Die Härte der Erfahrung
Zweite Meditation
In der christlichen Frömmigkeitsgeschichte hatte die Klage über lange Zeit kein Recht. Erlösung war Erlösung von der Sünde. Wer hingegen mit seinem Los haderte und sich nicht auf sein Sündersein festlegen ließ, wer sich gar gegen Gott empörte, musste sich den harschen Vorwurf anhören, der Sünde nur ihren Lauf zu lassen: Anstatt demütig sein Sündersein zu bekennen, lehnt sich der Mensch gegen seinen Schöpfer auf und versteift sich darauf, so sein zu wollen wie Gott. So jedenfalls hat es die Theologie dem Menschen eingeschärft. Und dies ging so weit, dass sie die Traurigkeit (die ›acedia‹) zu einer der Todsünden erklärte.
Umdenkprozesse. Humane Selbstbehauptung gegen den Sündengott
Aufgeschreckt durch das maßlose Verbrechen, für das der Name Auschwitz steht, hat Johann Baptist Metz darauf bestanden, dass es das Vermissen Gottes sei, welches im Zentrum der biblischen Gottesrede stehe. Unter dem Eindruck der Lehre des Augustinus sei Erlösung nur noch als Erlösung von der Sünde in den Blick gekommen.6 Paradiesische Zustände am Anfang, dann der Mensch, der mit seiner Sünde, seinem Seinwollen wie Gott, Chaos in die an sich gute Schöpfung bringt, schließlich Gott, der sich im Kreuzesopfer Genugtuung verschafft, sodass zwar nicht die Rückkehr ins alte Paradies, wohl aber der Einzug in ein neues Paradies, für das der Name Himmel steht, wieder möglich wird. Ob dies den biblischen Schöpfungsgeschichten abzulesen ist, muss hier dahingestellt bleiben. Ich begnüge mich mit dem Hinweis, dass sie keine Erzählung von einem Urstand kennen, wie diese dann von der dogmatischen Tradition geprägt wurde. Die biblischen Mythen ringen mit der faktischen Situation des Menschen, und: Sie erzählen ein gutes Ende. Um die geschichtliche Gegenwart verstehen zu können, ist aber wichtig, zu sehen, dass sie als eine Erzählung von einem guten Urzustand und dem Fall des Menschen ausgelegt wurden und infolgedessen eine entsprechende Wirkungsgeschichte entfalteten.
Man wird kaum bezweifeln können, dass im Gefolge der konkreten Ausmalung, unter welchen Bedingungen man denn nun Eingang in dieses neue Paradies finden könne, eine religiöse Vorstellungswelt entstand, die sich in nichts von anderen Topographien des Terrors unterschied. Historisch betrachtet, hat der Glaube natürlich auch humanisiert. Das Konzept einer egalitären Menschenwürde, wie es dann als allgemeines Vernunftrecht in der europäischen Aufklärung definiert wurde, ist in seiner geschichtlichen Entstehung ohne biblisch-religiöse Hintergründe kaum begreiflich zu machen. Dem als Ebenbild Gottes geglaubten Menschen musste in der Konsequenz eine ungeheure Würde zugestanden werden. Die Kindertaufe hat wesentlich zum Schutz von Kindern beigetragen, und so unfasslich es bis heute ist, dass sich maßgeblich als christlich verstehende Länder in den Kolonien unvorstellbare Verbrechen begangen haben: Das theologisch erlangte Bewusstsein von der unbedingten Würde eines jeden Menschen vor Gott musste schließlich die Praxis der Sklaverei dann doch wieder in Frage stellen.
Möglicherweise entfaltete der Weihnachtsglaube in dieser Hinsicht, das heißt in der Sozialisierung der Vorstellung von einer allgemeinen Menschenwürde, noch eine stärkere Bedeutung als schon die Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit. Muss nicht dem, was von Gott selbst dadurch angenommen wurde, dass er selbst in es einging, eine unendliche Würde zukommen? Ist nicht das Menschsein dadurch unendlich göttlich gewürdigt, dass nun Gott selbst nicht mehr ohne sein Menschsein zu denken ist?
Diese weihnachtliche Würdigung des Menschen zeigte zwar ihre Wirkung. Aber sie bestimmte damit noch lange nicht das, was sich dann theologisch und vor allem in der Frömmigkeitspraxis als Erlösungsglaube durchzusetzen vermochte. Maßgeblich und immer wieder war es die von Adam her ererbte Sünde, die definierte, was unter Erlösung zu verstehen sei. Augustinus hat diese Sünde erfunden, Luther – um nur einen der wichtigsten Theologen der Christentumsgeschichte zu nennen – ist ihm wie selbstverständlich gefolgt: Wir seien »jm Paradis durch die erste sünde Adams … gestraffet worden.« Und diese Sünde heiße darum Erbsünde, da »wir sie nicht gethan haben«, wir sie »mit uns von unseren eltern« herbrächten, sie uns aber nicht weniger »zu gerechnet« würde, »denn als heten wir sie selbst gethan«.7 Dies verstehe, wer will – ich kann es nicht. Und manchmal denke ich, dass man in dem Moment, in dem man den bis heute zumindest rhetorisch gepflegten ökumenischen Konsens in der Sündenfrage aufbrechen würde, auch in anderen ökumenischen Fragen mit Leichtigkeit vorankäme. Fatal waren jedenfalls die Folgen dieser Fixierung des Menschen auf sein angeblich durch und durch sündhaftes Wesen. Dass nur eine begrenzte Anzahl von Menschen aus der in ihrer Gesamtheit unter dem Joch der Sünde stehenden Menschheit gerettet werde, gehört ebenso zum Gemeingut christlichen ›Wissens‹. Augustinus hat für die »mitleidigen Seelen«, die es mit der Vorstellung nicht aushielten, dass die Mehrheit der Menschen ewige Höllenqualen erleiden würde, nur Spott übrig gehabt.8 Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Christentum die von ihm berührte Menschheit in Angst und Schrecken versetzte, und es in dem Moment in eine Glaubwürdigkeitskrise geriet, als man begann sich zu besinnen – und Elend, aber eben auch Größe des Menschen wiederentdeckte.
