Adriaan Bekman
DAS ICH ALS FÜHRUNGSKRAFT
DER SEELE
Führung ist ein faszinierendes Thema voller Geheimnisse. Es gibt zahlreiche Veröffentlichungen mit vielen interessanten Ansätzen zu diesem Thema. Und doch bleibt es meiner Meinung nach ein Geheimnis, ein Mysterium. In jahrelanger Forschung zu diesem Mysterium Führung, während derer ich viele Führungspersönlichkeiten über das Thema der eigenen Führung befragt habe, bekam ich selten oder nie eine Theorie oder ein Modell als Antwort. Vielmehr hatte jeder eine ganz persönliche Antwort auf diese Frage.
Auch bemerkte ich, dass die Konzepte zu Führung bekannter Autoren wie Covey, Quinn oder Kotter, aber auch unbekannter Autoren, ihre Theorie oder ihr Modell auf einem ganz persönlich gewählten Standpunkt aufbauten. Sie wählen eine Basis wie Macht und Vertrauen, oder Kommunikation zwischen Führungs-Geber und -Nehmer. Sie führen aus, dass Führung einen Mehrwert kreiert und Ergebnisse erzielen will, oder dass Führung Veränderungen und Innovationen initiieren und realisieren will, oder sprechen über den Unterschied zwischen Managen und Führen. Führung, so ist mein Fazit, basiert ausschließlich auf privaten Kapitalquellen und selbst gewonnenen Einsichten. Sie können nur sich selbst und Andere auf der Grundlage dessen führen, was Sie sich angeeignet haben. Und Sie können nur mit Hilfe eines selbst gewählten Standpunktes, im Zusammenhang mit ihrer eigenen Führungspraxis, ein Führungskonzept oder -modell beschreiben.
Allerdings fiel mir im Nachhinein auf, dass jede Form von Führung die Geschicke der Gemeinschaft verbindet und dass, wenn wir miteinander über Führung sprechen, unmittelbar wichtige Themen, mit denen die Menschen in ihrem Leben und ihrer Arbeitspraxis kämpfen, auf den Tisch gebracht werden. Eine weitere gemeinsame Essenz der Führung, die ich herausgefunden habe, besteht darin, wie eine Person eine andere Person begleiten kann, um zur eigenen Initiative zu gelangen und die Verantwortung für ihren eigenen Beitrag zum Ganzen zu übernehmen.
Im Wesentlichen streben alle Führungspersönlichkeiten mit gutem Willen danach, das Ich des Anderen in der Seele zu wecken und damit zu einer verantwortungsvollen Gemeinschaft von Menschen zu gelangen.
In diesem Beitrag will ich diese Frage: »Wie kann das Ich als Führungskraft in der Seele erscheinen?« erforschen.
Zusammen leben und arbeiten –
unabhängig von unterschiedlicher Herkunft,
Religion, Alter, Kultur
Auf dem Weg zur Weltgemeinschaft
Wir können im weltweiten Zusammenleben von Menschen einen Prozess der Veränderung wahrnehmen, der bereits über viele Jahrhunderte im Gang ist. Wo der Mensch in der Vergangenheit Teil einer natürlichen Gemeinschaft war und sich in dieser Gemeinschaft das ganze Leben abspielte, ist der Mensch heute Teil mehrerer unterschiedlicher Gemeinschaften.
Die menschliche Seele ist im Zusammenhang mit dieser Veränderung verwandelt worden von einer Gruppenseele in eine individuelle Seele. Dies hat eine tiefgreifende Wirkung auf die menschliche Seele. Einerseits kann man sagen, der Mensch ist dadurch mehr bei sich selbst angekommen, auf der anderen Seite hat allerdings auch die natürliche Beziehung zum anderen Mensch gelitten.
Darüber hinaus ist diese tiefgreifende Veränderung in einem veränderten Bewusstsein wirksam: Wo der Mensch in der Vergangenheit teilnahm an übergeordneten Offenbarungen, höheren geistigen Wesenheiten, ist er heute dazu verurteilt, selbst den Weg zu diesen Wesenheiten zu finden.
Der Mensch begegnet in seiner Biografie einer Fülle von Menschen, unterschiedlich in Herkunft, religiösen Auffassungen, politischen Orientierungen. Dadurch setzt er sich mit all dem auseinander, was in der ganzen Welt durch Menschen irgendwann, irgendwo gestaltet wurde. Das bringt ihn an den Punkt, dass er nicht mehr an überlieferten Auffassungen, Werten und Überzeugungen festhalten kann, sondern dass er konfrontiert wird mit einer großen Bandbreite an steuernden Auffassungen, Werten und Überzeugungen. Dies wiederum führt dazu, dass er sich auf der einen Seite hin zu einem höheren Bewusstsein entwickeln und sich auf der anderen Seite mit diesen unterschiedlichen Realitäten praktisch auseinandersetzen muss. Das bedeutet einen großen Schritt: für jeden Menschen im Einzelnen sowie für die Menschheit als Ganze.
All dies kann man auch noch auf eine andere Art sagen: In der Vergangenheit war der Mensch sehr stark eingebettet in vertikale Strukturen. In diesen vertikalen Strukturen kam das Heil von oben und lagen die praktischen Lebensaufgaben unten. Der Mensch hatte eine feste Position in der Gemeinschaft und wurde sein Leben lang eingebettet in die in der Gemeinschaft lebenden festen Werte und Normen. Heutzutage ist der Mensch dagegen horizontal aufgespannt. Das heißt, er muss sich mit vielen anderen Menschen auseinandersetzen, mit vielen Menschen zusammenarbeiten, mit ihnen in einen Dialog eintreten und sich in diesen Beziehungen immer wieder selbst einbringen.
