1. Vorbemerkung
„Hand auf’s Herz: wußten Sie, daß in Ostsachsen, in der Oberlausitz, und im südlichen Brandenburg, also der Niederlausitz, ein kleines slawisches Volk zu Hause ist? Daß auf einem Gebiet von etwa 100 km Länge und 40 km Breite, zu beiden Seiten der Spree, bis heute die Sorben leben? Ihre Heimat ist seit rund 1500 Jahren die Lausitz - auf sorbisch Łužica, was soviel wie „Sumpfland“ bedeutet.“ (Die Sorben in Deutschland 1997: 5)
„Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 gehört eine weitere ethnische Minderheit, die Sorben, zur Bundesrepublik. In der „alten Bundesrepublik“ ist die Kenntnis über diese Gruppe bislang recht bruchstückhaft und vorläufig. Die Sorben leben im Osten der beiden neuen Bundesländer Brandenburg und Sachsen. Man kann sie als regionale Minderheit bezeichnen, da es nicht zu einer nationalstaatlichen Eigenentwicklung unter ihnen gekommen ist.“ (Heckmann 1992: 26)
„Unter den ethnischen Minderheiten nimmt das sorbische Volk eine besondere Stellung ein. Es gehört zu den autochtonen Minderheiten, d.h. zu den alteingesessenen, einheimischen Minderheiten, und lebt seit Jahrhunderten im östlichen Teil der heutigen Bundesrepublik. Es unterscheidet sich von der autochtonen dänischen Minderheit darin, daß es nie einen eigenen Staat hatte.“ (Elle 1995a: 454)
„Wo eine Minderheit ist, müßte es auch eine Mehrheit geben. Wo aber befindet sich die Mehrheit der Sorben? Es gibt sie nicht, weil die Slawen in der Lausitz nicht eine „Minderheit“ eines größeren Volkes sind (wie etwa die Dänen in Schleswig-Holstein), auch nicht ein über mehrere Staaten verteiltes Volk (wie die Kurden). Sondern sie sind eine eigene, autonome, unwiederholte slawische Nation, die es nur innerhalb deutscher Grenzen gibt (sagt Vladimir Klemencic von der Universität Ljubljana, einer der besten Kenner europäischer Minderheitenprobleme). Sie sind qualitativ absolut gleichwertig mit Polen, Tschechen, Russen und anderen. Was die (wohlwollend gezählt) 80.000 Sorben von den 140.000.000 Russen unterscheidet, ist zunächst einmal nur ein quantitativer Unterschied - es gibt mehr Russen als Sorben.“ (Oschlies 1991: 4)
Volk, Nation, Minderheit: im Dickicht der Definitionen läßt sich so leicht kein passendes Etikett für die Sorben[1] finden. Da dies in erster Linie auf die Unzulänglichkeit eindeutiger Definitionen für vielschichtige Phänomene hinweist, soll hier darauf verzichtet werden, den oben angeführten Beispielen (die Liste ließe sich beliebig fortsetzen), einen weiteren, eigenen Definitionsversuch hinzuzufügen.
In dieser Arbeit möchte ich mich mit ethnologischen Konzepten von Ethnizität und ethnischer Identität auseinandersetzen, und verstehe sie nicht als einen Beitrag zur empirischen Forschung über die Sorben. Die theoretische Auseinandersetzung findet gleichwohl anhand des Beispiels der Sorben statt, und stützt sich dabei sowohl auf Literatur wie auch auf eigene Beobachtungen. Das Ziel ist dabei nicht, eine vollständige Analyse sorbischer ethnischer Identität zu versuchen, sondern anhand einzelner Zusammenhänge die kontextabhängige und diskursive Herausbildung spezifischer Ethnizitätskonzepte aufzuzeigen, um damit sorbische Ethnizität als Diskurs, der nur unter Bezugnahme auf andere, umgebende Diskurse, und nicht unter Bezug auf die Sorben als ethnische Gruppe, verstanden werden kann, zu identifizieren.
Da der Gegenstand dieser Arbeit nicht die Darstellung der Sorben, sondern die Darstellung von Diskursen über das Konzept „Sorbisch“ ist, bleibt die Darstellung des sorbischen Volkes, der sorbischen Minderheit, der sorbischen Nation im Hauptteil der Arbeit bruchstückhaft. Dies entspricht zwar dem Ansatz und der Fragestellung dieser Arbeit, macht aber ein Einordnen, Kritisieren und Weiterdenken meiner Interpretationen einzelner Kontexte schwierig. Deshalb stelle ich der eigentlichen Einleitung einen kurzen Überblick über Geschichte und Gegenwart der Sorben voran. Oder, um in der Begrifflichkeit dieser Arbeit zu bleiben: eine Zusammenfassung des aktuell allgemein akzeptierten und in den einschlägigen Publikationen reproduzierten Diskurses über die sorbische Geschichte und Gegenwart.
Die Sorben oder Wenden gelten als Nachfahren der elbslawischen Stämme, die vor etwa 1400 Jahren das Gebiet zwischen Ostsee und Erzgebirge besiedelten. Im 10. Jahrhundert gerieten sie unter deutsche Herrschaft und wurden christianisiert. In den westlicheren Siedlungsgebieten ging die slawische Bevölkerung im Mittelalter in der zahlenmäßig überlegenen deutschen Bevölkerung auf, nur in der Lausitz blieb die Eigenart der sorbischen Stämme erhalten.
