Biologische und soziale Einflüsse auf kognitive Kontrollprozesse, die vom präfrontalen Kortex abhängen2
Adele Diamond
Einleitung
Exekutive Funktionen (EF, auch als kognitive Kontrollfunktionen bezeichnet) sind die Voraussetzung für logisches Denken und die Fähigkeit zum Problemlösen und wären, wenn sie „automatisiert ablaufen“ würden, unzureichend oder noch mangelhaft. Sie hängen von einem neuronalen Schaltkreis ab, bei dem der präfrontale Kortex (PFC) eine wichtige Rolle spielt, und werden durch Schädigungen oder Dysfunktionen des PFC beeinträchtigt. Sie sind von entscheidender Bedeutung für psychische Gesundheit, schulische Leistungen und Erfolg im Leben. Die drei zentralen exekutiven Funktionen, auf denen komplexere (wie logisches Denken) aufbauen, sind (1) inhibitorische Kontrolle (einem starken Drang, etwas Bestimmtes zu tun, widerstehen und stattdessen etwas besonders Notwendiges oder Angemessenes tun, z.B. seine Aufmerksamkeit auf etwas fokussieren, diszipliniert eine Aufgabe zu Ende bringen, Selbstkontrolle ausüben und nichts sozial Unverträgliches sagen oder tun); (2) Arbeitsgedächtnis (Informationen im Gedächtnis behalten und mit ihnen arbeiten: Ideen gedanklich verändern; Verbindung herstellen zwischen dem, was man gerade erfährt, hört oder liest, und dem, was man früher erfahren, gehört oder gelesen hat, und eine Wirkung mit der vorausgegangenen Ursache in Zusammenhang bringen); und (3) kognitive Flexibilität (imstande sein, die Perspektive zu wechseln oder den Aufmerksamkeitsfokus zu verlagern; eingefahrene Denkbahnen verlassen, um neue Wege der Problemlösung zu finden) (Diamond, 2006; Huizinga et al., 2006; Lehto et al., 2003; Miyake et al., 2000).
Sowohl Biologie (Gene und Neurochemie) als auch Umwelt (z.B. Schulprogramme) modulieren die Funktionsweise des präfrontalen Kortex und beeinflussen somit exekutive Funktionen. Das Dopaminsystem im PFC mit seinen besonderen Eigenschaften ist verantwortlich dafür, dass der präfrontale Kortex anfällig ist für Umwelteinflüsse und genetische Variationen, die sich andernorts kaum auswirken, und einige dieser Variationen scheinen Männer und Frauen unterschiedlich zu beeinflussen. Inwieweit dies bei Störungen wie ADHS und PKU (Phenylketonurie, angeborene Stoffwechselstörung) relevant ist, wird in den folgenden Abschnitten diskutiert; und es geht um die Frage, wie Genotyp und Geschlecht Einfluss nehmen können, welche Umwelt besonders förderlich ist.
Durch die Erkenntnisse aus der Gehirnforschung werden manche bildungsbezogene Überlegungen auf den Kopf gestellt. „Gehirnbasiert“ bedeutet nicht unveränderbar oder unveränderlich. Exekutive Funktionen hängen vom Gehirn ab, können aber durch geeignete Aktivitäten verbessert werden. Der präfrontale Kortex ist erst im frühen Erwachsenenalter voll ausgereift (Gogtay et al., 2004), doch exekutive Funktionen können schon im ersten Lebensjahr und sicherlich bis zum Alter von vier bis fünf Jahren verbessert werden. Neuroplastizität ist nicht nur ein Merkmal des unreifen Gehirns. Der präfrontale Kortex bleibt selbst bis ins hohe Alter plastisch, und exekutive Funktionen können in jedem Alter verbessert werden. Im Vergleich zu früheren Generationen hinken heutzutage viele Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft – wichtigen EF-Fertigkeiten hinterher (Smirnova, 1998; Smirnova & Gudareva, 2004), doch diese Fertigkeiten können ohne Hinzuziehung von Experten und ohne großen Aufwand verbessert werden. Untersuchungen zeigen, dass oft aus Lehrplänen verdrängte Aktivitäten (wie Spielen, Sportunterricht und musische Aktivitäten) eher dazu beitragen, exekutive Funktionen zu verbessern und Schulleistungen zu steigern, als den Schulerfolg zu behindern. Solche Strategien können auch Probleme abwenden helfen, bevor Beeinträchtigungen exekutiver Funktionen, z.B. ADHS, diagnostiziert werden, und dramatische Auswirkungen auf den weiteren Lebensverlauf von Kindern haben. Durch die frühe Verbesserung zentraler EF-Fertigkeiten werden Kinder auf einen erfolgreichen Weg gebracht. Wenn dagegen Kinder bei Schuleintritt diese Fertigkeiten noch nicht entwickelt haben, kann ihre Laufbahn dadurch eine negative Richtung einschlagen, die zu ändern extrem schwierig und teuer sein kann.
Besondere Eigenschaften des Dopaminsystems im PFC
Das Dopaminsystem im PFC ist untypisch. Verglichen mit den Dopaminsystemen in den meisten anderen Hirnregionen zeichnet sich der präfrontale Kortex durch einen relativen Mangel an dem Dopamintransporter (DAT-Protein) aus. Während also Variationen im DAT1-Gen, das das DAT-Protein kodiert, sich in anderen Hirnregionen maßgeblich auswirken, haben solche Polymorphismen wenige oder keine direkten Auswirkungen auf den präfrontalen Kortex.
