Einleitung: Das »T4-Reinhardt-Netzwerk«
In den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka wurden über anderthalb Millionen Juden insbesondere aus Polen, aber auch aus den Niederlanden, aus Frankreich, Deutschland und Österreich, aus der Tschechoslowakei, aus Jugoslawien und Griechenland, aus Weißrussland und Litauen getötet. Auch Sinti und Roma befanden sich unter den Opfern. Allein in den vier Monaten Juli bis Oktober 1942 wurden in den drei Vernichtungslagern über eine Million Menschen mit Motorenabgasen ermordet. Die Lager der »Aktion Reinhardt« übertrafen somit die Opferzahl des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, das auch in den mordintensiven Monaten im letzten Kriegsjahr nicht die täglichen Opferzahlen des Lagers Treblinka erreichte. Dennoch wird die Bedeutung der »Aktion Reinhardt« angesichts der Rolle von Auschwitz als Symbol für den Massenmord an den europäischen Juden häufig unterschätzt.
Der Großteil der verantwortlichen Akteure hatte bereits Erfahrung mit dem Töten: Die Leitungsmannschaften der Lager wurden fast ausschließlich durch Personal der »Euthanasie«-Anstalten und der Berliner T4-Zentrale1 gestellt. Nach Vereinbarungen zwischen der Kanzlei des Führers (KdF) und dem SS- und Polizeiführer (SSPF) von Lublin wurden die etwa 120 Männer in das Generalgouvernement geschickt und bestimmten in den zwei Jahren der Existenz der Lager maßgeblich das dortige Geschehen. Beim Auf- und Ausbau der Lager sowie der Entwicklung der Tötungsstrukturen verfügten sie über einen großen Handlungsspielraum. Zur Umsetzung des mörderischen Projekts bedienten sie sich der »Trawniki«-Wachmänner und der zur Arbeit gezwungenen »Arbeitsjuden«.
Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht die Frage, wie eine Gruppe von Tätern die Vernichtung der Juden geplant und umgesetzt hat und welche Faktoren die »Effektivität« des Massenmords in diesen Lagern bewirkt haben. Sie ist verbunden mit der Frage nach den Umständen, die aus Menschen Massenmörder machten. Dabei soll mit der Vorstellung der Vernichtungslager als industrialisierte »Todesfabriken«,2 die mit ihren Fließbändern weitgehend ohne verantwortliche Täter und ohne direkte Gewaltanwendung auskommen, gebrochen werden. Dass die verharmlosende Metapher einer Vernichtungsmaschinerie nicht der gewaltsamen Realität entsprach, war auch führenden Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels bewusst, der in seinem Tagebuch den alltäglichen Massenmord in Belzec als ein »ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren«3 bezeichnete.
Im Fokus dieser Studie stehen daher die Täter und die Strukturen. Das Interagieren der Täter in der Gruppe sowie das Ineinandergreifen und die Vernetzung der personellen und institutionellen Ebenen sowohl innerhalb der Lager als auch nach außen sollen methodisch mithilfe des Netzwerk-Konzepts untersucht werden. Das Netzwerk-Konzept bietet die Möglichkeit – wie es der Rechtswissenschaftler Herbert Jäger ausdrückte –, die »individuellen Taten und Tatbeiträge« mit dem »Kollektivnetz des Verbrechens«4 wieder zusammenzuführen, das heißt, Täter und Tat, Organisation und Lager als eine miteinander verbundene Einheit zu sehen. Zudem kann auf diese Weise die Kollaboration verschiedener deutscher wie auch ausländischer Gruppierungen bei der Ermordung der Juden analytisch mit einbezogen werden. Die Frage nach den institutionellen und personellen Kontexten der Täter des Massenmords beschäftigt die Täterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1990er Jahren unter unterschiedlichen Aspekten. Das dieser Arbeit zugrunde liegende Konzept des Netzwerks wurde bislang in diesem Zusammenhang nicht angewandt.
