Buch lesen
EINLEITUNG:
Hallo Familienbande – warum es sich lohnt, zu gucken, wo wir herkommen
In diesem Buch geht es einerseits um Familien. Um den Teil der Familie, mit dem wir es unmittelbar zu tun haben, also unsere Eltern, Großeltern und Geschwister. Und um den Teil der Familie, den wir kaum kennen und oft gar nicht im Blick haben, also unsere Vorfahren und Ahnen, die uns unbewusst ebenfalls mit prägen.
Auf der anderen Seite geht es in diesem Buch um Sie selbst. Um die Momente, in denen Sie das Gefühl haben, dass Sie sich selber blockieren und sabotieren oder sich schlicht nicht so verhalten, wie es eigentlich gut wäre für Ihr persönliches Glück, für Erfolg im Job oder eine gelingende Beziehung. Momente, in denen man sich selbst im Weg steht, kennt so gut wie jeder Mensch. Die allermeisten wissen sofort intuitiv, was gemeint ist, wenn ein Schlagwort wie Selbstsabotage fällt, und verbinden damit bestimmte Situationen. Etwa dieses eine gut bezahlte und interessante Jobangebot vor ein paar Jahren, das man aus fadenscheinigen und im Nachhinein nicht nachvollziehbaren Gründen abgelehnt hat. Oder diese eine große Liebe, die man durch ständige, unnötige und kleinliche Streitereien ruiniert hat. Oder man denkt an eigene Herzenswünsche, die man aus einem unerfindlichen Grund nicht verfolgt und stattdessen ein Leben führt, dass sich zwar irgendwie okay, aber auch ein wenig fremdbestimmt anfühlt.
In meiner Praxis habe ich immer wieder festgestellt, dass viele Themen rund um Selbstsabotage und innere Blockaden sich letztlich auf eine Wurzel zurückführen lassen: Sie hängen unmittelbar mit den Kräften und Dynamiken zusammen, die aus unseren Familien über mehrere Generationen auf uns einwirken. Denn oft halten wir uns unbewusst an das, was unsere Eltern, Großeltern und Ahnen uns vorgelebt haben, was sie uns quasi an Werten, Ideen und Verhaltensregeln über die Generationen hinweg weitervererbt haben.
Durch die weite Verbreitung und die Akzeptanz der systemischen Therapieansätze und zum Teil auch der Familienaufstellung gehört es mittlerweile zum Allgemeinwissen, dass unsere unmittelbaren Familienkonstellationen – etwa das Verhältnis unserer Eltern zueinander oder deren Beziehung wiederum zu ihren Eltern – auch Auswirkungen auf unser Leben haben und Teile unserer Schwierigkeiten und Lösungsideen, unserer Stärken und Schwächen mit begründen.
Der Ansatz, den ich verfolge und den auch einige andere Kollegen aus der systemischen Therapie und Beratung und aus der Psychoanalyse auf ähnliche Weise vertreten, geht aber noch einen Schritt weiter: Auch die Ahnen, also Familienmitglieder aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert prägen unser Leben und unsere Lebensentscheidungen, unsere Gefühle und unsere Vorlieben und Abneigungen mit. Letztlich wirken zum Teil sogar die Erfahrungen und Regeln unserer gesamten Sippe, also der großen Gruppe von Menschen, mit denen wir durch die Jahrhunderte hinweg verwandt sind, noch immer auf uns ein und prägen unser Leben.
Im meiner über 20-jährigen praktischen Erfahrung mit Familienstrukturen und in der Arbeit mit Genogrammen – also den grafischen Darstellungen von Ahnenreihen und Familienkonstellationen – ist mir immer wieder aufgefallen, dass das bewusste Aufspüren der Regeln in der eigenen Sippe sehr kraftvolle Veränderungsprozesse anstoßen kann, Blockaden löst und oft ein ganz neues Licht auf die Frage wirft, warum wir an manchen Punkten im Leben immer wieder die gleichen scheinbar unsinnigen Entscheidungen treffen, die gleichen Fehler machen, die gleichen Blockaden, Schwierigkeiten oder belastenden Konstellationen erleben. Bei sehr vielen meiner Klienten habe ich gesehen, wie sie durch die Arbeit am eigenen Genogramm bestimmte Selbstsabotagemechanismen loslassen und bisher immer wiederholte Verhaltensmuster hinter sich lassen konnten.
Anders als die meisten systemischen Schulen geht es in meinem Ansatz daher auch zentral um folgende These: In unserem Leben treibt uns unbewusst der Wunsch, zu unserer eigenen Familie und auch zu unserer weiteren Sippe dazuzugehören. Dieser Wunsch nach Nähe und Zugehörigkeit beeinflusst uns so stark, dass wir dafür zum Teil in lebenslangen Ambivalenzen leben, uns viel häufiger, als wir vermuten, gegen unsere persönliche Überzeugung, aber für die Norm der Sippe entscheiden oder uns in unserem gesamten Lebensweg unbewusst von der Frage leiten lassen, ob er letztlich zu den Zielen, Normen und Werten unserer Ahnen passt.
