Einleitung: Die Exoduserzählung in synchroner und diachroner Perspektive
Der IEKAT-Kommentar hat sich das Ziel gesteckt, in der Auslegung des Alten Testaments synchrone und diachrone Perspektiven zu berücksichtigen und möglichst zu verbinden. Ausgangs- und Bezugspunkt für beide Perspektiven ist der in der Biblia Hebraica überlieferte Text, den wir für die hier auszulegenden Kapitel 1–15 des Buches Exodus die „biblische Exoduserzählung“ nennen wollen. Im vorliegenden Kommentar werden die beiden Auslegungsperspektiven auch von zwei Autoren erarbeitet und verantwortet, die synchrone von Helmut Utzschneider und die diachrone von Wolfgang Oswald.-
Im Kommentar werden die beiden unterschiedlichen Auslegungsperspektiven auf Basis einer gemeinsamen, mit Anmerkungen versehenen Übersetzung zunächst im Teil „Textanalyse“ in den Unterabschnitten „synchron“ bzw. „diachron“ je eigenständig formuliert. In der „Synthese“ werden Konvergenzen und Divergenzen der beiden Perspektiven aufeinander bezogen. Der „Dialog“ der Auslegungsperspektiven soll das theologische Verständnis des Textes vertiefen und verdeutlichen, inwiefern die jeweiligen hermeneutischen Voraussetzungen unterschiedliche Auslegungen nach sich ziehen.
Die folgenden Einleitungen haben je unterschiedliche Problemstellungen und Reichweiten. Die Einleitung aus synchroner Perspektive bietet eine Gesamtsicht der biblischen Exoduserzählung (Ex 1,1 – 15,21) entsprechend dem Umfang dieses Kommentarbandes. Die Einleitung aus diachroner Perspektive behandelt dagegen das gesamte Exodusbuch, da es sich bei den darzustellenden älteren Stadien um Kompositionen handelt, die nicht auf den ersten Teil des Exodusbuches beschränkt sind. In manchen Fällen finden sich die entscheidenden Hinweise zur Identifikation einer Fortschreibungsschicht in Ex 16–40, sodass der Entwurf einer Literargeschichte des Exodusbuches nur in einer Gesamtschau gelingen kann.
A. Die biblische Exoduserzählung – synchron
1. „Synchrone Auslegung“ als literarisch-ästhetische Auslegung
Der Begriff „synchron“ ist in der Bibelwissenschaft fest verankert, aber nur vage definiert. Die Debatte darüber kann hier nicht geführt werden,1 allerdings ist über das Verständnis des Begriffs kurz Rechenschaft abzulegen, das in diesem Kommentar leitend sein soll.
Synchrone Auslegung in Exoduskommentaren
Dazu ist zunächst ein Blick auf die Bedeutung der synchronen Auslegungsperspektive im Spektrum neuerer Kommentare zum Buch Exodus zu werfen.2 Dort hat die synchrone Auslegung inzwischen durchaus einen festen Platz; allerdings ist das Verständnis dieser Perspektive jeweils unterschiedlich akzentuiert und bestimmt sich nicht selten im Gegenüber zur diachronen Auslegungsperspektive (vgl. zu den diachron orientierten Kommentaren Abschnitt B.1 dieser Einleitung).
Unter diesen Kommentaren ist zunächst „Das Buch Exodus“ des jüdischen Gelehrten und Rabbiners Benno Jacob zu nennen. Das umfangreiche Buch entstand 1934–1944 in deutscher Sprache; da sein Autor aber aus Nazideutschland fliehen musste, ist es erst seit 1997 in einer wiederhergestellten deutschen Fassung zugänglich. Der Kommentator ist am vorliegenden hebräischen Text orientiert, den er mit großer sprachlicher Genauigkeit und aus intimer Kenntnis der klassischen jüdischen Auslegungsliteratur analysiert. Dabei geht es Benno Jacob in erster Linie darum, die „religiösen Gedanken und Absichten“ der Tora herauszuarbeiten, „nach denen sie die Erzählung so und nicht anders gestaltet hat“.3 Diese Sichtweise ist mit einer gehörigen Skepsis gegenüber der historisch fragenden Bibelwissenschaft christlich-protestantischer Provenienz verbunden. Insbesondere die – in der Entstehungszeit des Kommentars noch fast allein herrschende – Quellentheorie lehnt Jacob vehement ab.4
Der vierbändige Kommentar von Cornelis Houtman, der in den Jahren 1993–2000 erschienen ist, geht zwar davon aus, dass „material from various sources“5 dazu gedient hat, das Gesamtwerk zusammenzustellen. Allerdings zeichne sich das vorliegende Werk als „final editing“6 durch eine beträchtliche Einheitlichkeit aus. In eben diesem Sinne sei es als „Einheit“ intendiert, und so wolle es auch gelesen werden. Dies schließt nicht aus, im Einzelfall auf Unebenheiten und Spannungen zu achten, die auf die literarische Vorgeschichte des einheitlichen Endproduktes hinweisen können.
