In einer Volkswirtschaft nimmt der Handel bei der Güterdistribution eine Schlüsselrolle ein. Durch die Distribution werden erzeugte Güter und Dienstleistungen für den Endverbraucher verfügbar gemacht. Die Handelsaufgabe besteht darin, die in räumlicher, zeitlicher, qualitativer und quantitativer Hinsicht bestehenden Spannungen aufzulösen und somit eine Brückenfunktion zwischen vor- und nachgelagerten Stufen, nämlich dem Hersteller und den Konsumenten einzunehmen.[65] Der Handel übernimmt die Funktion des Wiederverkäufers, da der Ankauf und Verkauf der Waren ohne Bearbeitung, also eine Veränderung und/oder Verarbeitung ausgeführt wird.[66] Die Durchführung der wirtschaftlichen Tätigkeiten, die zur Überbrückung der Spannungen dienen, wird in der gängigen Literatur als Handel im funktionellen Sinne definiert. Dem gegenüber steht der Handel im institutionellen Sinne, der hauptsächlich aus Handelsunternehmen besteht, die auf einen Teilbereich des Güteraustauschs spezialisiert sind, also im Fokus der Handlungen der Träger selber stehen.[67] Nach dem Ausschuss für Definitionen zu Handel und Definition liegt ein Handel im funktionellen Sinne vor, „wenn Marktteilnehmer Güter, die sie in der Regel nicht selbst be- oder verarbeiten (Handelsware), von anderen Marktteilnehmern beschaffen und an Dritte absetzen“[68]. Die differenzierte Definition der Katalogkommission für „Handel im institutionellen Sinne -auch als Handelsunternehmung oder Handelsbetrieb bezeichnet- umfasst jene Institutionen, deren wirtschaftliche Tätigkeit ausschließlich oder überwiegend dem Handel im funktionellen Sinne zuzurechnen sind. In der amtlichen Statistik wird ein Unternehmen oder ein Betrieb dann dem Handel zugeordnet, wenn aus der Handelstätigkeit eine größere Wertschöpfung resultiert als aus einer zweiten oder aus mehreren sonstigen Tätigkeiten“[69] beschreibt ausführlich die unterschiedliche Schwerpunkte beider Definitionen. Eine Systematisierung der spezialisierten Handelsbetriebe kann nach Seyffert (1972) aus der Stellung in der Handelskette entnommen werden.[70]
Abbildung 4: Distributionswege.
Quelle: Müller-Hagedorn; Natter, 2011, S. 16
Als ein entscheidendes Kriterium kann dabei die räumliche Überbrückungsfunktion zwischen Anbieter und Nachfrager genannt werden.[71] Daraus resultiert die Unterscheidung zwischen Großhandels- und Einzelhandelsbetriebe, die sich aufgrund der Tätigkeitsschwerpunkte bestimmen lassen. Großhandelsbetriebe handeln mit Waren, die an Wiederverkäufer, Großverbraucher[72] und gewerbliche Verwender abgesetzt werden. Einzelhandelsbetriebe setzen haushaltsgerechte Handelsware an den Endverbraucher ab und stehen mit den Konsumenten in direktem Kontakt.[73] Die Marktbearbeitung kann je nach Art und Weise der eingenommenen Funktion auf verschiedene Weisen geschehen, wie etwa dem Distanz-, ambulant- oder dem stationären[74] Handel.[75] Die Betriebsformen unterscheiden sich im stationären Einzelhandel nach den Merkmalen: Sortiment, Branche, Betriebsfläche und Bedienungsform.[76]
Nach der strukturierten Darstellung wird sich die Arbeit mit dem stationärem Einzelhandel und seinen Betriebsformen beschäftigen. Nach der Definition des Ausschusses für Definitionen zu Handel und Distribution bilden die Zielgruppe des Einzelhandels private Haushalte und natürliche Personen. „Einzelhandel im institutionellen Sinne, auch als Einzelhandelsunternehmung, Einzelhandelsbetrieb oder Einzelhandlung bezeichnet, umfasst jene Institutionen, deren wirtschaftliche Tätigkeit ausschließlich oder überwiegend dem Einzelhandel im funktionellen Sinne zuzurechnen ist“[77]. Aufgrund der Vielfalt von institutionellen Einzelhandelsbetrieben werden sie zu Typen zusammengefasst, die aufgrund bestimmter Merkmale Ähnlichkeiten aufweisen und sich von anderen Betriebstypen differenzieren lassen.[78] Aus der nachfolgenden Abbildung kann entnommen werden, dass die Handelsforschung sich mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Einzelhandelsbetriebe auseinandersetzt und sie letztendlich klassifiziert.[79]
Abbildung 5: Betriebstypen des Einzelhandels.
