Ein paar Begriffe vorab
Erziehung
… nach der meiner Arbeit zugrunde liegenden Definition ist die bewusste Formung eines (jungen) Menschen in eine von Eltern, Pädagogen oder anderen Erwachsenen für richtig befundene Richtung. Diese Richtung wird in einem bestimmten Kontext unter ganz individuellen Voraussetzungen aufgrund gemeinsamer Wertvorstellungen, Zielen und Normen innerhalb einer Gesellschaft, einer Familie oder anderen Gruppen bestimmt.
Erziehung hat eine konkrete Vorstellung davon, was sein soll und sein muss. Um das Erziehungsziel zu erreichen, bedient sich der Erziehende verschiedener Methoden, die auf eine unmittelbare oder langfristige Verhaltensformung und -änderung zielt. Hier zählt primär das angestrebte Ergebnis, auch wenn auf einen vermeintlich liebevollen Weg geachtet wird und die Ziele mit den besten Absichten verfolgt werden. Das Kind wird durch Erziehung zum Objekt degradiert.
Durch erzieherische Handlungen verliert der Erziehende die Chance, das Kind wahrhaftig kennenzulernen, denn Erziehung fokussiert stets das Verhalten und nicht den einzigartigen Menschen mit seinen Bedürfnissen. Die Entwicklung und freie Entfaltung des Kindes wird gehemmt und verhindert. Der Erwachsenen-Kind-Beziehung wird nachhaltig geschadet.
Erziehung ist willkürlich und steht einer gleichwürdigen Beziehung zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Alters sowie einer Begleitung von Kindern auf Augenhöhe im Weg.
Gewalt
… wird verstanden als alle einwirkenden Kräfte, Maßnahmen, Vorgänge und Handlungen, die den Menschen verändern, beeinflussen und schädigen. Erziehung als die bewusste Formung eines Menschen in eine von jemand anderem für richtig befundene Richtung fällt unter diese Definition. Auch wenn Erziehung in ihrer Umsetzung und Ausprägung sehr unterschiedlich ausfallen mag, begünstigt die dahinterstehende Haltung stets Machtmissbrauch durch Erwachsene.
Um einen Menschen zu erziehen, bedient sich der Erziehende (oft unhinterfragt, unbewusst und mitunter gesellschaftlich forciert) erzieherischer Methoden, die gewaltvoll sind. (Körperliche) Strafen, Drohungen und Erpressungen sind ebenso Formen der körperlichen, emotionalen oder seelischen Gewalt wie Manipulation und Fremdbestimmung, das Setzen willkürlicher Grenzen oder das bewusste Ignorieren eines Menschen. Ausgeprägte Formen werden in der Regel gesamtgesellschaftlich als Gewalt verstanden, während andere oft so subtil daherkommen, dass sie ohne entsprechende Sensibilisierung aufgrund ihrer strukturellen Verstrickung nicht als Gewalt erkannt werden. Schlimmer noch, wir halten ihren Einsatz für genauso selbstverständlich und unabdingbar, wie einst die Prügelstrafe.
Gewalt umfasst ein breites Spektrum, wobei die schädliche Auswirkung der Handlung und Haltung maßgeblich ist, nicht der Abgleich zu anderen Formen der Gewalt.
Kinder als gleichwürdige Menschen zu begreifen und anzuerkennen, dass Ihre Würde unantastbar ist, lässt sich nicht mit ihrer Degradierung zum Objekt und der Anwendung erzieherischer Methoden vereinbaren. Die gewaltfreie Erziehung ist ein Oxymoron.
Verhaltens- versus beziehungsorientiert
… verdeutlicht den Paradigmenwechsel von Erziehung zur Beziehungsfähigkeit.
Der Alltag in Familie, Schule oder Kita birgt vielfältige Herausforderungen im zwischenmenschlichen Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern. Wir sind darauf konditioniert, für ein konkretes Problem nach einer sofortigen und einfach umzusetzenden Lösung zu suchen. Dabei fokussieren wir uns auf das scheinbar Naheliegende: Das Verhalten. Und wir agieren entsprechend.
Beim verhaltensorientierten Handeln geht es um Funktionalität. Ich achte auf das Verhalten des Kindes und will, dass es sich »normgerecht« verhält. Der Alltag soll funktionieren und möglichst kontrollierbar sein, meine langfristige Erziehungsziele sollen erreicht werden. Die Lösung für ein Problem wird am Kind gesucht. Es wird geformt.
Bin ich hingegen auf Beziehung bedacht, fokussiere ich mich auf Verbindung. Dies gelingt nur, wenn ich wirklich an meinem Kind interessiert bin und das Bedürfnis hinter seinem Verhalten sehen will. Wichtig für die Lösung des Problems ist nicht das Symptom, welches sich durch ein Verhalten ausdrückt, sondern die Ursache, welche ihm zugrunde liegt. Dabei entscheide ich mich, meinem Kind mit Neugier und Wohlwollen zu begegnen und so bestimmte Handlungsmuster aufzubrechen. Eine Methode oder sofort wirksame Maßnahme kann dies nicht bieten. Die Entscheidung für Beziehung ist vor allem Arbeit an sich selbst und eine Frage der inneren Haltung.