Man kann zusammenfassend sagen, dass sich der moderne Mensch in einem Koordinatensystem zwischen Vertikalität und Horizontalität bewegt und diese zwei Dimensionen des Lebens selbst aufeinander beziehen muss.
Das Ich der Menschen kommt im Beantworten-Wollen
der Bedürfnisse des Kunden zum Vorschein
Das neue Karma in der sozialen und
wirtschaftlichen Begegnung
Der Kern der horizontalen Beziehungen ist, dass jeder Mensch in unserer Weltwirtschaft und weltweiten sozialen Gemeinschaft als Kunde bedient wird durch andere Menschen und dass er selbst andere Menschen als seine eigenen Kunden bedient. Daraus ergibt sich eine ganz neue Realität für ihn. Auf der einen Seite kann man sagen, dass jeder Mensch als Kunde verbunden ist mit allen Prozessen und mit allen Arten von Unternehmen, die ihn bedienen und auf seine Bedürfnisse eingehen. Ob man reich ist oder arm, Mann oder Frau, jung oder alt: Jeder macht heutzutage diese Erfahrung. Auf der anderen Seite ist jeder Mensch immer wieder dazu aufgefordert, in gleicher Weise auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen, die ihm begegnen. In diesen Qualitäten als Kunde und Lieferant finden wir erstmals in der Weltgeschichte die Möglichkeit, als eine einzigartige Persönlichkeit gegenüber anderen Menschen aufzutreten. In diesen sozialwirtschaftlichen Prozessen, in denen Kunden und Lieferanten einander begegnen, spielen normalerweise keine Ideologie, keine festen Dogmen, keine fest vorgeschriebenen Vorgehensweisen eine Rolle. Vielmehr sind die Menschen aufeinander angewiesen, in der jeweiligen Situation selbst das Richtige zu tun.
Hierin findet der Mensch einen ganz neuen Schulungsweg für seine Seele. Ebenso findet er hierin die Möglichkeit, dem anderen Menschen als einzigartiger Mensch zu begegnen.
Rudolf Steiner hat einmal betont, dass diese sozialwirtschaftlichen Verhältnisse heutzutage die einzige Möglichkeit bieten, dass sich Menschen wirklich als eigenständige Individualitäten begegnen. In allen anderen Verhältnissen werden Konventionen und Illusionen eine solche Begegnung schwierig machen. Aus dieser Perspektive kann man sagen, dass der Christusimpuls vor allem in diesem Rahmen wirksam werden kann. Hier erhält auch die Aussage »Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20) eine besondere Bedeutung.
Das kann man folgendermaßen sehen: In der Beziehung zwischen Kunde und Lieferant innerhalb dieses sozialwirtschaftlichen Verhältnisses sind wir beide Kunde und beide Lieferant. Das heißt: Jeder hat eine Nachfrage, und jeder hat ein Angebot. Wenn ich zum Beispiel einkaufen gehe, bedienen mich die Menschen im Laden. Aber auf der anderen Seite bediene auch ich die Menschen, da ich mit meinen Einkäufen ihre Existenz sichere. Oder ich gehe in die Kneipe und trinke ein Bier. Dort ist es so, dass ich, indem ich das Bier trinke und dafür zahle, damit ermögliche, dass der andere Mensch einen sinnvollen Beitrag von mir erleben und die Kneipe weiterführen kann.
In diesem Rahmen ist es möglich, dass wir nicht nur rein funktional miteinander umgehen – anonym und nur auf uns selbst gerichtet –, sondern dass wir die Persönlichkeit des Anderen, die eigene Individualität des Anderen in der betreffenden Situation wahrnehmen können. In dem Moment, in dem wir beide uns als Person begegnen und aufeinander orientiert sind, kann man eine sehr saubere, reine, warme, bedeutungsvolle Begegnung erleben. Die Person des Anderen erscheint.
Der Philosoph Søren Kierkegaard (1813–1855) hat es in seinem Hauptwerk Entweder – Oder so beschrieben: Wenn man sich richtig auf die andere Person konzentriert, kann man in einem bestimmten Moment im Gesicht des Anderen ein zweites Gesicht sehen. Das ist »der zweite Mensch«, der in seiner Seele erscheint.
Auch Rudolf Steiner hat in seinen letzten Vorträgen in England mit dem Titel Das Initiaten-Bewusstsein (GA 243) darauf hingewiesen, dass wir alle die Möglichkeit haben, so auf den anderen Menschen zu schauen, dass wir hinter ihm die Individualität dieses Menschen stehen sehen. Das ist eine beeindruckende Erfahrung, die man auf diese Weise machen kann. So bewegen wir uns als Menschheit in dieser weltweiten Sozialwirtschaft und können einander als wesentliche Individualitäten, als individualisierter Geist begegnen.
Jetzt ist das noch ein ganz unbewusst ablaufendes Geschehen. Doch immer mehr Menschen werden den Schritt zu diesem neuen Bewusstseinsniveau machen können, das in der Welt lebt.
Aus dieser Perspektive heraus ist es auch...