Das gewisse Extra
Die Stimme meiner Mutter duldete keinen Widerspruch: »Frollein, so gehst du mir nicht aus dem Haus!« Sie griff nach meiner Hand.
Ich schüttelte sie ab: »Meine Freundinnen schminken sich auch!« Ich war dreizehn. Ich liebte diesen weißen Lippenstift, mit dem die Zähne so schön gelb aussahen. Der letzte Schrei!
Da kam schon das Geschirrtuch. Grob, rot-weiß kariert. Meine Mutter rubbelte über meinen Mund und wischte auch noch den hellblauen Lidschatten weg.
Jetzt hatte ich rosige Wangen. Und war ziemlich wütend. Doch ich gab mich nicht geschlagen. Als ich zum Schulbus lief, krempelte ich meinen Rock hoch, von knielang auf Mini.
Dabei darf es für mich normalerweise eher ein bisschen mehr sein. Aber bei Mini ist weniger natürlich mehr! Ich habe schon immer gern einen Nachschlag genommen und das ist bis heute so geblieben. Dazu möchte ich Sie mit diesem Buch auch ein wenig anstacheln: Ja zu sagen zum gewissen Extra, egal, wie alt Sie sind. Jetzt erst recht! Hätte ich mich mit dem begnügt, was meine Eltern für mich vorgesehen hatten, wäre ich womöglich in dem 400-Seelen-Dorf im Sauerland, in dem ich geboren wurde, »versauert«. Ich hätte einen Mann aus dem Ort geheiratet, wenn es nach meinen Eltern gegangen wäre, am liebsten einen Beamten. »Dann bist du gut versorgt.« Wir hätten eine Handvoll Kinder, ich wäre vielleicht schon Oma und würde ein paar Kilo mehr auf die Waage bringen. Ich könnte allerlei Orden vorweisen, auch in Disziplinen, die ich nicht ausstehen kann. Kochen und Hausarbeit zum Beispiel. Ich würde wesentlich älter aussehen, denn ich hätte kein eigenes Leben gelebt, vielmehr das, was meine Eltern für mich ausgesucht hätten. Was die Gesellschaft von mir erwartete. Und mein Mann, meine Nachbarn, der Postbote, Hinz und Kunz. Sie alle wären wichtiger für mich gewesen als ich selbst. Ich hätte mich verbogen, um ihnen zu genügen. Doch ich lüge nicht gern. Das ist die Wahrheit. Und die Wahrheit ist auch: dass man mit Lügen öfter besser durchkommt. Denn die Wahrheit ist ungeschminkt, und das sieht man in meinem Beruf gar nicht gern, je älter, desto weniger gern.
Womöglich wüsste ich, mit einem Beamten verheiratet, gar nicht, wie mein eigenes Leben aussehen könnte. Die Frage hätte sich vielleicht nicht mal gestellt, da andere immer schon gewusst hätten, was ich tun sollte, was gut für mich wäre. Und da das alle machten, hätte ich einfach mitgemacht. Ich hätte mich versorgen lassen, weil ich nicht selbst für mich hätte sorgen können. Aber damit hätte ich nicht ausgesorgt. Es hätte vielleicht in mir gegärt. Ich wäre neidisch geworden auf andere. Auf solche wie die Frau Schrowange zum Beispiel. Die redet sich leicht. Hat Geld, sieht gut aus, so ein Leben wünscht sich jeder.
Super! Dann fang damit an, dein eigenes Leben zu leben, deine Ideen zu verwirklichen! Es ist nie zu spät! Jeder Augenblick ist der richtige, etwas zu ändern, ein bisschen mehr zu beanspruchen. Jetzt! Los geht’s! Und schau nicht bei anderen. Schau bei dir selbst!
Petra Schürmann, die ich in meiner Jugend bewunderte und mit der ich mich später anfreundete, sagte einmal sinngemäß zu mir: »Ab einem gewissen Alter kann man das gelungene Leben eines Menschen an seinem Gesicht ablesen. Neid, Missgunst und Verbissenheit machen alt und faltig.«
Petra Schürmann, ich denke noch oft an sie, war eine großzügige, warmherzige Frau. Außen und innen schön – 1956 die erste deutsche Miss World. Sie achtete auf sich … und auf andere. Denn das eine schließt das andere nicht aus. Sogar der Egoist möchte, dass es den Menschen um ihn herum gut geht. Nur dann geht es nämlich auch ihm gut. Und: Nur wer gut für sich selbst sorgt, kann auch gut für andere sorgen. Wer sich aufgibt, hat nicht mehr viel zu geben.
Solche Ansichten durfte man in meiner Jugend höchstens sehr leise denken, auf keinen Fall äußern. Und selbst heute schreibt man sie besser nicht auch noch in ein Buch. Aber so bin ich eben. Und … was das wirklich Gute ist: Allmählich darf ich sogar so sein. Denn ich bin keine zwanzig oder dreißig mehr. Nicht dass ich behaupten würde, ich könnte schon Narrenfreiheit beanspruchen, auch wenn ich in Köln lebe. Doch ab fünfzig, meine ich, ist ein kritischer Blick auf die Welt gestattet.
