Mir geht es gut. Oder?
10:18 Uhr. Die Zahl auf meinem Handy strahlt mir entgegen. Die Zeit interessiert mich nicht, es war bloss Reflex, mein Handy zu zücken und nachzusehen, ob mich eine Nachricht erreicht hat. Ich bin auf der Suche nach etwas, das mir sagt, dass alles nur ein böser Traum ist. Ich fühle mich wahnsinnig müde und wünsche mir mein Bett hierher. Die Gedanken wollen nicht aufhören zu kreisen, zu viel ist in den letzten Stunden, Tagen und Wochen passiert.
Jetzt sitze ich tatsächlich im Wartezimmer meiner Hausärztin und bin mir nicht sicher, ob ich hier richtig bin.
«Frau Walser?»
Ich bin also an der Reihe, erhebe meinen Körper vom Stuhl und werde in’s Arztzimmer geführt. Mit einer Armbewegung zeigt die Praxisassistentin auf einen freien Stuhl, ich lasse mich hinein plumpsen und versuche meine Gedanken zu sammeln, die quer durch meinen Kopf fliegen.
Frau Dr. Binder, meine Hausärztin, begrüsst mich einige Minuten später und setzt sich mir gegenüber.
«Was kann ich für Sie tun?»
«Hm», sage ich.
Das ist wirklich eine gute Frage, die sie mir da gestellt hat. Ich blicke traurig auf den Boden und bin erst einmal ruhig. Das mache ich oft, wenn ich mich überfordert fühle und nicht weiss, welche Antwort auf die Frage passt. Als würde ich den Boden anflehen, mir einen Input zu geben. Aus dieser Perspektive müssen meine Augenringe vermutlich noch grösser und dunkler aussehen.
Schliesslich erzähle ich ihr davon, welche körperlichen Beschwerden mich plagen und dass es jeden Tag schlimmer wird. Im gleichen Atemzug erwähne ich die Dringlichkeit, schon bald wieder gesund zu sein, da ich nicht allzu lange bei der Arbeit und der Ausbildung fehlen möchte.
Frau Dr. Binder hört mir interessiert und aufmerksam zu. Sie nickt mir an verschiedenen Stellen im Gespräch verständnisvoll zu. Ich nicke ebenso, als sie fragt, ob ich in therapeutischer Behandlung bin.
Als ich schon vor Monaten ratlos bei meiner Hausärztin auf dem Patientenstuhl sass, war ich enttäuscht, weil mir kein Blutwert sagen konnte, dass ich krank war. Damals wurden meine Ein- und Durchschlafstörungen unter die Lupe genommen. Ich war überzeugt, dass meinem Körper etwas fehlte, um schlafen zu können. Leider wich meine Überzeugung der Ratlosigkeit - auf dem Papier war ich gesund.
Frau Dr. Binder fragte mich schon damals, ob ich gestresst sei. Vermutlich eine Routinefrage meiner Ärztin, die mich ungewollt lange beschäftigte. Ich entschied mich damals, seelische Unterstützung in Form einer Psychotherapie zu holen. Als angehende Sozialpädagogin war das keine leichte Entscheidung für mich und ich hatte Mühe, mich in Behandlung zu begeben. Der Stuhl war ja für einen psychisch erkrankten Menschen vorbehalten und nicht für eine wie mich, die mit Schlafproblemen zu kämpfen hatte. Zu Beginn plagte mich oft das Gefühl, jemanden den Stuhl wegzuschnappen, der es wirklich nötig hatte. Um mich dennoch darauf einzulassen habe ich es in die innere Kategorie «Selbsterfahrung» geschoben.
«Wie soll es weitergehen?», holt mich Frau Dr. Binder zurück in’s heutige Gespräch.
«Mit meiner Psychologin habe ich besprochen, dass wir eine psychosomatische Rehabilitation zurzeit als geeignet ansehen. Ich muss mir eingestehen, dass ich das stationäre Setting benötige, um wieder auf die Beine zu kommen. Wir haben an drei Wochen Behandlung gedacht, um dann wieder in die Ausbildung einzusteigen», meine Worte klingen traurig, aber überlegt.
Ich habe alles so geplant, dass ich so wenige Schultage wie möglich verpasse und der Arbeit nicht allzu lange fernbleibe. Tatsächlich ist es mutig, diese Worte aus meinem Mund zu hören.
Meine Ärztin nickt mit dem Kopf. «Ich schreibe Sie erst einmal für zwei Wochen krank. In dieser Zeit gleise ich für Sie den Aufenthalt in einer Rehabilitation auf. Aber drei Wochen sind schon etwas kurz für Ihre Problematik», sagt sie.
Ich zähle zusammen, dass das insgesamt ja fünf Wochen «krank» sind. Widerstreitende Gefühle machen sich in mir breit. Einerseits fühle ich mich über den Befund erleichtert, und auf der anderen Seite bedeutet diese Krankschreibung eine mehrwöchige Unterbrechung meiner Ausbildung.
Frau Dr. Binder drückt mir das Arztzeugnis in die Hand und ich verlasse die Praxis. Ich spüre, mein Leben hat sich bereits während diesem Arzttermin verändert.