Ob seine historisch etablierten Ausgestaltungen dem ursprünglichen Evangelium entsprachen, sei dahingestellt. Sucht man zu verstehen, warum es diesen teils empörten, größtenteils aber stillschweigenden Auszug aus einer über viele Jahrhunderte währenden Glaubenstradition gab, so wird man auf die Unmenschlichkeit dieses Gottesbildes verweisen müssen. Der moderne Unglaube hat eine Vorgeschichte, und diese Vorgeschichte ist auch eine theologische.
Wie stark die sündenfixierte Rede von Erlösung gewirkt hat, lässt sich bis in christentumskritische Kreise der Gegenwart hinein beobachten. Stereotyp kommt die Vorstellung ins Spiel, dass Christus gestorben sei, um die Sünde des Menschen zu sühnen. Dies sei doch angeblich Gottes ›Barmherzigkeit‹, dass er seinen einzigen Sohn hingegeben habe, um sich mit der Menschheit versöhnen zu können. Aber ich bin unsicher, ob diese Auskunft auch innerlich noch verstanden wird. Traditionen können auch da wirkmächtig sein, wo sie existentiell kaum noch oder gar nicht mehr nachvollzogen werden können. Der melancholische Agnostizismus der Gegenwart, aber auch das Abwandern der religiösen Sehnsucht in nichtchristliche Religiositäten bilden Reaktionsmuster auf diese innere Nicht-Akzeptanz.
Dabei ist, wie mit Metz bereits angedeutet wurde, zu fragen, ob die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen wirklich auf die Sünde – was immer denn ›Sünde‹ überhaupt meint – begrenzt werden darf. Es müssen nicht erst die großen Katastrophen der Menschheitsgeschichte herbeizitiert werden, um die Verwiesenheit des Menschen auf einen rettenden Gott zu zeigen. Angesichts dieser Katastrophen zeigt sich nur endgültig, wie sehr der Mensch auf einen rettenden Gott verwiesen ist.
Der gottesbedürftige Mensch
Denn der Mensch ist ein eigentümliches, in gewisser Weise in sich widersprüchliches Wesen. Es ist in ihm grundgelegt, ja, er ist als Mensch geradezu verpflichtet, sich selbst zu überfordern. Er ist nicht nur, sondern er bestimmt sich in dem Rahmen, der ihm gegeben ist, selbst. Tut er dies – und er tut dies unvermeidlich –, übersteigt er alles Endliche. Damit will ich nicht sagen, dass er dann bereits auf eine Transzendenz aus ist, die man Gott nennt. Sondern zunächst ist damit nur gesagt, dass auch das Endliche in unbedingter Weise gewählt und gewollt werden kann. Natürlich kann der Mensch sich auch in der Banalität einrichten, sich in seinen Möglichkeiten auf das verkürzen, was risikofrei ist. Aber das bedeutet auch, arm zu bleiben. Wer sich scheut, Risiken einzugehen, der lebt langweilig. Riskant zu leben, das heißt: tatsächlich zu wählen und damit andere Möglichkeiten auszuschließen, sich so eine selbst gewählte Identität zu geben, hat nichts mit Friedrich Nietzsches Devise zu tun, wild und unersättlich zu leben und in eins damit das »Dasein«, das heißt die Welt, so zu bejahen, wie »es ist, ohne Sinn und Ziel […], ohne ein Finale ins Nichts«9. Gemeint ist nur, tatsächlich zu wählen und darin scheitern zu können. Schnell leuchtet dies für die Dimension unseres Menschseins ein, in der sich unser Menschsein am eindringlichsten zeigt – in der Fähigkeit Freundschaften eingehen, gar lieben zu können. Wer hier nichts riskiert, wird einsam bleiben; wer sich aber tatsächlich riskiert, kann darin scheitern.
Doch wer einmal wahrhaft geliebt hat, hat auch die Erfahrung gemacht, was dies bedeutet, nämlich keine Grenze akzeptieren zu wollen. Liebende wollen sich in ihrer Liebe bedingungslos. Keine Grenze soll sein. Auch wenn das Scheitern dieser Liebe schließlich konstatiert wird, sich tiefe Enttäuschung breitmacht oder aber die Sehnsüchte sich nicht mehr gestillt sehen, ist es dieses unbedingte Wollen, das im Hintergrund weiter schwelt und diese Erfahrung erst möglich macht. Nur wer sich im Unbedingtheitsmodus versucht, kann auch maßlos scheitern. Man nennt diesen Modus auch Freiheit.
Und realistisch betrachtet, scheitert der Mensch, drastischer formuliert: Der Mensch ist ein an seinen eigenen Versprechungen ›scheiterndes Tier‹. Er scheitert zunächst an seinen vielen...