4 Empfehlungen für die Umsetzung im Sportunterricht
Eine kontinuierliche und ergiebige Bearbeitung der Wagnisperspektive im Sportunterricht setzt ein längeres und differenziertes Angebot voraus. Wir raten deshalb von isolierten Einzelstunden zu dieser Perspektive ab und favorisieren zusammenhängende Unterrichtsvorhaben von ca. 3-6 Doppelstunden, die sich an tragfähigen Themen orientieren. Nachfolgend zeigen wir exemplarisch Themenfelder auf und stellen zudem unterschiedliche Differenzierungsmöglichkeiten für die Wagnisperspektive vor.
4.1 Exemplarische Themenfelder schulsportlicher Wagniserziehung
Im Folgenden formulieren wir Vorschläge für die Behandlung der Wagnisperspektive, die sich an der didaktisch grundlegenden Frage orientieren: An welchen Beispielen können Kinder und Jugendliche im Sportunterricht geeignete Erfahrungen machen, damit sie in sportlichen Wagnissituationen zukünftig kompetent entscheiden und handeln können? Oder aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen gefragt (a-d):
a) „Warum sollte ich ein Wagnis eingehen?“
SuS haben ein Anrecht darauf, zu erleben und zu verstehen, worin eine mögliche „Belohnung“ für eine Selbstgefährdung liegt. Sie sollten also wissen, was sie davon haben, wenn sie im Sport(-Unterricht) ein Wagnis eingehen. Thematisiert werden im Sportunterricht das positive Erleben von Angstlust, das subjektive Wahrnehmen körperlicher Empfindungen sowie die Bedingungen eines angemessenen Wagnishandelns. Dazu sollen die SuS ihre Gefühle und Empfindungen vor, beim oder nach dem Eingehen einer Wagnissituation bewusst wahrnehmen und auch in Worte fassen.
Der Umgang mit Angst und die Klärung der Bedeutung von Angst sind für ein verantwortliches Wagen essenziell: Die SuS sollten an geeigneten Beispielen Einsicht gewinnen in die Abhängigkeit zwischen einem positiven Erleben von Angstlust und dem vorhandenen eigenen Können. Denn bei ausreichendem Können wird die wiedererlangte Kontrolle des beim Wagnis inszenierten Kontrollverlusts möglicherweise selbstbestärkend erlebt. Dazu ist es wichtig, dass die SuS den Zusammenhang von Angstüberwindung und der Stärkung des Selbstbewusstseins erleben können: Wenn ich mich traue, diese oder jene Abfahrt mit meinen Ski zu fahren, kann ich meinen Aktionsradius in diesem Skigebiet vergrößern.
b) „Was habe ich davon, wenn ich es nicht schaffe?“
Weil zum Wagnis nicht nur das erfolgreiche Bewältigen, sondern auch das Scheitern gehört, sollten die persönlich bedeutsamen Folgen des Scheiterns aufgezeigt und reflektiert werden. Thematisiert wird dabei zum einen die Einsicht in die unmittelbare Folgenabschätzung („Wenn ich in dieser Kletterroute stürze, dann falle ich in das Seil, für das mein Partner verantwortlich ist. Wenn er mich hält, kann ich mir eigentlich nicht wehtun. Ich muss nur darauf achten, nicht mit den Knien oder dem Körper an der Kletterwand entlangzurutschen!“).
Thematisiert wird aber zum anderen auch die mittelbare Folgenabschätzung („Werden die anderen lachen oder blöde Sprüche machen, wenn sie mich beobachten? Sieht das irgendwie peinlich aus, wenn ich da im Seil hänge und hin und her baumele? Werde ich noch einmal den Mut aufbringen und Kraft genug haben, die Stelle erneut zu probieren?“). Wichtig ist es, dass die SuS leibliche und soziale Folgen des Scheiterns kennen und angemessene Umgangsformen für Misserfolge entwickeln können. Dazu brauchen sie aber auch und insbesondere die Unterstützung durch die Lehrkraft.
c) „Soll ich oder soll ich lieber nicht?“
Der Prozess des Abwägens vor einem sportlichen Wagnis ist mitunter auch beobachtbar, wie beim Springen vom Sprungturm, und er ist vielen SuS aus eigener Erfahrung oder der Beobachtung bekannt. Thematisiert wird der wichtige Entscheidungsprozess des Sich-Überwindens und Bedenkens. Die SuS sollen an geeigneten Beispielen erkennen, dass diese gedankliche Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Bewegungsaufgabe im Vorfeld wichtig ist, wenn man sich nicht bedenkenlos einer Gefahr aussetzen will. Darüber hinaus soll den SuS vermittelt werden, dass die Entscheidung gegen ein Wagnis nicht gleichbedeutend mit einem Zeichen von Schwäche, sondern das Ergebnis einer vernünftigen Abwägung ist (Prinzip der Freiwilligkeit).
Abb. 4.1: Sprung als Entscheidungssituation
d) „Ich würde gerne, traue mich aber nicht“
Je nachdem, ob eine Wagnisaufgabe vertraut oder ungewohnt erscheint oder ob das Vertrauen in das eigene Können schwach oder stark ausgeprägt ist, fällt der Überwindungsprozess leicht oder schwer. In diesem Zusammenhang sollten auch die Bedingungen und Faktoren, beispielsweise ein günstiges soziales Klima oder die Möglichkeit des Vereinfachens einer bestimmten Anforderung, thematisiert werden, von denen der Entschluss für oder gegen das Wagnis abhängen. Darüber hinaus erfahren die SuS die Bedeutung einer motorischen Vorbereitung auf das Bewegungswagnis, indem sie an die sportartspezifischen Techniken langsam herangeführt werden. Die Vorbereitung auf Bewegungswagnisse kann jedoch auch den hemmenden Einfluss von Angst behandeln und Techniken zur Reduktion von Angst aufzeigen (vgl. Kap. 5.8).
