Der sechste Sinn

Das körperumgreifende Bindegewebe funktioniert zusätzlich wie ein Hochspannungsnetz oder auch wie ein Rechenzentrum: Im Faszienverbund befinden sich mehr als 80 Prozent der freien Nervenenden, nicht wie früher angenommen in den Muskeln. Diese Sinnesrezeptoren – spezialisierte Zellen, die dem Nervensystem Informationen liefern – dienen der Eigenwahrnehmung des körperlichen Befindens und der Körperstellung im Raum, der sogenannten Propriozeption. Dieser »Bewegungssinn« ermöglicht uns komplexe, harmonische Bewegungsabläufe und die laufende Korrektur von Fehlhaltungen.

An dieser Abbildung der großen Faszienketten der Körperrückseite wird deutlich, wie das Fasziensystem alles im Körper verbindet – vom Scheitel bis zu den Zehen. Deshalb ist für einen starken und entspannten Rücken das Training des ganzen Körpers so wichtig.

Die »Faszien-Matrjoschka«

Der Vergleich mag nicht hundertprozentig passen, er hilft aber, eine erste Vorstellung vom prinzipiellen Aufbau des Fasziensystems zu bekommen. Sie kennen die traditionellen Holzpüppchen russischer Handwerkskunst: Öffnet man die erste Figur durch Drehen um ihre Hüften, kommt eine zweite, kleinere zum Vorschein und so weiter. Jede hat ihre ganz eigene Bedeutung, ihren eigenen Raum, ihre Zone, die sie abtrennt, und doch ist sie gleichzeitig mit dem großen Ganzen verbunden.

Es gibt in der genaueren Beschreibung unterschiedliche Ansichten und Begrifflichkeiten. Osteopathen folgen eher der Aufteilung im Zuge der embryonalen Entwicklung, Schulmediziner eher der Anatomie, sprich Erkenntnissen aus den Untersuchungen an Leichen.

Saugfähig wie ein Badeschwamm

Das Fasziengewebe will gut durchspült sein: Wie bei einem Badeschwamm wird durch unsere Bewegungen laufend verbrauchte Gewebeflüssigkeit aus den Faszien gedrückt. Folgt anschließend eine Entspannung des Gewebes, kann frische Flüssigkeit nachfließen. Der »Schwamm« wird entleert und saugt sich voll – im stetigen Wechsel. Möglich ist das, weil in den Faszien auch Blut- und Lymph‑ gefäße eingebettet sind. So regeln die Faszien den Austausch wasserlöslicher Stoffwechselprodukte von der Grundsubstanz in die Zellen.

Gespannt wie ein Flitzebogen

Als Kind Pfeil und Bogen selbst herzustellen, das war herrlich! Die Wahl des Holzes für den Bogen fiel auf junge, elastische und vor allem dehnbare Zweige mit Rebound-Effekt (also der Fähigkeit zum Zurückfedern), etwa von Weide oder Haselnussstrauch: Dieses Holz speichert die Energie des Zurückziehens und Biegens und gibt sie mit spontaner Intensität frei. Wie Ihre Faszien! Dies lässt sich bei einigen der schnellsten Sprinter der Welt nachvollziehen, die ihre Plantarfaszie in der Fußsohle zum Einsatz bringen, indem sie nur den Vorfuß in kurzen Bodenkontakten federn lassen.

Flexibel wie ein Spinnennetz

Die kunstvollen Netze von Spinnen weisen nicht nur eine erstaunliche Festigkeit gegenüber Wind, Wetter und fetter Beute auf, sondern sind durch ihre Konstruktionsweise auch höchst anpassungsfähig. Im Fachjargon spricht man bezüglich dieser Flexibilität vom Prinzip »Tensegrity« – dieses beschreibt die Fähigkeit zur Anpassung. Hier bestätigen die Faszien eines der wichtigsten osteopathischen Prinzipien der Osteopathie (siehe Kasten >): Struktur folgt Funktion. Das bedeutet, dass die gesunde Struktur von Körpergeweben und die gesunde Beanspruchung eben dieser Gewebe einander bedingen.

Unterschätztes Sinnesorgan

Die Faszien sind reich durchbaut mit verschiedenen Arten von Sinnesrezeptoren (siehe auch >). Forscher gehen davon aus, dass diese Messstationen oder Fühler eines der zentralen Sinnesorgane der Körperwahrnehmung oder Propriozeption bilden. Neben Sensoren für Druck, Schmerz, Bewegung und chemische Reize enthalten sie offenbar weitere, noch zu erforschende Arten. Wir dürfen gespannt sein!

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