Quelle: Müller-Hagedorn; Toporowski; u.a., 2012, S. 64
Der Lebensmitteleinzelhandel hat in den letzten Jahren eine enorme Veränderung durchgemacht. Ausschlaggebend war der Wandel der Betriebsformen des Handels, der ein Integrationsprozess von verschiedenen Handelsstufen mit sich brachte.[80] Eine weitere spezifische Definition des Einzelhandels ist aufgrund der Relevanz für die vorliegende Arbeit, auf den Einzelhandel mit Lebensmitteln anzuwenden. Demnach ist der Lebensmitteleinzelhandel ein „Sammelbegriff für Unternehmen des Einzelhandels, deren Märkte oder Geschäfte ein Sortiment führen, das überwiegend aus Lebensmitteln besteht. Dazu zählen beispielsweise Supermärkte, Verbrauchermärkte, Discounter und Selbstbedienungswarenhäuser“.[81]
Wie aus der Definition zu entnehmen ist, liegt die Betonung auf den schwerpunktmäßigen Vertrieb der Lebensmittel, was also nicht ausschließt, dass derartige Unternehmen auch Non-Food-Artikel betreiben, was jedoch nur einen geringen Anteil am Gesamtsortiment ausmacht, wie etwa eine quantitativ untergeordnete Rolle von Zusatzsortimenten[82]. Die Erscheinungsformen im deutschen Lebensmitteleinzelhandel lassen sich durch die Merkmale: Betriebsgröße und strategisch bedingte sortimentspolitische Ausrichtung, zu einem Betriebstyp definieren.[83] Auf der Basis der zur Verfügung stehenden Leistungsfaktoren wie die Verkaufsfläche, das Personal und das Gesamtsortiment, werden die Lebensmittelhändler unter einer Betriebsform zusammengefasst. Im vorliegenden Kontext werden Supermärkte, Verbrauchermärkte und SB-Warenhäuser als Vollsortimenter[84] im Lebensmitteleinzelhandel definiert. [85] Als Supermärkte werden die Vertriebsformen des LEH mit einer Verkaufsfläche ab 400 Quadratmetern mit einem 7.000 – 10.000 umfassendes Sortiment bezeichnet.[86] Bei einer Verkaufsfläche ab 1.500 Quadratmetern und einem Sortiment von 21.000- 40.000 Artikeln wird ein LEH als Verbrauchermarkt bezeichnet.[87] Ein LEH mit einer Mindest-Verkaufsfläche von 5.000 Quadratmetern und einem Gesamtsortiment von 33.000 bis 63.000 Artikeln wird als SB-Warenhaus bezeichnet.[88]
Charakteristisch für den Vollsortimenter im LEH ist die große Verkaufsfläche (dominierendes Kriterium zur Trennung von anderen Betriebsformen) mit tiefen und breiten Sortimenten, kombiniert mit weitergehenden Serviceleistungen und einem beachtlichen Teil an Non-Food-Artikeln. Die Auswirkungen der größeren Verkaufsflächen bewirken die Notwendigkeit einer Ansiedlung an nicht integrierten, PKW-Orientierten Standorten.[89]
Ulusoy vom ZfT hat in einer Eigenstudie aus dem Jahr 2008 den türkischen Lebensmittelhandel in Deutschland wie folgt definiert: „Was Tante Emma aufgibt, übernimmt Onkel Mehmet“. Diese Entwicklung ist insbesondere auf die Jahre der Einwanderung zurückzuführen, wo es primär um die Versorgung der TID mit gewohnten Lebensmitteln ging. Mit der Zeit wurden auch die deutschen Konsumenten auf türkische Nahrungsmittel aufmerksam, so dass die türkischen Lebensmittelhändler durch Erweiterung ihrer Warensortimente durch deutsche Produkte, in Gebieten wo sich die Handelsketten zurückzogen, die Rolle des Nahversorgers eingenommen haben. Darüber hinaus hat sich in Deutschland ein Lieferantenmarkt mit diversen Großhändlern etabliert. Neben diversen Importeuren haben sich in Deutschland auch zahlreiche Produzenten für Wurstprodukte, Brot, Fertiggerichte und Molkereiprodukte gebildet. Mit der gesamten Bandbreite des Lebensmittelsektors, wie etwa durch die Fertigungsketten, von der Produktion bis über den Handel, setzen die türkeistämmigen 15.000 Einzel- und Großhändler aus dem Lebensmittelsektor sowie 20.000 Gastronomen insgesamt 13 Milliarden Euro (2008) um.[90]
Wird lediglich der türkische Lebensmitteleinzelhandel betrachtet, so kann eine Differenzierung innerhalb des Sektors festgestellt werden. Auf der einen Seite gibt es die kleinen „Onkel Mehmet-Betriebe“, die das Geschäft in alter Tradition führen, also kaum Personalkosten haben, weil die Familie mit aushilft. Sie verdienen monatlich ca. 2000 Euro.[91] Auf der anderen Seite bilden sich ambitionierte Geschäftsleute heraus, die das Business mit der ethnischen Gruppe erkennen und in neue Betriebe Kapital für An- und Umbau investieren, die einen Supermarktcharakter aufweisen. So auch Sentürk, der in Duisburg eine ehemalige Plus Filiale in einen türkischen Supermarkt umfunktioniert hat und seitdem erfolgreich betreibt. Die Erkenntnisse aus dem persönlichen Gespräch sollen an dieser Stelle interessante...