Ich heisse Noémie Walser. Meine Freunde nennen mich jedoch liebevoll «Noé». An einer Schule lerne ich verschiedene Modelle und Theorien, um Menschen in schwierigen Lebenssituationen professionell begleiten und unterstützen zu können. Dass ich mit Mitte zwanzig nochmals die Schulbank drücke, hätte ich mir vor zehn Jahren nicht zugetraut. Zugegeben, in meiner Schulzeit war ich eine unmotivierte Schülerin, die den Sinn hinter der französischen Grammatik und mathematischen Formeln nicht kapierte. Ich begriff nicht, warum ich das in meinen Kopf hämmern musste, um es «im späteren Leben einfacher zu haben». Zumindest sagten das die Lehrer, als ich mal wieder planlos auf eine der Prüfungsblätter vor mich hinstarrte.
Heute sehe ich den Sinn in der berufsbegleitenden Schule, weil mich der Unterrichtsstoff sehr interessiert und ich das Gelernte gleich in meinem beruflichen Alltag einsetzen kann. Es fasziniert mich, welche Faktoren dazu beitragen, dass gesunde Menschen krank werden und bestenfalls wieder gesunden. Der soziale Beruf ist das, was ich mir wünsche und wofür ich noch immer viel Leidenschaft und Energie investiere.
Ich bin glücklich damit. Oder ich war es zumindest. Denn jetzt habe ich das Gefühl, aus meinem hübsch aufgebauten Alltag gerissen zu werden. Meiner Meinung nach hat mein Körper nicht mehr alle Tassen im Schrank, in einer solchen Heftigkeit zu reagieren, dass ich sogar für die nächsten fünf Wochen nicht mehr fähig bin, an meinem Alltag teilzunehmen. Mit einer eigenartigen Stimmung gehe ich den kurzen Weg von der Arztpraxis nach Hause und informiere danach gleich meine Arbeitsstelle, die Schule und meine Psychologin. Immerhin bin ich in organisatorischen Dingen noch immer zuverlässig. So verkehrt kann mein Zustand doch nicht sein.
Am nächsten Tag bin ich zuhause und gehe nicht wie gewohnt zur Arbeit. Ich suche nach dem Unterschied von gestern zu heute. In der ruhigen Wohnung hat es genug Platz, den fordernden Gedanken in meinem Kopf nachzugehen.
Mein Zuhause ist gleichzeitig auch das Zuhause meiner Mutter. Ich habe mich für die Ausbildung entschieden, statt einer eigenen Wohnung, denn beides liegt finanziell nicht drin. Ich bin froh, dass ich bei ihr wohnen kann.
Meine Mutter hat sich als Hundetrainerin selbstständig gemacht und gibt tagsüber Grundkurse für neue Hundehalter. Öfters kommt es vor, dass sie Personen in speziell herausfordernden Situationen mit ihrem Vierbeiner unterstützt und beratend zur Seite steht. Ich kenne keinen anderen Menschen, der Hunde mehr liebt wie sie. Ich bewundere, wie meine Mutter ihr Hobby zum Beruf gemacht und die Theorien dazu sogar mit Bestnoten abgeschlossen hat. Fynn, ein gutmütiger Golden Retriever, hat das Glück, meine Mutter als Frauchen zu haben.
Die Wohnung ist tagsüber leer. Ich bin zwar noch drin, doch das bereichert die Wohnung auch nicht wirklich. Nach draussen gehen mag ich nicht, weil es mich überfordert. Ausserdem möchte ich nicht von anderen Leuten gesehen werden. Sogar Wäsche waschen ist viel zu anstrengend für mich. In meinem Schlafzimmer ist es seit Wochen dunkel, ich rühre die herabgelassenen Storen und das Fenster nicht mal an, es steht durchgehend auf Kipp. Hauptsächlich liege ich auf dem Sofa oder schräg in meinem Sitzsack. Ich tue nichts, worauf ich am Ende des Tages stolz sein kann.
Wie konnte es nur so weit kommen? Ich habe das Gefühl, mein Leben gleitet mir wie Sand durch meine Finger. Irgendetwas in mir sagt, dass selbst diese fünf Wochen Kranksein nicht mehr ausreichen, mich fit zu machen. Das ist ein äusserst ungünstiger Zeitpunkt. Können die Schlaflosigkeit, Müdigkeit, der Schwindel und der hoffnungslose Gedanke nicht noch ein paar Jährchen warten? Ich liege auf dem Sofa und döse am Nachmittag für eine Stunde ein.
Ich träume, dass ich in die Klinik eingeliefert werde. Mit einem Bus werde ich mit anderen «Kranken» und «Erschöpften» wie Tiere transportiert. Bei einem Haus, das aussieht wie ein Hotel, steigen wir aus. Nachdem die Doppelzimmer zugeteilt waren, werden wir gebeten, in einem Raum mit Tischen in einer U-Form auf den Stühlen dahinter Platz zu nehmen.
Wir werden von einer Person, die eine Fachperson zu sein scheint, aufgefordert, unsere Ziele dem Plenum vorzustellen. Dazu muss jeder einzelne nach vorne laufen und die Punkte auf dem mitgebrachten Zettel erklären.
Als ich an der Reihe bin und das Rednerpult erreiche, sind keine Fachpersonen mehr im Raum. Ich fühle mich unsicher und bin irritiert. Wollen die mir nicht zuhören? Bin ich ihnen zu langweilig?
Der Blick in die Runde sagt mir, dass mir...