Dass Arztkinder selbst wieder Ärzte werden, obwohl sie vielleicht auch noch andere Berufswünsche hätten, ist da eher ein plakatives Beispiel. Ein anderes Muster findet man häufig bei Akademikerinnen, die als erste und einzige Frauen ihrer gesamten Familie studieren oder beruflich erfolgreich sind. Sie leiden oft unter großen Unsicherheiten, glauben, dass sie ihren Erfolg nicht verdient haben, bleiben oft lebenslang trotz bester Leistungen scheu und defensiv und können das, was sie sich im Leben erarbeitet haben, auch nicht genießen. Dieses sogenannte Hochstapler-Syndrom wurde in mehreren Studien untersucht und seine Existenz wurde besonders bei erfolgreichen Frauen aus Nicht-Akademikerfamilien bestätigt.1 Auch in meiner Arbeit mit Familiendynamiken begegnet mir diese Konstellation immer wieder: Frauen, die als Einzige in der Familie studieren, sind durch die »einsame Spitze« verunsichert, fühlen sich häufig gebremst und entscheiden sich dann irgendwann scheinbar aus einem reinen »Bauchgefühl« gegen einen noch weiteren Karriereschritt. Bei manchen mag echte Intuition dahinterstecken. Bei einigen ist der unbewusste Druck, sich zu weit von der eigenen Familie zu entfernen, einfach zu massiv geworden. Und zwar auch dann, wenn sie von ihren Eltern und ihrer Familie im Alltag wohlwollend bestärkt werden. Oft wirkt eine rein irrationale Angst, aus der eigenen Sippe zu fallen, wenn man anders ist als die anderen.
Diese Sichtweise ist für viele Menschen spannend und schlüssig, für andere erst einmal gewöhnungsbedürftig und ein wenig unlogisch. Im Laufe des Buches erkläre ich deshalb zunächst grundsätzlich, welche Mechanismen in der Sippe meiner Auffassung nach wirken, und lege außerdem dar, welche Dynamiken und Muster mir in der Arbeit mit Genogrammen immer wieder begegnet sind. Ich werde mit zahlreichen Beispielen aus meiner Praxis arbeiten, aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse hinzuziehen und so ergänzende und erweiternde Schlaglichter auf andere, verwandte Disziplinen und Denkschulen werfen. In einem ersten Teil werde ich in drei kurzen Kapiteln einen Überblick über die grundlegenden Annahmen meines Ansatzes zu Sippen, Familien und den dort wirkenden Prinzipien geben.
Dabei geht es im ersten Kapitel ganz grundlegend um die Wirkung von Sippenstrukturen auf einzelne Person und um einen der beherrschenden Schlüsselsätze in allen Sippen, nämlich: »Bist du anders, bist du tot.«
Im Kapitel zwei dreht sich dann alles um die Frage, warum wir in unserem Handeln oft nicht klar und rational sind, sondern uns von unbewussten Impulsen leiten lassen. So sehr, dass wir zum Teil beinahe wie fremdgesteuert handeln, etwa, wenn wir eine gute berufliche Chance oder Kontaktangebote von Menschen, die wir eigentlich anziehend finden, nicht wahrnehmen. In diesem Kapitel wird es auch darum gehen, wie man dieses unbewusste Handeln verändern kann.
Im Kapitel drei stelle ich zunächst ein paar Grundsätze aus der Genogrammarbeit vor und beleuchte, woher das Arbeiten mit dem Genogramm kommt und wie es heute genutzt wird. Ich zeige auch, wie man selbst solche Familienstammbäume aufzeichnen kann und sich so auch als Laie zumindest einen ersten Eindruck über die eigene Familie und die dort wirkenden Dynamiken verschaffen kann. In einem Extrakasten stelle ich auch meine konkrete Arbeitsweise dar und skizziere den Ablauf einer typischen Beratungssitzung.
Auf diesen kurzen, eher theoretischen Teil folgt ein Teil mit Fallbeispielen (Teil zwei: Belastungen und Blockaden überwinden). Ich umreiße dort verschiedenste Lebenssituationen und beleuchte, welche Genogramm-Konstellationen sich dahinter typischerweise verbergen können. Es geht etwa um die Bedeutung der Herkunft für den eigenen Berufsweg und für die Qualität der eigenen Beziehungen, den Einfluss des Genogramms auf die Befindlichkeit von Kindern. Weiter werde ich anhand von Beispielen zeigen, wie sich Adoptionen und Patchwork-Konstellationen auf Einzelne und auf das Familiensystem auswirken können, warum sich bestimmte Marotten und ernste Probleme wie eine Neigung zur Sucht oder zur Gewalttätigkeit anscheinend in manchen Familien immer weiter »vererben«. Es wird hier auch ein Unterkapitel zu dem Thema geben, wie die Erlebnisse unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern während der Weltkriege unser Leben, Denken und Fühlen bis heute beeinflussen.
Dieser ausführliche Praxisteil ist das Herzstück des Buchs und dient natürlich auch dazu, dass Sie selbst ein Gefühl dafür bekommen können, wie Ihr Genogramm und Ihre Lebenssituation miteinander zusammenhängen könnten. Dabei hilft das Verstehen und Erkennen von solchen tiefen Mustern häufig schon, die damit verbundenen Blockaden und Mechanismen zu schwächen und den Grundstein für die Entwicklung von neuen Verhaltensweisen zu legen.
In einem abschließenden Ausblick beschreibe ich, welche Möglichkeiten es gibt, sich aus den festen Sippenmustern zu verabschieden. Und wie man ein selbstbestimmtes Leben führen kann – obwohl man sich der Tatsache bewusst ist, dass unsere Familien uns manchmal stärker prägen, beeinflussen und belasten, als uns das lieb ist.
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