Das bedeutet auch, dass der präfrontale Kortex im Unterschied zu anderen Hirnregionen, die einen großen DAT-Vorrat haben, von anderen Mechanismen als dem Dopamintransporter abhängt, um ausgeschüttetes Dopamin zu entfernen. DAT bietet die beste Art der Entfernung von freigesetztem Dopamin; jene an DAT reichen Hirnregionen haben wenig Bedarf an Sekundärmechanismen der Dopaminentfernung. Weil der präfrontale Kortex arm an DAT und sein eigenes DAT-Protein nicht ideal lokalisiert ist (etwas entfernt von der Synapse [synaptic sites]), hängt er zur Dopaminentfernung ungewöhnlich stark von dem Enzym Catechol-O-Methyltransferase (COMT) ab. Von daher haben Variationen im COMT-Gen, das das COMT-Enzym kodiert, wichtige direkte Auswirkungen auf den präfrontalen Kortex, nicht aber auf die meisten anderen Hirnregionen. Da Östrogen die COMT-Transkription herunterreguliert, gibt es geschlechtsbezogene (und von der Menstruationsphase abhängige) Unterschiede in den Auswirkungen der Variationen im COMT-Gen.
Das Dopaminsystem im PFC ist auch in der Hinsicht untypisch, als die an den präfrontalen Kortex vermittelnden Dopaminneuronen eine höhere Ausgangsfeuerfrequenz und einen höheren Dopaminumsatz haben. Dadurch wird das Dopaminsystem im PFC besonders sensibel für kleine Veränderungen bei der Verfügbarkeit des Vorboten Tyrosin (Tyr). Andere Hirnregionen, wie etwa das Striatum, sind von kleinen Veränderungen bei der Verfügbarkeit von Tyrosin nicht betroffen.
Der relative DAT-Mangel im PFC und Erklärungen für verschiedene Subtypen der Aufmerksamkeitsdefitzit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Diagnostische Richtlinien beschreiben derzeit drei Subtypen von ADHS: den vorwiegend unaufmerksamen Typ, den vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typ und den Mischtyp (DSM-IV; American Psychiatric Association, 1994). Die meisten Studien haben den Mischtyp im Blick. Es gibt starke Hinweise darauf, dass die Primärstörung im Striatum lokalisiert und mit einem striatofrontalen Regelkreis verbunden ist, wenn ADHS mit Hyperaktivität (Mischtyp und vorwiegend hyperaktive Typen) einhergeht (Casey et al., 1997; Filipek et al., 1997; Hynd et al., 1993; Schrimsher et al., 2002; Soliva et al., 2010; Teicher et al., 1996; Vaidya et al., 1998). Da DAT wichtig ist für die Dopaminentfernung aus dem Striatum, sollten Polymorphismen des DAT1-Gens wichtige Folgen für diese Subtypen von ADHS haben. Das ist tatsächlich der Fall (Barr et al., 2001; Bedard et al., 2010; Cook, 2000; Cook et al., 1995; Daly et al., 1999; Gill et al., 1997; Schrimsher et al., 2002; Shook et al., 2011; Swanson et al., 2000; Waldman et al., 1998; Yang et al., 2007).
Die primäre Ursache der kognitiven Defizite bei ADHS (z.B. Unaufmerksamkeit und schlechtes Arbeitsgedächtnis) liegt im PFC begründet, nicht im Striatum. Im präfrontalen Kortex ist DAT nur spärlich vorhanden und spielt dort eine unbedeutende Rolle (Durston et al., 2005; Lewis et al., 2001; Sesack et al., 1998). Von daher sollten Polymorphismen im DAT1-Gen die kognitiven Probleme, unter denen Menschen mit ADHS leiden können, und den vorwiegend unaufmerksamen ADHS-Typ kaum beeinflussen. Das trifft tatsächlich zu. Beispielsweise korreliert das Ausmaß der Symptome von Hyperaktivität-Impulsivität mit der Anzahl hochriskanter DAT1-Allele, das Ausmaß der Symptome von Unaufmerksamkeit aber nicht (Waldman et al., 1998), und die DAT-Bindung weist einen Zusammenhang mit motorischer Hyperaktivität, aber nicht mit Symptomen der Unaufmerksamkeit auf (Jucaite et al., 2005).
Eine Funktion von Polymorphismen des DAT1-Gens in den hyperaktivitätsbetonten Formen von ADHS deckt sich bei der Behandlung dieses ADHS-Typs mit der Wirksamkeit von Methylphenidat, da dieses die DAT-Funktion direkt beeinflusst (Dresel et al., 2000; Seeman & Madras, 1998; Shenker, 1992; Volkow et al., 2002, 2005, 2007). DAT entfernt freigesetztes Dopamin dadurch, dass es freigesetztes Dopamin in präsynaptische Neuronen wieder aufnimmt. Methylphenidat bindet sich an das DAT-Protein und hindert es daran, Dopamin aufnehmen zu können (siehe Abb. 1). Die meisten Kinder mit ADHS des Mischtyps oder des hyperaktiven Typs (90%) reagieren positiv auf Methylphenidat; über 67% positiv auf Methylphenidat bei moderater bis hoher Dosierung (Barkley, 2001; Barkley et al., 1991; Milich et al., 2001; Weiss et al., 2003). Dies entspricht Methylphenidat, das DAT direkt beeinflusst, wobei DAT besonders wichtig ist im Striatum, dem Ort der Primärstörung bei hyperaktivitätsbetonten ADHS-Formen.
Abbildung 1: Wirkmechanismus von Methylphenidat.
Doch einer signifikanten Zahl von Kindern mit dem vorwiegend unaufmerksamen ADHS-Typ kann mit Methylphenidat nicht oder nur bei niedriger Dosierung geholfen werden (Barkley, 2001; Barkley et al., 1991; Milich et al., 2001; Weiss et al., 2003). Dies entspricht den anderen...