2 Behandlungsmanual FIPA (Familienintervention bei Menschen mit Psychose und Abhängigkeitserkrankung)
2.1 Allgemeines
2.1.1 Entwicklung der Familienintervention
Die FIPA-Intervention für Angehörige (FIPA: Familienintervention bei Menschen mit Psychose und Abhängigkeitserkrankung) wurde als Ergänzung zum Behandlungsprogramm für stationäre, teilstationäre und ambulante Patienten mit Psychose (Schizophrenien sowie vorübergehende psychotische Störungen mit schizophrenieähnlichen Symptomen) und komorbider Substanzstörung an der LVR-Klinik Köln entwickelt und erstmalig im Jahr 2013 implementiert. Die auf einer offen geführten, allgemeinpsychiatrischen Station mit dem Behandlungsschwerpunkt »Doppeldiagnose Psychose und komorbide Substanzstörungen« behandelten Patienten1 nehmen dort seit 2009 in einem gruppentherapeutischen Setting an einer Motivationsgruppe zur Förderung der Abstinenzmotivation, an einer psychoedukativen Gruppe (KomPAkt) und einer verhaltenstherapeutischen Gruppe zur Entwicklung von abstinenzbezogenen Skills (KomPASs) teil. Für eine detaillierte Beschreibung des Therapieprogramms mit Manualen für die Psychoedukation und Verhaltenstherapie siehe Gouzoulis-Mayfrank (2007). Das Behandlungsprogramm wurde bereits im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie im Vergleich zu einer Standardbehandlung erfolgreich evaluiert (Gouzoulis-Mayfrank et al. 2015).
Im Behandlungsalltag wurde deutlich, dass sich viele Angehörige einerseits von den Erkrankten distanziert hatten bzw. nicht kontaktierbar waren, andererseits aber auch ein großes Bedürfnis nach Aufklärung über die Erkrankung und sehr großen Leidensdruck im Umgang mit den Erkrankten aufwiesen. Zunächst zu einzelnen Beratungsterminen eingeladen, wurde schnell deutlich, dass Angehörige eine Vielzahl von Fragen an das multiprofessionelle Behandlerteam richteten. Darüber hinaus konnte häufig beobachtet werden, dass die Beziehung zwischen Patienten und ihren Angehörigen erheblich zerrüttet war, was sich in einer gegenseitigen Vorwurfshaltung und konfliktreichen Kommunikation niederschlug. Kurzum: die Einbeziehung von Angehörigen in die Behandlung erschien bei Doppeldiagnose-Patienten therapeutisch sowohl sinnvoll als auch notwendig, um die Behandlung der Patienten zu optimieren und den Leidensdruck der Angehörigen zu reduzieren. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, entschieden wir uns zu einer standardisierten Einbeziehung der Angehörigen in das bereits bestehende integrierte Behandlungsprogramm für Doppeldiagnose-Patienten.
Nach der Sichtung der Literatur wurde deutlich, dass die bis dahin publizierten Behandlungsmanuale ihren Schwerpunkt meist auf die Psychoedukation legten und weitere Problemfelder wie die emotionale Atmosphäre zwischen Erkrankten und Angehörigen unberücksichtigt ließen. Nur ein englischsprachiges Manual beinhaltete ein therapeutisches Vorgehen, bei dem Patienten und ihre Angehörigen gemeinsam an der Veränderung störungsspezifischer Problemfelder arbeiten (Mueser et al. 2003). Dieses erschien aber zu umfangreich und von zu langer Dauer, um für die Routineversorgung praktikabel zu sein ( Kap. 1.5). Die Konzeption einer neuen, zeitökonomischeren und damit praktikablen Intervention erschien notwendig.
Dazu wurden einzelne, in der Literatur beschriebene Elemente von Interventionen identifiziert und entsprechend ihrer Anwendbarkeit modifiziert. Das daraus entstandene Behandlungsprogramm für die Angehörigen von Doppeldiagnose-Patienten sollte
• den Bedürfnissen der Teilnehmer gerecht werden,
• flexibel, einfach zugänglich und zeitökonomisch anwendbar sein.
Es wurde entschieden, in der Intervention neben der üblichen Psychoedukation auch eine Anregung zur Selbstfürsorge für die Angehörigen anzubieten, sowie gemeinsam mit Angehörigen und Erkrankten einen Plan zur Rezidivprophylaxe zu verschriftlichen sowie Hilfen für die Verbesserung der wechselseitigen Kommunikation anzubieten. Es entstanden die vier Module
(1) Doppeldiagnose Psychose und komorbide Substanzstörung, Zusammenhänge zwischen beiden Erkrankungen und ihre Behandlungsmöglichkeiten,
(2) Einflussmöglichkeiten der Angehörigen auf die Erkrankung und Umgang mit Belastungen, die aus der Erkrankung entstehen,
(3) Rezidivprophylaxe und
(4) Kommunikationstraining.
