Die beiden Schriftgutachten für die Gestapo
von Prof. Richard Harder vom 17./18. 2. 1943
über die Flugblätter der Weißen Rose
Um die Verfasser der Flugschriften zu finden und sie verhaften zu können, erteilte die Münchner Gestapo-Leitstelle am 17. und 18. Februar 1943 dem Münchner Altphilologen Professor Dr. Richard Harder den Auftrag, ein sprachlich-wissenschaftliches Gutachten zu den Inhalten der Flugblätter, zuerst über die zwei Flugblätter Nr. 5 und 6, später auch noch über die ersten vier Flugblätter, zu verfassen. Richard Harder (1896–1957) hatte sich 1927 an der Heidelberger Universität in Klassischer Altertumswissenschaft habilitiert. Danach lehrte er an den Universitäten Königsberg und Kiel sowie seit 1941 an der Universität München. Er galt in Fachkreisen als anerkannter Altphilologe. In München war er den NS-Stellen bekannt, da er ein neues, besonders arisch ausgerichtetes »Institut für Geistesgeschichte« aufbauen sollte[15]; insofern konnte die Gestapo ihm unbesorgt die geheimen Flugblätter zur Auswertung übergeben und ein auf die Interessen des NS-Staates orientiertes Gutachten erwarten.
Harder bescheinigte den Verfassern ein »außergewöhnlich hohes« intellektuelles Niveau. Er kam zu dem Ergebnis, dass Gegenstand und Forderung – d.h. das Verlangen nach »Freiheit und Ehre« für jeden Einzelnen in der Diktatur Hitlers – »fest und zielsicher« durchdacht und stark christlich geprägt seien. In seinem Gutachten bezweifelte Harder allerdings, dass die Flugblätter »in breiteren Kreisen der Soldaten oder Arbeiter« Widerhall finden könnten. Er vermutete immerhin, dass die Flugblätter im Umfeld der Universität entstanden seien. Bevor aber die Gestapo anhand des ersten Gutachtens von Harder weitere Recherchen aufnehmen konnte, kam es am 18. Februar zur Verhaftung von Hans und Sophie Scholl in der Universität München. Bei den Vernehmungen spielten dann auch die beiden Gutachten Harders gegenüber den Verdächtigen keine erkennbare Rolle.
Professor Harder | | München 22, den 17. 2. 1943 |
Vor einigen Stunden wurden mir zwei Flugblätter übergeben. Im Interesse der Beschleunigung der Untersuchung stelle ich sofort zusammen, was eine geisteswissenschaftliche Überprüfung in der Kürze der Zeit ergeben konnte. Sollten sich mir weitere wichtige Gesichtspunkte ergeben, werde ich einen Nachbericht machen.
Ich zitiere die beiden Flugblätter folgendermassen
- a =
»Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland« (beginnt: »Der Krieg geht …«; schliesst: »… verbreitet die Flugblätter«.)
- b =
»Kommilitoninnen und Kommilitonen!!«
(beginnt: »Erschüttert steht …«; schliesst:
von Freiheit und Ehre«.)
Ich zähle in beiden Flugblättern die Zeilen durch.
Die beiden Machwerke zeigen ein aussergewöhnlich hohes Niveau. Es spricht ein Mensch, der die deutsche Sprache vollendet meistert, der seinen Gegenstand bis zur letzten Klarheit durchdacht hat. Der Mann weiss genau was er will; er verfügt über detaillierte Kenntnisse. Er ist Deutscher. Und zwar nicht Emigrant, sondern ein Deutscher, der seit Jahren bis heute die politischen Ereignisse hier im Lande miterlebt. Er ist genauestens über die politischen und personalen Verhältnisse orientiert, insbesondere in München. Und zwar kennt er die Personalverhältnisse in der Partei: Er weiss z.B. dass Gauleiter Giesler, der gemeinhin in München einfach als Gauleiter gilt, offiziell nur mit der Gauleitung betraut ist, infolgedessen zielt er auf ihn mit dem Ausdruck b 24 »Gauleiteraspiranten«. Ferner kennt er genau die Personalverhältnisse an der Universität. Denn mit dem Ausdruck b 34 »den Hörsälen der SS-Unter- und Oberführer« ist ohne Frage auf den Rektor der Universität SS-Oberführer Wüst geziehlt, dessen genauen SS-Rang zweifellos nicht jeder kennt. Übrigens ist die verdeckte Art der Anspielung in beiden Fällen gleichzeitig ein Beispiel für die stilistische Raffiniertheit des Mannes.
