Stoffwechsel
Was nach dem ersten Bissen geschieht
Es ist ein alltäglicher Vorgang, der uns denkbar simpel erscheint: Wir nehmen Nahrung auf und scheiden Unverwertbares aus. Im Verborgenen allerdings spielt sich Hochkomplexes ab, denn nur durch ein perfekt organisiertes Zusammenspiel Abertausender Drüsen, Muskeln, Nervenbahnen und unzähliger Bakterien vermag unser Körper jenen Prozess in Gang zu halten, der uns mit Energie und Baustoffen versorgt: die Verdauung
Von Ute Eberle
Sie hat nur einen Zweck: zu zerstören, damit wir existieren. Ihr Prinzip ist so alt wie das Leben selbst. Schon in den ersten Einzellern wirkte sie auf simple Weise. Beim Menschen aber stellt sie einen ungeheuer komplexen Vorgang dar. Was sich dabei abspielt, versuchen Forscher seit Jahren im Labor zu simulieren. Komplett gelang dies noch nicht. Und sie läuft so diskret ab, dass wir von ihr beinahe nichts bemerken. Die Verdauung.
Damit sie funktioniert, beschäftigen wir eine ganze Serie von Organen, die gemeinsam den Magen-Darm-Trakt bilden, eine Art biologischen Reaktor.
Der beginnt am Mund, endet rund sieben Meter später am Gesäß und ist das wohl seltsamste Gebilde, das der Mensch aufweist.
Denn dieses Verdauungssystem ruht zwar inmitten des Leibes, sein Inhalt liegt aber technisch gesehen außerhalb des Körpers. Es bildet einen Schlauch (aus Mundhöhle, Speiseröhre, Magen, Dünn- und Dickdarm), der an beiden Enden offen ist und sich wie ein Tunnel durch den Menschen zieht. Alles, was wir essen, rutscht dort hindurch. Der Magen-Darm-Trakt ist so klein, dass er in einem Eimer Platz finden würde. Doch allein die innere Oberfläche des Dünndarms ist größer als ein Tennisplatz. Sie beträgt 300 bis 500 Quadratmeter. Und jeder Quadratzentimeter davon ist konstruiert für die Aufnahme von Stoffen.
Die Verdauung ist der erste Teil des Stoffwechsels. Wir nehmen mit ihr Substanzen aus unserer Umwelt auf und verwandeln sie in andere, die uns helfen zu überleben.
Das ist ein gefährliches Unterfangen. Zum einen setzt der Körper dabei Substanzen ein, die uns von innen zu zerfressen drohen, beispielsweise Säure. Zum anderen schlucken wir mit jedem Mahl auch Unmengen an Bakterien, Viren und Pilzen. Abermillionen dieser Mikroorganismen gelangen so jeden Tag in den Verdauungsschlauch. Manche davon können wir für unsere Zwecke nutzen, andere sind lästig – aber fast alle können uns unter besonderen Umständen schaden oder sogar töten.
Wenn wir uns also zum Essen hinsetzen – das geschieht im Verlauf eines durchschnittlichen Lebens etwa 80 000 Mal –, mag uns das als banales Ritual erscheinen. Tatsächlich aber ist es der Auftakt zu einem Prozess in fünf Schritten, der täglich unser Überleben sichert. Und es zugleich gefährdet.
1. Mund und Speiseröhre
Die Zerkleinerung und der Transport der Nahrung nehmen hier ihren Anfang. Es handelt sich dabei um höchst unterschiedliche Stoffe – denn der Mensch ist einer der vielseitigsten Allesfresser der Erde. Rund 30 Tonnen feste Lebensmittel sowie 50 000 Liter Flüssigkeit bearbeitet er im Laufe seines Lebens im Mund und schleust sie durch die Speiseröhre in sein Inneres.
Eine Pizza mit Parmaschinken, Parmesan und Rucola enthält etwa 40 Gramm Fett, 80 Gramm Kohlenhydrate und 20 Gramm Eiweiß. Das ergibt rund 724 Kilokalorien – genügend Kraft, um den Körper eines jungen Mannes, der an einem Schreibtisch sitzt, für gut sechseinhalb Stunden zu betreiben. Das sind 390 Minuten, in denen er unter anderem seine Organe beheizt sowie Muskeln bewegt, die das Herz schlagen und die Lunge Luft ansaugen lassen.
Doch diese Energie ist nicht frei zugänglich. Sie ist in der Pizza chemisch gebunden – in Fetten, Kohlenhydraten und Eiweißen, die aus unterschiedlich langen Ketten fest miteinander verknüpfter Atome bestehen. Um an die in ihnen gespeicherte Kraft zu kommen, muss unser Körper die Bindungen dieser Riesenmoleküle aufspalten, die Ketten zerkleinern und deren Glieder umwandeln.
Das Gleiche gilt für Baustoffe – vor allem Eiweiße und Fette –, die der Organismus für Reparaturen oder die Herstellung neuer Zellen braucht. In der Pizza sind viele dieser Stoffe vorhanden. Einen Großteil davon muss er allerdings zuvor bis in ihre Einzelteile zerlegen.