Die schulsportliche Wagniserziehung sollte die Kultivierung einer besonderen Haltung zum Ziel haben: Kompetent handeln nicht diejenigen, die nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip alles auf eine Karte setzen, sondern die „Stuntfrauen“ und „Stuntmänner“, die sich gewissenhaft auf die Aufgabe vorbereiten, ohne vermeidbare Zusatzrisiken in Kauf zu nehmen.
4.2 Differenzierungen bedenken
Zur Umsetzung der Wagnisperspektive bedarf es eines differenzierten Angebots im Sportunterricht. Weil es ein Alles-oder-nichts und ein Entweder-oder zu vermeiden gilt, müssen abgestufte Wagnissituationen angeboten beziehungsweise differenzierende Bewegungsaufgaben gestellt werden. Solche notwendigen Differenzierungen können sich auf die Stufe (a), auf die Komplexität (b), auf die Menge (c) und auf die Voraussetzungen der SuS (d) beziehen.
a) Ein Differenzierungsvorschlag nach der Wagnisstufe
Von Funke-Wieneke (2000, S. 301) stammt ein Differenzierungsvorschlag für das Bewegungsfeld „Bewegen an Geräten – Turnen“. Im Mittelpunkt steht dabei die Bewusstmachung des Zusammenhangs zwischen Risikoschwelle, Bewegungskompetenz und fehlerfreundlichen Gerätearrangements. Dieser Vorschlag unterscheidet drei Niveaus, die gut auf die Bewegungsanforderungen der Wagnisperspektive angewendet werden können:
- Eine Teststufe, auf der die SuS die intendierte Bewegungsabsicht zunächst erfassen und das Bewegungsproblem angstfrei lösen.
- Eine Schwellenstufe, auf der die SuS das gesteigerte Bewegungsproblem bei niedrigem Risiko lösen, um Handlungssicherheit zu gewinnen.
- Eine Grenzstufe, auf der sich die SuS an die Grenze des Gekonnten herantasten und die gewonnene Handlungssicherheit auf Belastbarkeit testen.
Anspruchsniveau | Arrangement |
Teststufe | Sprung von einem kleinen Kasten auf den nächsten |
Schwellenstufe | Sprung von einem kleinen Kasten auf eine umgedrehte Bank |
Grenzstufe | Sprung von einem kleinen Kasten auf eine niedrige Reckstange |
Abb. 4.2: Schwellenstufe: Sprung von einem kleinen Kasten auf einen Balken
b) Ein Differenzierungsvorschlag nach Wagniskomplexität
Wenn wir über Wagnisgelegenheiten im Schulsport nachdenken, geht es zumeist um kleine und wenig aufwendige Handlungssituationen, die sich mit relativ wenig Vorwissen und schnell erlernbarem Können lösen lassen. Bei technisch aufwendigeren Sportarten, wie dem seilgesicherten Klettern, bedarf es jedoch einer umfangreicheren Unterweisung in die elementaren Sicherungstechniken. Darüber hinaus muss Vertrauen geschaffen werden zum Material (Materialvertrauen), zum Sicherungspartner (personales Vertrauen) und zum unterrichtlichen Arrangement (Systemvertrauen). Vor diesem Hintergrund sollten Lehrkräfte die Komplexität von Wagnisaufgaben im Sinne der dafür notwendigen Voraussetzungen im Auge haben und mögliche Überforderungssituationen angemessen bedenken:
„Wenn wir beim Klettern etwas wagen wollen, können wir dies nur im Vertrauen auf eine gute Sicherung durch die Sicherungspartner. Was bedeutet für euch eine ‚gute Sicherung‘? Was müssen wir überhaupt wissen und können, um ‚gut‘ zu sichern? Macht bitte Vorschläge, wie wir ein ‚gutes Sichern‘ üben können!“
c) Ein Differenzierungsvorschlag nach der Wagnismenge
Die Bewältigung von Bewegungswagnissen ist für SuS in unterschiedlichem Maße reizvoll und möglich. Kinder und Jugendliche trauen sich nicht nur Unterschiedliches zu, ihr persönlicher „Bedarf“ an Wagnisaktivitäten ist auch unterschiedlich groß. Während einige SuS immer neue Herausforderungen suchen und sich beispielsweise beim Wasserspringen an größeren Höhen und schwierigeren Sprungfiguren versuchen, sind andere froh und zufrieden, wenn sie längere Zeit an einer Wagnisaufgabe arbeiten können. Insofern sollten Lehrkräfte unterschiedliche Wagnisse berücksichtigen:
„Wir wollen zusammen einen Wagnisparcours entwickeln. Jede Gruppe hat dazu die Aufgabe, ihre Wagnisstation gemäß der getroffenen Einteilung in die Klettergruppe, die Balanciergruppe, die Sprunggruppe und die Schwinggruppe zu planen und aufzubauen. Dabei müsst ihr die...