Ich habe mich nicht verbiegen lassen. Oder nur ein kleines bisschen. Wäre ich keine TV-Frau, würde ich den Friseurbesuch mal ausfallen lassen. Ich würde die Haarfarbe einfach rauswachsen lassen. Was da wohl zum Vorschein käme? Vielleicht eine wallende weiße Mähne. Gern ein bisschen weise. Als TV-Frau lasse ich alle vierzehn Tage färben. Sonst würde ich meinen Chef ärgern. Gewisse Rücksichten muss man immer nehmen. Doch je älter ich werde, desto mehr passe ich auf, dass sie mir nicht schaden. Ich achte auf mich und stelle mit Freude fest, dass immer mehr Frauen in meinem Alter an sich denken. Auch solche, die bislang ganz brav waren und die obligatorischen Orden für Kochen-Bügeln-Zurückstecken kassierten. Das betrifft im Übrigen nicht nur Hausfrauen. Ich kenne viele beruflich hoch qualifizierte Frauen, die ihr Leben aufgegeben haben, sobald sie verheiratet waren. Seine Karriere ging vor. Ihm hielten sie den Rücken frei. Sie tippten seine Doktorarbeit und sorgten dafür, dass er sozial nicht ins Abseits geriet, indem sie Wochenendtermine für die Familie vereinbarten. Männer in gehobener Position laufen nie Gefahr, sozial isoliert zu sein oder als Karrieristen zu gelten. Ihre Frauen kümmern sich um das Drumherum, das letztlich über das Ansehen entscheidet. Doch der Dienst am Mann endet häufig vorzeitig: Kaum ist sie über vierzig oder gar fünfzig, tauscht er sie gegen eine Jüngere aus.
Jeder fängt mal klein an: Vor über fünfzig Jahren bei der Hochzeit meines Onkels Willi. Ich bin die Dunkelhaarige ganz rechts.
Und nicht zu vergessen: Frauen ohne Männer müssen alles selber machen und werden dann auch noch scheel angesehen.
So stellt sich die Frage: Wie weit kommt man mit der hochgelobten Bescheidenheit? Ich behaupte, nicht sehr weit, und Zier ist sie schon gar keine. Sie ist ein Fluch. Denn wir sind doch auf der Welt, um unsere Talente zu finden und auszuleben und damit Gutes zu tun! Aber wer weiß … vielleicht hat mir persönlich gerade die Kindheit in dem kleinen Dorf mit großen Vorurteilen gegen alles, was man dort nicht kannte, gutgetan? Sie hat mich zu rebellieren gelehrt. Verbote haben mich aufgestachelt, Mauern musste ich überklettern. Wozu standen sie sonst in der Landschaft? Ich wollte wissen, was sich dahinter verbirgt.
Als »Engelchen« bei der Kommunion der Tochter unserer Nachbarin
Ich komme aus sogenannten kleinen Verhältnissen. Mein Vater war Handwerker, meine Mutter Hausfrau. Beide strebten für mich etwas »Besseres« an, was damals den Besuch der katholischen Mädchen-Realschule »Schwestern der christlichen Liebe« bedeutete. Die meisten Nonnen waren nett. Ich erinnere mich besonders gern an die warmherzige Art von Schwester Xaveria und an die fröhliche Schwester Christhilde und gar nicht gern an Schwester Adalbertis, eine harte Frau, die ihren Frust an uns Schülerinnen ausließ. Überhaupt habe ich nicht immer gute Erfahrungen mit dem dörflichen, schein-heiligen Katholizismus gemacht. Die Westen waren zu weiß, darunter verbargen sich manchmal auch Abscheulichkeiten. Das einzige uneheliche Kind im Dorf wurde, oh wie christlich, als Bastard bezeichnet – auch von den Nonnen. Sie waren unantastbar und immer gut, im Gegensatz zu uns bösen Mädchen, die zurechtgeschnitzt werden mussten. Erst Jahrzehnte später wurden die Missbrauchsfälle aus Schulen und Kinderheimen bekannt, von denen einige in unserer Gegend lagen. Damals hätten die gequälten Kinder kein Gehör gefunden. Priester, Ärzte, Lehrer waren Respektspersonen, gegen die durfte niemand etwas sagen. Und wenn doch, zeigte er damit erst recht seinen schlechten Charakter.
Schon als Mädchen fand ich es ungerecht, dass der Pfarrer bei uns im Dorf eine Haushälterin hatte, obwohl er doch nur ein- oder zweimal am Tag eine Messe las. Eigentlich hätte er seinen Haushalt selbst führen können.
»Mama, warum macht der das nicht ohne Hilfe?«
»Bist du verrückt! Das ist der Herr Pfarrer! So was kann man dem nicht zumuten.«
»Aber das ist ungerecht!«
»So ist das eben, Birgit.«
In der katholischen Mädchen-Realschule »Schwestern der christlichen Liebe«. Rechts neben mir: Schwester Xaveria, die ich sehr mochte.
Ein Mädchen brauchte seinerzeit nicht aufs Gymnasium, das heiratete sowieso. Nach der Schule absolvierte ich eine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfin. Auch das war etwas »Besseres«, ähnlich wie eine Lehre bei der Bank. Meine Schulkameradinnen wurden außerdem Kindergärtnerinnen, Bürokauffrauen und Arzthelferinnen. Einige wenige, die studiert hatten, wurden Lehrerinnen. Dass es auch andere Möglichkeiten gegeben hätte, war mir nicht bewusst. Ich kannte keine beruflich erfolgreichen Frauen. Alle Mütter bei uns waren Hausfrauen, was bedeutete, sie arbeiteten rund um die Uhr, aber ohne Lohn. Unser Dorf war zu klein für Paradiesvögel. Die Rolle übernahm dann später ich.
Obwohl mir meine Ausbildung keinen Spaß machte, hielt ich sie durch. Mein einziger Lichtblick waren die Scheidungsakten. Die las ich mit Begeisterung und Hingabe. RTL gab es noch nicht, aber ich interessierte mich...