Deutlich unter dem Einfluss neuerer literaturwissenschaftlicher Studien steht der 2005 in der Reihe der „New Cambridge Bible Commentaries“ erschienene Exodusband von Carol Meyers. Im Gefolge dieser Trends ist dieser Kommentar am „existing text“7 interessiert, was die Autorin nicht hindert, bisweilen auf Spuren der Quellen des vorliegenden Textes hinzuweisen, insbesondere auf die „dominant hand of P“8. Literarisch sei „Exodus essentially a narrative – a connected series of episodes with characters and a plot“9. Als Erzählung hat das Exodusbuch (nicht nur die Exoduserzählung Ex 1–15) eine besondere Funktion. Es ist erinnerte Geschichte, wie C. Meyers unter Berufung auf Jan Assmann hervorhebt, und repräsentiert mithin „a kind of thinking, in which the biblical traditions are understood as phenomena of collective cultural memory“10. Diese „Erinnerungsliteratur“ bewahrt Kerne historischer Realität, etwa Vorgänge und Verhältnisse im Ägypten der 19. Dynastie, die manchen Vorgängen der Exoduserzählung analog seien.11 In Mose vermutet sie die Erinnerung an eine charismatische Figur der Anfänge Israels in der eisenzeitlichen Dorfkultur. Meyers bringt in ihrem Kommentar, wie in weiteren Arbeiten, die feministische Exegese zur Exoduserzählung zur Geltung (vgl. dazu insbesondere die Auslegung des Mirjamliedes Ex 15,20).
Der 2004 in der Reihe „Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament“ erschienene Band „Exodus 19–40“ von Christoph Dohmen geht wie der vorliegende vom überlieferten hebräischen Text aus und setzt bei der Rolle der Leser, und zwar vorrangig der heutigen, an. Der Sinn von Texten sei „immer so vielfältig wie seine Leser“12. Allerdings werde dieser Vielfalt – Dohmen beruft sich dazu auf Umberto Eco – durch die „intentio operis“, den Textsinn, Grenzen gesetzt. Eine Methodik oder auch nur Kriterien für die Bestimmung der „intentio operis“ werden aber nicht genannt. Die Auslegungsperspektive ist zweifach; sie will sowohl die Seite des Textes wie die der Leser zu ihrem Recht kommen lassen. So ist der Kommentar einerseits „Garant und Wächter des Textes“ und hält andererseits dessen „Sinnfülle und Mehrdimensionalität offen“13. Dohmen verbindet damit eine deutliche Skepsis gegenüber klassischen, diachronen Fragestellungen. Es geht Dohmen nicht darum, den „Ursprungssinn“ oder die Autorenintention des Textes zu ermitteln. Die Rückfrage nach Vorstufen des Textes sei nicht ausgeschlossen, gehöre aber nicht zu den eigentlichen Aufgaben des Kommentars.
Synchron angelegt ist auch der 2009 in der Reihe „Neuer Stuttgarter Kommentar – Altes Testament“ erschienene Kommentar „Das Buch Exodus“ von Georg Fischer und Dominik Markl, die sich vornehmen, „nahe am biblischen Wort zu bleiben“14 und dabei auf die sprachliche Gestaltung und ihre Feinheiten zu achten. Die Autoren bemühen sich auch, ein Gesamtbild der Erzählungen zu geben, indem sie insbesondere auf die innere Bewegung, die Personen und Motive sowie die literarische Eigenart des Textes achten. Letztere sehen sie vor allem darin, dass die Einzelteile eine „stimmige, oft sogar notwendige Abfolge“15 zeigen. Daraus resultiert eine sehr einheitliche Sicht der Exoduserzählung und des Exodusbuches, der „Exodusrolle“16, als Ganzheit, die mit einer hohen Skepsis gegenüber allen diachronen Versuchen verbunden ist.17 G. Fischer und D. Markl lesen „Exodus als beabsichtigte, spannungsvolle Einheit“18.
Der Text als „literarisch-ästhetisches Subjekt“
Mit den genannten Kommentaren stimmt der vorliegende darin überein, dass er die synchrone Auslegung auf den überlieferten hebräischen Text bezieht. Diesen versteht er als „literarisch-ästhetisches Subjekt“19, d. h. als selbstständiges literarisches Werk, das auch ohne Rücksicht auf die Intention seiner Autoren und die Kenntnis der Geschichte seiner Entstehung sinnvoll gelesen werden kann. Die synchrone Auslegung in diesem Sinn gilt vor allem der literarischen Gestalt, der poetischen Gestaltung sowie den ästhetischen Wirkungspotenzialen des überlieferten hebräischen Textes. Dessen prägendes poetisches Grundmuster ist das der Erzählung. Es realisiert sich in den spezifischen Eigenschaften des althebräischen Erzählstils (z. B. Syntax, Textanfänge) ebenso wie in allgemeineren, auch in modernen Erzähltexten gebräuchlichen narrativen „Bauformen“.20 Synchrone Auslegung ist deshalb im Kern eine Darstellung des narrativen Profils der Exoduserzählung. Davon soll diese Einleitung einen ersten Eindruck vermitteln, der in den Einzelauslegungen für die größeren und kleineren Einheiten zu entfalten sein wird.
Textbildungsmuster
Die literarisch-ästhetische Auslegung richtet ihre Aufmerksamkeit auch auf historische Textbildungsmuster, d. h. Gattungen, Motive, Motivkonstellationen sowie Traditionen, die den Text geprägt und in ihm jeweils spezifische, individuelle Ausprägungen erfahren haben.21 Synchrone Auslegung im Sinne dieses Kommentars ist...