Zur Symbolik des priesterlichen Heiligtums
BERND JANOWSKI
In vielen Exodus-Kommentaren und Bibellexika finden sich Abbildungen, die die sog. »Stiftshütte« von Ex *25,1–40,38 detailgenau wiedergeben und in eine karge Wüstenlandschaft versetzen.1 Das ist eine spezielle Form der Rezeption, die zuweilen mehr über die Rezipienten als über die Autoren dieser Texte aussagt. Ob es dieses Bauwerk allerdings jemals gegeben hat oder ob es fiktional ist2 – mit B. Jacob tendiere ich zum Letzteren3 –, entscheidend ist der Sachverhalt, dass der Textkomplex Ex *25,1–40,38 ein Heiligtum beschreibt, das zwar »keinen historisch fassbaren örtlichen oder zeitlichen Bezug«4 hat, aber dennoch kein realitätsfernes Konstrukt, »kein reines Phantasiegebilde in dem Sinne (ist), dass der Verfasser losgelöst von jeder Wirklichkeit, sich alle diese Dinge ausgedacht habe«5. Vielmehr rekurriert die Priesterschrift auf traditionelle Elemente wie die Lade, die Keruben oder den Altar, denen sie im Rahmen ihrer Heiligtumskonzeption eine neue Bedeutung beilegt.6 Im Übrigen entscheidet sich die Frage des Realitätsbezugs von Ex *25,1– 40,38, wie Chr. Dohmen zu Recht betont hat,
»nicht an historischen und/oder materiellen Möglichkeiten der Verwirklichung dieses Konzepts, sondern kann und muss allein vom Kontext der Sinaiperikope her angegangen und entschieden werden«7.
Und sie sollte, wie ich hinzufüge, auch das Symbolsystem der priesterlichen Heiligtumskonzeption in die Betrachtung einbeziehen. In diesem Sinn wende ich mich zunächst der Komposition von Ex *24,15b– 40,38 (I) und danach der Frage nach ihrer symbolischen Bedeutung (II) zu. Am Schluss soll die Frage nach dem Realitätsbezug des priesterlichen Heiligtums noch einmal aufgenommen werden (III).
I. Zur Komposition von Ex *24,15b–40,38
»Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Und sie lagerten in der Wüste« (Ex 19,1.2aβ). Mit dieser Itinerarnotiz beginnt die priesterliche Sinaigeschichte Ex *24,15b–40,38,8 in der sich viermal die theologisch gewichtige Wendung šākan (»sich niederlassen, wohnen«) + Subj. JHWH / »Herrlichkeit JHWHs« / »Wolke« findet (Ex 24,16; 25,8; 29,45 f.; 40,35).9 Im Zentrum dieses großen Textkomplexes stehen, gerahmt von den beiden Berichten über das Erscheinen des kebôd JHWH auf dem Sinai (Ex 24,15b–18a) und seiner Gegenwart auf dem Zeltheiligtum (Ex 40,17.34 f.), die Anweisungen zum Bau des Heiligtums (Ex *25,1–31,18) sowie der Ausführungsbericht des Heiligtumsbaus (Ex *35,1–40,38). Die vier šākan-Texte stehen dabei an markanten Punkten des Erzählzusammenhangs:
24,15b–18a: Erscheinen des kebôd JHWH auf dem Sinai
24,15b | Und die Wolke bedeckte den Berg, |
16 | und die Herrlichkeit JHWHs ließ sich auf dem Berg Sinai nieder (šākan), |
| und die Wolke bedeckte ihn sechs Tage lang. |
| Und er (JHWH) rief Mose am siebten Tag mitten aus der Wolke. |
17 | Und die Erscheinung der Herrlichkeit JHWHs war wie ein verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges vor den Augen der Israeliten. |
18a | Und Mose ging mitten in die Wolke hinein, und er stieg auf den Berg hinauf. |
*25,1–39,43: Bau des Heiligtums
*25,1–31,18: Anweisungen + Ankündigung (Gottesrede)
25,8 | Sie sollen mir ein Heiligtum machen, |
| und ich werde in ihrer Mitte wohnen (šākan). |
9 | Entsprechend allem, was ich dir zeige, das Modell der Wohnstätte und das Modell all ihrer Geräte, |
| so sollt ihr (es) machen. |
29,43 | Dort werde ich den Israeliten begegnen, und er wird geheiligt werden10 durch meine Herrlichkeit. |
44 | Ich werde das Zelt der Begegnung und den Altar heiligen, und Aaron und seine Söhne werde ich heiligen, um mir Priester zu sein. |