Noch bevor wir den ersten Bissen kauen, springt die Verdauungsmaschinerie an. Während das Auge dem Hirn ein Bild übermittelt – etwa, wie ein Kellner die Pizza auf dem Tisch abstellt –, alarmieren Nervenimpulse binnen Millisekunden den Verdauungstrakt.
Im Magen kommt es daraufhin zu einer chemischen Reaktion. In dessen Wand sind Drüsen eingelassen; ein Teil dieser Zellen produziert Salzsäure und pumpt sie unter Energieeinsatz in den Magen. Dieser Prozess findet zwar auch sonst statt, damit sich auch im leeren Organ stets Salzsäure befindet, doch nun wird er erheblich verstärkt.
Die Zähne zerteilen die Pizza, indem sie Portionen abreißen und zermahlen. Mit einem Druck von bis zu 676 Kilogramm auf einen Quadratzentimeter wirken die Backenzähne dabei auf die Pizzastücke ein. Wir können also rund 1227-mal stärker zubeißen, als ein vier Tonnen schwerer Elefant auftritt.
Das macht die Kost so klein, dass sie durch den Schlund passt, und vergrößert zugleich die Oberfläche, an der die Verdauungssäfte angreifen können (ob jemand gründlich kaut, ist aber eher unwichtig, denn selbst 1,2 Zentimeter große Happen können den Schlund noch passieren; und auch ein Esser, der schlingt, verdaut eine Mahlzeit letztendlich gut).
Aus sechs großen und mehreren Hundert kleinen Speicheldrüsen strömt Flüssigkeit in die Mundhöhle und vermischt sich mit der Nahrung. Bis zu 1,5 Liter Speichel am Tag – etwa ein Saftglas pro Stunde – stellen die Drüsen her, und besonders viel läuft uns im Mund zusammen, wenn wir etwas Appetitliches sehen.
Die Zunge massiert nun das schleimige Sekret in die Pizzastücke und macht sie dadurch gleitfähig für ihren Transport durch die Speiseröhre.
Gleichzeitig gelangen Abwehrstoffe des Immunsystems in den Nahrungsbrei.
Denn auch wenn der Rucolasalat des Pizzabelags gewaschen wurde, haften an jedem Gramm noch bis zu 50 Millionen Bakterien, die etwa dem Ackerboden entstammen.
Wie eine Vorhut stellen sich die Abwehrstoffe nun den Mikroben entgegen, attackieren und zerstören sie. Auch kommt der Speisebrei beim Schlucken mit den Zungen- und Gaumenmandeln in Berührung, wodurch das Immunsystem weiter angeregt wird.
Zudem enthält der Speichel eine Reihe unterschiedlicher Eiweißverbindungen, die als Reaktionsbeschleuniger wirken: die Enzyme.
Einige dieser speziellen Proteine arbeiten wie eine Schere und passen zwischen die Elemente der Nahrungsmolekülketten. Dort lagern sie sich an, ziehen quasi ihre Scherenblätter zusammen und teilen die Ketten.
Eines der Speichelenzyme, die Amylase, ist dabei auf eine wichtige Kraftquelle des Menschen spezialisiert, die Kohlenhydrate: Das sind Ketten von Hunderten oder gar Tausenden Zuckermolekülen. (Zwar findet die Kohlenhydratspaltung im Wesentlichen später im Dünndarm statt, doch bereits im Mund beginnt die erste Zerkleinerung der Molekülketten.)
Die Amylase zerschneidet nun Kohlenhydrate aus dem Mehl, das im Pizzaboden verbacken ist, bis nur noch Einheiten aus wenigen Zuckermolekülen übrig sind.
Fettstoffe aus dem Käse werden durch ein weiteres Enzym (die Lipase) vorverdaut, die Proteine des Schinkens im Mund dagegen kaum angetastet.
Ohnehin bleibt für diese „Vorverdauung“ in der Mundhöhle kaum Zeit, denn die Zunge befördert den nun ausreichend zerkleinerten und angefeuchteten Bissen im Mund nach hinten.
Dort hebt sich automatisch das Gaumensegel, um die Nase abzudichten, und gleichzeitig legt sich der Kehldeckel über die Luftröhre, damit keine Partikel hineinfallen und uns ersticken lassen.
Der Pizzahappen rutscht in den Rachen, wo Nervenenden den Druck registrieren, den er auslöst. Von ihnen gesteuert, beginnen sich jetzt jene Muskelringe zu bewegen, die um die Speiseröhre liegen: Sie weiten sich, ehe der Bissen bei ihnen ankommt – und ziehen sich eng zusammen, sobald er sie passiert hat.
Auf diese Weise wird der Klumpen kontrolliert in Richtung Magen gepresst. Höchstens zehn Sekunden dauert es bei aufrechter Körperhaltung, bis feste Nahrungspartikel den Mageneingang erreichen.
Schwerkraft brauchen wir zum Schlucken jedoch nicht – rein theoretisch könnten wir auch im Kopfstand speisen. Die meiste Arbeit verrichten die Speiseröhrenmuskeln ohnehin unabhängig von der Verdauungstätigkeit: Rund 2000 Mal am Tag schlucken wir im Durchschnitt, am häufigsten für den Abtransport von Speichel.
Eine Portion Essen Richtung...