In Beziehung
… zu gehen und in Verbindung zu bleiben, setzt ehrliches Interesse am Gegenüber voraus. Die Wege, die zum Verzicht auf Erziehung führen, sind dabei sehr unterschiedlich. Vertrauen in sich selbst und das Kind bildet dabei das Fundament. Wir benötigen jedoch auch verschiedene Kompetenzen, um in Beziehung zu agieren: Die Fähigkeit, uns in andere Menschen einzufühlen und dadurch adäquat auf sie reagieren zu können. Dies wiederum bedingt die Fähigkeit, sich unvoreingenommen mit neuen Situationen auseinanderzusetzen und sich auf andere Menschen einzulassen. Es fordert unsere Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten und ein hohes Maß an Frustrationstoleranz. In Beziehung zu sein, heißt somit auch, Konflikte auszuhalten, fair zu streiten (mit dem Bewusstsein über Machtgefälle sowie Rücksichtnahme) und aktiv zu einer Lösung des Konfliktes beizutragen. Es bedeutet, sich flexibel auf jedes Kind in seiner Einzigartigkeit einzulassen und sich nicht an Erziehungsmethoden, Glaubensmustern oder Funktionalitäten zu orientieren. Authentizität und die Auseinandersetzung mit sich selbst sind dabei unerlässlich. Wer nur eine Rolle erfüllt und mit sich selbst nicht in Verbindung steht, wird es schwer haben, in Beziehung zu gehen.
Wenn Erziehung wegfällt, hat Beziehung Platz. Beziehung verstanden als das Erfahren-Wollen, wer der Mensch vor uns ist und was diesen bewegt. Es ist eine Haltung geprägt von Neugier, Interesse und Respekt.
Dieses Buch bietet keine Erziehungsmethoden, -konzepte oder -tricks. Bei der Begleitung von Kindern auf Augenhöhe geht es um Haltung, Selbstreflexion und um ein Weltbild, das von einem wohlwollenden Blick auf das gesamte Kind geprägt ist. Wir suchen nach kooperativen Problemlösungen, bei denen der Erwachsene seine Verantwortung für die Beziehungsqualität in der Erwachsenen-Kind-Beziehung wirklich wahrnimmt.
Mein Hauptanliegen in diesem Buch ist es, den Kindern Gehör zu verschaffen. Sie haben das Recht auf einen gewaltfreien Umgang sowie auf ein selbstbestimmtes Leben und Lernen. Möge dieses Buch daher dazu beitragen, Kinder als gleichwürdige und gleichberechtigte Menschen zu begreifen sowie ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Ich bin davon überzeugt, dass ein respektvoller Umgang mit Kindern der Weg zum Frieden ist.
Konflikte gehören zum Leben dazu
Ein Familienleben in Harmonie – das ist der Wunsch und die Vorstellung vieler Eltern. Wir alle wollen uns mit unseren Lieben verbunden fühlen, wollen die Sicherheit und Geborgenheit unserer Familien spüren und vor allem zu Hause Entspannung und Autonomie erfahren. Das sind Bedürfnisse, die wir Menschen alle gemeinsam haben, egal ob jung oder alt, und die wir uns mit der Entscheidung für Familie meist zu erfüllen hoffen. Manchmal glauben wir auch, dass wir, um dieses Ziel zu erreichen, Konflikte möglichst vermeiden müssten.
Aber da, wo Menschen zusammenleben und miteinander agieren, wird es auch Konflikte geben. Die Wunschvorstellung eines stets harmonischen Familienlebens muss zwangsläufig enttäuscht werden.
Dies ist in Schule oder Kindergarten nicht anders als innerhalb von Familien, ja hier wird das Konfliktpotenzial noch durch die Vielzahl unterschiedlicher Menschen mit verschiedenen Erwartungen verstärkt.
Auch an unserer Schule wird der beziehungsorientierte Ansatz mitunter missverstanden: Manchmal wollen Eltern Veränderung und hinterfragen die Regelschule, können jedoch die Idee von einer »romantischen Kindheit«, bei der sich Kinder gesellschaftskonform verhalten und immer produktiv, möglichst nahe an der Natur beschäftigen, nicht loslassen. Ihre Kinder sollen frei sein und selbstbestimmt leben und lernen, doch fällt es den meisten Erwachsenen sehr schwer es auszuhalten, wenn ihre Kinder die ihnen gegebene Freiheit auch nutzen und womöglich Entscheidungen treffen, die sie nicht unbedingt gutheißen.
Eltern, aber auch LernbegleiterInnen, wollen zwar nicht auf strafende, lobende oder manipulierende Maßnahmen zurückgreifen, streben dennoch ähnliche Lernziele an und dies zumeist in möglichst demselben Tempo wie dem einer Regelschule. Sie wollen es anders machen, zugleich aber nicht das Altbekannte loslassen. Spätestens wenn Kinder untereinander in Konflikt geraten, zunächst kein offensichtliches Interesse an klassischen Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben zeigen oder sich gar intensiv mit digitalen Medien in einem selbstbestimmten Umfeld beschäftigen und nach erwachsenem Maßstab scheinbar »in den Tag hineinleben«, werden die meisten Erwachsenen unruhig. Das liegt zumeist...