45 | Und ich werde inmitten der Israeliten wohnen (šākan) |
| und ich werde ihnen Gott sein, |
46 | damit sie erkennen, dass ich JHWH, ihr Gott bin, der sie aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, um in ihrer Mitte zu wohnen (šākan). |
*35,1–40,33: Ausführung + Billigung + Segnung (Bericht)
39,32 | So wurde die ganze Arbeit an der Wohnstätte des Zeltes der Begegnung vollendet. |
| Die Israeliten hatten (sie) gemacht, entsprechend allem, was JHWH dem Mose geboten hatte, so hatten sie (es) gemacht. |
43 | Und Mose sah die ganze Arbeit, und siehe, sie hatten sie gemacht, wie JHWH geboten hatte, so hatten sie (sie) gemacht. |
40,*34–38: Gegenwart des kebôd JHWH auf dem Zeltheiligtum
40,34 | Und die Wolke bedeckte das Zelt der Begegnung, und die Herrlichkeit JHWHs erfüllte die Wohnstätte. |
35 | Und Mose konnte nicht in das Zelt der Begegnung hineingehen, denn die Wolke hatte sich auf ihm niedergelassen (šākan), und die Herrlichkeit JHWHs erfüllte die Wohnstätte. |
Während sich die šākan-Aussagen Ex 24,16 und Ex 40,35 jeweils in den Rahmenstücken 24,15b–18a und Ex 40,34 f. finden, gehören Ex 25,8 und Ex 29,45 f. zum Mittelstück (Ex *25,1–39,43) der priesterlichen Sinaigeschichte. Hier wiederum bildet die JHWH-Rede Ex 29,43–46 den sachlichen Höhepunkt:
Begegnen JHWHs
- 43 Dort werde ich den Israeliten begegnen, und er wird geheiligt werden durch meine Herrlichkeit.
- 44 Ich werde das Begegnungszelt und den Altar heiligen, und Aaron und seine Söhne werde ich heiligen, um mir Priester zu sein.
Wohnen JHWHs
Siglen: BF = Bundesformel, EF = Erkenntnisformel, HF = Herausführungsformel, SF = Selbstvorstellungsformel.
Diese JHWH-Rede stellt »eine pointierte Zusammenfassung der Gedanken von P über den Sinn des gesamten Heiligtums samt seiner Priesterschaft dar«11 und kann deshalb als Mitte der priesterlichen Sinaierzählung bezeichnet werden.12 Denn dieses Zeltheiligtum, dessen himmlisches »Modell« (tabnît)13 Mose auf dem Sinai gezeigt wird (Ex 24,15b–18a) und dessen Herstellungsanweisungen Ex 26,1–27,21 detailliert entfalten, ist nach Pg der irdische Ort, an dem JHWH inmitten seines Volkes »wohnen« (Ex 25,8) oder – wie Ex 29,43–46 formuliert – an dessen Eingang er den Israeliten »begegnen« will (jʿd nif. V. 43). Dabei führt in Ex 29,43–46 die thematische Linie vom jʿd nif. »begegnen, sich offenbaren« (V. 43) über das qdš pi. »heiligen« (V. 44) zu den šākan-Aussagen in V. 45a und V. 46aγ, denen mit ihren formelhaften Wendungen (Bundes-, Erkenntnis-, Selbstvorstellungs-, Herausführungsformel) eine rahmende Funktion zukommt. Mit diesem Stilmittel hat die Priesterschrift erreicht, dass das Wohnen JHWHs in Israel nicht als solches akklamiert wird, sondern dass es – und damit wird das Wohnen JHWHs auf seinen tiefsten Bedeutungsgehalt zurückgeführt – Ausdruck des Bundesgedankens von V. 45b (»und ich werde ihnen Gott sein«) ist:
»Dieser Bund ist eben keine abstrakte Idee, sondern Teil des Geschehens, das Israel an den Sinai gebracht hat. Nur deshalb kann und muss JHWH sich selbst – wie bei der Dekalogeröffnung – als Gott Israels durch die ›Herausführungsformel‹ (›der ich sie aus dem Land Ägypten herausgeführt habe‹) vorstellen. Wenn das Ziel der Herausführung aus Ägypten im Wohnen in der Mitte der Israeliten (so V. 46) – mittels des Heiligtums – besteht, dann entsteht daraus eine tiefe Fundierung für den künftigen Gottesdienst, insofern er die Freiheit der von JHWH Befreiten feiernd weiterträgt.«14
Schlägt man von dieser Sinnmitte der priesterlichen Sinaigeschichte einen Bogen zu der die Sinaierzählung abschließenden...