Somit werden im hier vorgestellten Behandlungsprogramm psychoedukative, beratende und übende Verfahren miteinander kombiniert.
2.1.2 Zielgruppen
Die Familienintervention FIPA ist für Gruppen von bis zu vier Patienten mit psychotischer Störung und komorbider Substanzstörung und jeweils 1–2 Angehörigen pro Patient konzipiert. Sie kann von Ärzten, klinischen Psychologen sowie durch speziell geschulte andere Berufsgruppen durchgeführt werden, die Erfahrung in der Psychotherapie haben und sich in der Behandlung von DD-Patienten spezialisiert haben. Unter »Angehörigen« verstehen wir Familienmitglieder, Lebenspartner oder auch enge Freunde der Erkrankten, die einen positiven Einfluss auf die Behandlung und den Krankheitsverlauf haben können. Je nach Ausbildung der Gruppenleiter muss für das psychoedukative Modul ein Arzt hinzugezogen werden. Die teilnehmenden Patienten sollten idealerweise bereits an einer störungsspezifischen Behandlung teilgenommen haben bzw. aktuell in Behandlung sein, um ihrerseits ausreichend Krankheitseinsicht, Angebote zur Förderung der Abstinenzmotivation und Veränderung konsumtypischen Verhaltens neben medikamentöser Behandlung zur Verfügung zu haben.
2.1.3 Setting, Umfang, Materialien, therapeutische Grundhaltung
Das Behandlungssetting der vorliegenden Intervention ist halboffen, d. h. die Gruppen sind für die Teilnahme an einem Modul geschlossen, bei Beginn eines neuen Moduls können jedoch auch neue Angehörige bzw. Angehörige und Patienten aufgenommen werden. Dies soll ein Mindestmaß an Vertrautheit und Gruppenkohäsion ermöglichen. Eine mehrmalige Teilnahme an einzelnen oder auch allen Modulen ist möglich. Die Teilnehmer bekommen nach jeder Sitzung ein Handout ausgehändigt, in dem die wesentlichen Inhalte und Abbildungen aufgeführt sind, um das erworbene Wissen bzw. erlernte Kommunikationstechniken zu vertiefen und einen Plan zur Maßnahmenergreifung bei Rezidiven zur Hand zu haben. Kopiervorlagen der Handouts können als Online-Zusatzmaterial heruntergeladen werden (siehe Hinweis auf S. 6).
Als Durchführungsorte eignen sich geschlossene Räume mit ausreichend Sitzgelegenheiten sowie einer Tafel oder Flipchart, auf die Beiträge der Teilnehmer und Ausführungen der Gruppenleiter notiert werden können. Für die Erstellung eines Plans zum Umgang mit Rezidiven sollten den Patienten und ihren Angehörigen entsprechende Formulare und Stifte bereitgestellt werden.
Die Inhalte der Sitzungen sind auf 90–120 Minuten Dauer ausgelegt, wobei etwa in der Mitte jeder Sitzung eine kurze Pause eingeplant werden sollte. Je nach Symptomausprägung und individuellen Voraussetzungen der Erkrankten sollten auch ggfs. mehrere Pausen eingeplant werden.
Die Gruppenleiter sollten sich darum bemühen, in ständiger Interaktion mit den Patienten und Angehörigen zu sein und eine vorurteilsfreie, offen-wertschätzende Atmosphäre zwischen den Teilnehmern herzustellen, die alle Teilnehmer dazu ermutigen soll, offen zu kommunizieren und Fragen zu stellen. Zu Beginn der Intervention sollte vereinbart werden, dass gegenseitiges Stillschweigen über das Gesprochene eingehalten wird.
2.1.4 Aufbau und Inhalte der Intervention im Überblick
Die hier beschriebene Angehörigenintervention FIPA besteht aus vier Modulen ( Abb. 2.1):
Modul 1 dient der Wissensvermittlung über die psychotische Störung, substanzbezogene Störungen und gegenwärtige Erklärungsmodelle über mögliche Zusammenhänge zwischen Psychosen und substanzbezogenen Störungen, sowie deren integrierte Behandlung. Das Modul umfasst drei Sitzungen und wird ausschließlich mit den Angehörigen durchgeführt. Indem die Angehörigen ein möglichst fundiertes Wissen erwerben, soll ihnen ermöglicht werden, adäquat mit den erkrankten Familienmitgliedern und den Folgen der Erkrankung umzugehen.
Modul 2 ist ebenfalls ausschließlich an die Angehörigen gerichtet und soll die Angehörigen einerseits auf das Kommunikationstraining vorbereiten und andererseits auch den Leidensdruck und die häufig...