ein wechselseitiges Geschehen betrachtet. Eltern und Kinder beeinflussen sich gegenseitig: Eltern nehmen mit ihren Erziehungsmethoden Einfluss auf das Kind. Das Kind wiederum beeinflusst den Erziehungsstil der Eltern. Dieses Zusammenspiel kann durch mehrere Risikofaktoren erschwert werden. Ein schwieriges Temperament, geringe Selbstkontrolle, unterdurchschnittliche Intelligenz und geringe soziale Kompetenzen führen häufig zu einem strafenden Erziehungsstil auf Seiten der Eltern. Dieser Erziehungsstil zeichnet sich durch viele negative Konsequenzen, häufiges Schimpfen, wenig positive Zuwendung und mangelnde positive Anleitung aus. Häufig entwickelt sich dann eine gegenseitige Zwangsinteraktion, die im folgenden Abschnitt beschrieben wird.
Erziehung in der Sackgasse – gegenseitige Zwangsinteraktion
Das Modell der Coersion (gegenseitige Zwangsinteraktion) beschreibt, dass sich Eltern und Kinder gegenseitig durch unangenehme, strafende Verhaltensweisen zum Wohlverhalten im eigenen Sinne zwingen. Durch Drohungen, Kritik, Distanzierung oder Aggressionen wird versucht, eigene Ziele durchzusetzen. Das beruht auf der Erfahrung, dass diese für den anderen unangenehmen Handlungen noch am ehesten zum gewünschten Ziel geführt haben. Das Kind hat beispielsweise nach lautem Brüllen an der...