Mit der Reformation entstand erstmals eine klerikale sorbische Schriftsprache, eine kleine Schicht sorbischer Gelehrter, v.a. Lehrer und Pfarrer, bildete sich. Seit dem 18. Jahrhundert entwickelte sich eine institutionalisierte Kulturpflege. So entstand 1706 das wendische Seminar in Prag, für die folgenden zwei Jahrhunderte die Hauptausbildungsstätte katholischer sorbischer Priester. Für die Ausbildung evangelischer Geistlicher entstand 1716 das wendische Predigerkollegium in Leipzig, 1746 in Wittenberg die Wendische Predigergesellschaft. Die wissenschaftliche Erforschung sorbischer Sprache und Kultur wurde von sorbischen und deutschen Aufklärern begonnen, die 1779 in Görlitz gegründete Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften wurde Zentrum der Forschungen.
Die bürgerlich-demokratische Entwicklung im 19. Jahrhundert und die nationale Wiedergeburt bei den slawischen Völkern inspirierte die sorbische Entwicklung wesentlich. Im Zuge der „sorbischen nationalen Wiedergeburt“ ab den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Vereine gegründet, die wissenschaftliche Beschäftigung mit der sorbischen Sprache vorangetrieben, sorbisches Liedgut und Brauchtum gesammelt und dokumentiert und Zeitungen in sorbischer Sprache herausgegeben. 1847 wurde die sorbische Gesellschaft für Wissenschaft und Volksbildung, die Maćica Serbska, gegründet.
Nach dem Wiener Kongreß 1815 verlor Sachsen mehr als die Hälfte seines Territoriums. Ein Großteil des sorbischen Siedlungsgebietes fiel dadurch an Preußen. Während in Sachsen eine tolerante Sprachenpolitik ausgeübt und beispielsweise sorbischer Schulunterricht gestattet wurde, verfolgte Preußen einen Weg der Verdrängung der sorbischen Sprache aus Schulen und Kirchen.
Mit der Reichsgründung 1871 ging ein verschärfter antisorbischer Kurs der deutschen Obrigkeit einher, sorbischer Schulunterricht wurde verboten. Auch die rasche Industrialisierung der Lausitz führte zu tiefgreifenden Veränderungen: bäuerliche Lebensstrukturen wandelten sich, es kam zu massivem Zuzug von deutschen Arbeitern wie auch zur Abwanderung der sorbischen Bevölkerung in die Städte.
Der zunehmenden Germanisierung setzten sorbische Intellektuelle verstärkte Bemühungen um sorbische Sprache und Kultur entgegen. Eine Welle von Vereinsgründungen Anfang des 20. Jahrhunderts fand in der Gründung der Domowina (Heimat) als Dachorganisation ihren Höhepunkt.
Nach dem ersten Weltkrieg sicherte die Verfassung der Weimarer Republik den „fremdsprachigen Volksteilen des Reiches“ zu, sie nicht „in ihrer freien volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht sowie bei der inneren Verwaltung und Rechtspflege“ zu beeinträchtigen (Kunze 1997: 59). Ausführungsgesetze wurden jedoch nicht verabschiedet, die Verfassungsgarantie blieb weitgehend ohne Umsetzung. Die intellektuelle Führungsschicht der Sorben forderte nach dem ersten Weltkrieg einen selbständigen sorbischen Staat oder aber den Anschluß der Lausitz an die Tschechoslowakei. Diese gescheiterten Autonomiebestrebungen und der Vorwurf des Panslawismus führten zu antisorbischer Politik in Deutschland. 1920 wurde die sogenannte „Wendenabteilung“, ein zentrales staatliches Überwachungsorgan, gegründet, die bis 1945 bestand und deren Hauptaufgaben in der „Stärkung der Deutschtumsarbeit in den wendischen Gebieten“, der Förderung einer breiten Aufklärung über den hochverräterischen Charakter jeglicher wendischer Nationalbestrebungen“ und in der „Aufdeckung jedes wendischen Nationalbewußtseins als reichsfeindlich“ bestanden (Kunze 1997: 57f.).
Trotz einer spürbar restriktiven Politik gegenüber dem Sorbentum kam es in den zwanziger Jahren zu weiteren Vereinsgründungen und einer Vielzahl sorbischer kultureller Aktivitäten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurden sorbische Vereine und Publikationen verboten oder gleichgeschaltet. Wichtige Persönlichkeiten des sorbischen politischen und kulturellen Lebens, sorbische Lehrer und Geistliche wurden verhaftet oder zwangsumgesiedelt. 1937 wurde die Domowina, die sich der Gleichschaltung widersetzte, in einer erneuten politischen Richtungsänderung verboten, und mit ihr alle sorbischen Vereine und Institutionen. Der Gebrauch der sorbischen Sprache in der Öffentlichkeit wurde nicht geduldet, weitere Verhaftungen und Umsiedlungen von Lehrern und Geistlichen folgten.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft wurden erneut Forderungen nach...