Zur Täterforschung
Hinsichtlich der Frage, welche Merkmale die Täter aufwiesen, die den NS-Massenmord in einem derartigen Ausmaß ermöglicht haben, schwankten die Argumentationen bis in die 1990er Jahre zwischen zwei Extremen, die an den alten Streit zwischen Intentionalisten und Strukturalisten erinnern. In der einen wurden die NS-Täter »dämonisiert«, zu pathologischen Sadisten und Asozialen erklärt und als solche nicht mehr als »normale« Elemente der deutschen Gesellschaft, sondern allenfalls als »gescheiterte Randexistenzen« wahrgenommen. Täter, die von ihrer Persönlichkeit scheinbar nicht in dieses Konzept passten, wurden mit dem Bild der gespaltenen Persönlichkeit eines »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« beschrieben. Dieser Blick auf die Täter war in der Öffentlichkeit sehr präsent und wurde auch durch die Erfahrungen der Opfer und das Ausmaß der von ihnen erlittenen Gewalt geprägt.5 Die entgegengesetzte Argumentation stützte sich auf ein »funktionalistisches Täterbild«.6 Dieses anonymisierte die Verbrechen, tendierte dazu, die Institutionalisierung des Massenmordes zu betonen, und vernachlässigte dabei die aktive Beteiligung von Personen. Die Täter wurden als angepasste Funktionäre oder verführte Idealisten beschrieben, die in stark hierarchisierte Strukturen eingebunden waren. Ihnen wurde zwar der Vorwurf gemacht, einen »politischen Irrtum« begangen zu haben, aber keine Schuld am Massenmord zugesprochen, weil davon ausgegangen wurde, dass sie – insbesondere aufgrund von Befehls- und Unterordnungszwängen – nicht anders hätten handeln können. Solche durch die NS-Prozesse und die Verteidigungshaltung der Täter geförderten Argumentationen und Konzepte versuchten der Tatsache Rechnung zu tragen, dass neben den zahlreichen »passiv« Beteiligten eine ebenso unüberschaubare Anzahl von SS-Männern, Polizisten und Verwaltungsangehörigen auch aktiv an den NS-Verbrechen beteiligt war. Die Täter selbst, ihre Handlungsspielräume und ihre unterschiedlichen Interessen an der Beteiligung am Massenmord wurden in diesen Erklärungsansätzen ausgespart; stattdessen wurden sie als motivlose, autoritätshörige und unterwürfige Marionetten ohne eigenen Willen, als einfache Glieder einer anonymen Vernichtungsmaschinerie wahrgenommen.7
In den 1990er Jahren hat sich die Täterforschung von diesen monokausalen, letztlich nicht überzeugenden Argumentationen gelöst und versucht seither immer mehr, sowohl Intentionen als auch Persönlichkeitsdispositionen sowie die soziale Praxis und situative Dynamiken in die Analyse mit einzubeziehen. Der Historiker Gerhard Paul hat aus den verschiedenen bisher erschienenen Studien zusammenfassend verschiedene Typologien der Täter entwickelt, die naturgemäß Idealtypen darstellen: »Weltanschauungstäter« wussten und wollten, was sie taten, und verstanden sich als »Exekutoren der rassistischen NS-Weltanschauung«. »Utilitaristisch motivierte Täter« sahen Juden vor dem Hintergrund antisemitischer Vorprägung in der Kriegssituation als »überflüssige Esser«. »Kriminelle Exzesstäter« begingen ihre Taten aus niederen sexuellen und materiellen Motiven und nutzten hierfür den staatlich propagierten Antisemitismus. Als weitere Typen hat Paul die »traditionellen Befehlsempfänger« identifiziert, wie sie Browning mit seinen ordinary men untersucht hat, die »willigen politischen Konformisten«, welche die sich durch den Nationalsozialismus bietenden Gelegenheiten nutzten, um Karriere zu machen, sowie die reinen »Schreibtischtäter«.8 Der amerikanische Soziologe Michael Mann versuchte die Täter in ähnlicher Weise als peculiar people (eigenartige Menschen) und ordinary people (normale Menschen) zu klassifizieren: Peculiar people handelten aus ideologischen Motiven; in diese Kategorie fielen auch Personen mit gestörter Persönlichkeit, die ein sadistisches Verhalten an den Tag legten. Ordinary people bestanden aus vier Untergruppen: die ordinary bigoted, die engstirnigen (antisemitischen) Täter wie bei Goldhagens ordinary Germans; die ängstlichen und konformistischen Täter, wie sie auch Browning herausgearbeitet hatte, die unter Hierarchie- und Kameradschaftszwängen handelten; moderne Bürokraten, die mechanisch, rational und unpersönlich mordeten, sowie gewöhnliche Männer, die eigennützig nach materiellen Vorteilen oder nach Karriere strebten.9
Die Täterstudien haben deutlich gemacht, dass sich alle Segmente der deutschen Gesellschaft am Völkermord beteiligt haben. Keine soziale Schicht, kein Berufsfeld, auch nicht der akademische Bereich waren frei von Tätern. Jede Berufsschicht nutzte die neuen Möglichkeiten, die ihr der Nationalsozialismus bot: Ärzte experimentierten, promovierte Juristen übernahmen die Schaltpositionen in der Verwaltung, Polizisten weiteten ihre Handlungsfelder aus. Gerade die oberen sozialen Schichten, insbesondere das akademische Bildungsbürgertum, wurden in den letzten Jahren in der Täterforschung in den Blick genommen, weil hier Schlüsselpositionen und damit eine größere Verantwortung für die Ingangsetzung, Planung und Durchführung der Morde vermutet wurden. Doch auch die...