Ich stelle im folgenden über die Tatbestände einige Thesen auf:
- 1.
a und b stammen von dem gleichen Verfasser. Trotz der Abweichung im Ton geht die Identität des Verfassers aus einigen Einzelheiten ziemlich deutlich hervor. Das Stichwort von b lautet »Freiheit und Ehre«: das Stichwort »Freiheit« kehrt a 53 wieder und zwar fällt der Blick bei diesem Freiheitswillen typisch auf »jeden Einzelnen«. (a 51; b 37: dementsprechend heisst es b 12 »persönliche Freiheit«). Die politisch-geschichtliche Konzeption des Verfassers sieht einen neuen. »Befreiungskrieg« beginnen (a 24); es ist sehr charakteristisch für den Verfasser, dass dies keine blosse Augenblicksphrase ist, sondern eine durchdachte geschichtliche These. In b zieht der Verfasser die Parallele zum Ende der Befreiungskriege vom 1813 bis in die Einzelheiten (b 50); er vergleicht die Niederlage Napoleons an der Beresina mit dem Ereignis von Stalingrad (b 53); er zitiert Theodor Körner (a 55) und spricht von der »Verknechtung Europas« (a 56) wie es zu Zeiten Napoleons üblich war. Die zugrundeliegende Parallele Hitler-Napoleon hört man in reaktionären Kreisen öfter; hier ist sie mit genauen geschichtlichen Kenntnissen ausgeschlachtet.
- 2.
a und b sind zu verschiedener Zeit verfasst, und zwar a etwa im Dezember 42 oder Januar 43: Hier ist die Kriegslage lediglich allgemein ungünstig gesehen: zurückströmende Armeen im Osten. Invasionserwartung im Westen, riesige Rüstung Amerikas. Nur damals konnte in höhnischer Weise vom »Bolschewistenschreck« (29) gesprochen werden. b ist dagegen verfasst nach dem Fall von Stalingrad (siehe den Anfang) und nach der Münchner Universitätswoche; ferner nach der Ankündigung der neuen Schliessungsmassnahmen (36); das heisst also im Laufe der letzten 2–3 Wochen.
- 3.
Der Verfasser schreibt einen hervorragenden deutschen Stil, wie ihn nur ein Mensch schreiben kann, der in längerem Umgang mit deutscher Literatur steht, also vermutlich entweder ein Geisteswissenschaftlicher oder ein Theologe.
- 4.
Der Verfasser erweist sich stilistisch als ein Mensch, dem die lutherische Bibelübersetzung als vertrauter Besitz im Ohr liegt. a 34 »… gerechtes Gericht über die, so …«: dieses archaische Relativpronomen ist in Deutschland nur noch im Nachklang Luthers gebräuchlich. b 4 steht der Ausdruck »vor die Säue werfen«. Dies innere Vertrautsein mit der Sprache der Bibel deutet entweder auf einen Theologen oder doch wenigstens auf einen im Kampf der Kirche stehenden Menschen; und zwar, da die katholische Kirche meistens andere Bibelübersetzungen verwendet, eher auf einen Protestanten als auf einen Katholiken (vgl. auch a 53 »Freiheit des Bekenntnisses«). Theologisch ist auch der Ausdruck b 51 »gläubiger Durchbruch«. Der Ausdruck a 26 »den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um eure Herzen gelegt« ist typischer Predigtstil. Auf kirchliche Herkunft führt auch die Bemerkung b 20 über die Ordensburgen; die Ordensburgen sind gegenwärtig ohne innenpolitische Aktualität, da sie seit Kriegsbeginn geschlossen sind: sie haben überhaupt eine verhältnismässig geringe Rolle in der innenpolitischen Diskussion gespielt, mit einer einzigen Ausnahme: die Diskussion über die »Kulträume«, gegen die von kirchlicher Seite Sturm gelaufen wurde; in diese Richtung führt der Vorwurf b 21 der Gottlosigkeit.
- 5.
Der Verfasser spricht in b in einem Ton im Namen eines geistigen Deutschlands, der eigentlich nur möglich ist, wenn er nicht nur Akademiker ist, sondern zu der Universität in näherer Beziehung steht; ich schliesse auf einen Menschen, dessen Studium etwa um 1933 begann und der in irgendeiner Weise noch mit der Universität verbunden ist, also entweder als Assistent oder dgl. in der Wissenschaft oder in der Universitätspolitik tätig ist.
- 6.
Der Verfasser ist mit dem Nationalsozialismus und seiner Entwicklung so genau vertraut, wie es nur aus eigenem Erleben sich erklärt. Das beweist besonders der Abschnitt b 15–19, wo mit dem Angriff gegen die »weltanschauliche Schulung« in der Tat ein wunder Punkt getroffen wird; ich habe schon in anderem Zusammenhang an massgebender Stelle darüber berichtet, wie abschreckend diese Schulung auf Menschen von geistiger Begabung zu wirken pflegt. Wenn a 19 mit besonderer Erbitterung von der Führerauslese gesprochen wird, so möchte ich vermuten, dass der...