1 Vom Steinzeitmenschen zum »Homo sitzicus«
Der Mensch hat eine lange Entwicklungsgeschichte – und diese ist nicht unbedingt zum Wohl unseres Körpers verlaufen.
In diesem ersten Kapitel unseres Buches möchten wir unsere auf Eigenerfahrung basierende Hypothese zum Thema Faszie präsentieren. Dazu ist es notwendig, unseren persönlichen Zugang zum Körper und zur Bewegung näher zu erläutern. Wir beide – Markus Strini und Beatrix Baumgartner – haben sowohl einen beruflichen als auch einen sportlichen Hintergrund, der uns tiefere Einblicke in das Thema erlaubt.
Markus Strini hat als ehemaliger Krankenpfleger und Spitzensportler (Handball und Triathlon) beide Extreme erlebt: Menschen auf dem Höhepunkt ihrer Leistungskapazität und leider auch am Ende ihres Lebens.
Beatrix Baumgartner ist Physiotherapeutin und Osteopathin und fokussiert sich seit Jahren auf das Thema Faszie in Therapie und Training. Sie kommt ebenfalls aus dem Leistungssportbereich, hat selbst einige Verletzungen durchlaufen und ist dadurch ihren Patienten gegenüber umso empathischer. Die Zusammenhänge von Muskel-Faszien-Ketten am eigenen Körper zu spüren, öffnet die Augen.
Unser Leben und unsere Aktivitäten sind heute vielfältiger denn je. Wo sich allerdings unsere persönliche »Wohlfühlzone« befindet, entscheiden wir selbst. Leider geben wir diese Entscheidung zunehmend aus der Hand. Digitalisierung, Globalisierung, Technisierung, Materialisierung, eine stetige Beschleunigung im (beruflichen) Alltag lassen uns kaum noch Zeit, Luft zu holen und uns um unsere eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Gerne geben wir die Verantwortung für unseren Körper daher an Spezialisten ab.
Die meisten modernen Menschen sind obendrein in körperlicher Passivität gefangen. Die wenigsten von uns bewegen sich ausreichend, die meisten verbringen Stunden täglich am Schreibtisch. Unser mehrheitlich sitzender Lebensstil ist Gift für unseren gesamten Organismus. Luxus und Überfluss haben unser Körpergefühl nachhaltig beeinflusst.
Es ist uns als Trainern und Therapeuten ein persönliches Anliegen, dem Menschen wieder ein Gespür für scheinbar selbstverständliche Dinge des Lebens zu geben. Der eigene Körper, Empfindungen wie Hunger und Durst sollen wieder richtig wahrgenommen werden. Wann ist Schmerz ein Warnsignal, wie fühlt sich Verzicht an, oder wie schön kann es sein, in den Schlaf zu sinken, weil man körperlich ermüdet ist? Den Zugang zu diesen Empfindungen müssen wir wiederfinden. Das Thema Faszie hat uns klargemacht, warum unser Körper so ist, wie er ist, und wie wir mit ihm arbeiten müssen, um ihn gesund und leistungsstark zu erhalten. Diesen Zugang wollen wir auch dir anbieten.
1.1 Der Muskel ist nicht alles
Ich (Markus Strini) komme ursprünglich aus dem Handball, einem Sport, der von schnellkräftigen Bewegungen lebt. Meine guten Leistungen als Ausdauersportler im Triathlon im Anschluss an meine Handballkarriere waren sowohl für meine Sportwissenschaftler als auch für meine Trainer muskulär nicht erklärbar. Ich hatte schlechte Sauerstoffaufnahmewerte, Laktattestergebnisse, die eher einem ambitionierten Hobbysportler entsprachen, nicht aber einem Profisportler im Ausdauerbereich – und trotzdem war ich erfolgreich. Vieles wurde auf meine mentale Stärke geschoben, Neider warfen mir die Einnahme von unerlaubten Mitteln vor.
Für aktive Sportler dreht sich immer alles um den Muskelstoffwechsel und die Bedeutung des Muskels in der Bewegung. Erst als ich mich über den Kontakt zu Beatrix Baumgartner intensiv mit dem Thema Faszie beschäftigte, fand ich mein fehlendes Puzzleteil: Nicht jede Bewegung ist muskulär erklärbar. Auch die Faszien spielen eine Rolle, und durch das schnellkräftige Handballtraining hatte ich jahrelang ausgezeichnetes Faszientraining betrieben, ohne mir dessen überhaupt bewusst zu sein. Davon profitierte ich auch als Ausdauersportler, da ich mich deshalb sehr energieeffizient bewegen konnte und obendrein einen guten Verletzungsschutz hatte.
Wenn man bedenkt, wie viel ins Training im Leistungsbereich investiert wird, nur um im Promillebereich weiterzukommen, oder dass auch leider unerlaubte Mittel eingesetzt werden, um Leistung und Regeneration voranzutreiben, dann lohnt es sich auf jeden Fall, in das Thema Faszientraining zu investieren.
Es kann uns noch keiner sagen, wie viel Leistungssteigerung dieses Training bringt, die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen aber Großes vermuten. Aber nicht nur im Sport ist das Potenzial dieser Trainingsmethoden relevant. Vor allem im Gesundheitsbereich scheint eine wahre »Faszienrevolution« im Gange zu sein. In Summe mehr als Grund genug, die Menschen an die Hand zu nehmen und sie aus dem Strudel des Alltags wieder dahin zurückzuführen, wo wir einst herkommen sind, direkt in die Natur. Wir haben einen Bewegungskörper, und das sollten wir respektieren.
1.2 Ist die Faszie das Geheimnis der Wunderläufer?
Die Tarahumara sind eine indigene Ethnie, welche im Norden Mexikos lebt. Sie sind für ihre Fähigkeit berühmt, Langstreckenläufe durch Wüsten, Schluchten und Berge zu unternehmen, welche mehrere 100 Kilometer am Tag lang sein können. Der Rekord liegt bei unfassbaren 700 Kilometern in zwei Tagen – barfuß oder in selbstgebastelten Sandalen aus alten Autoreifen. Sind das Wunderläufer oder könnten wir das alle? Was haben die, was wir nicht haben?
Die Tarahumara leben noch immer so wie einst unsere Vorfahren. Sie laufen, um zu jagen, aus sozial-kulturellen Gründen und letztlich um zu überleben. Schon allein deshalb entwickelt man sich natürlich unweigerlich zu einem sehr guten Läufer. Wie sehen jedoch die körperlichen Hintergründe aus?
Betrachtet man diese Leistung von der Seite des Muskelstoffwechsels, so sind solche Distanzen rein rechnerisch muskulär nicht möglich. Der »Treibstoff« unseres Körpers sind in erster Linie Kohlehydrate und Fett. Diese Energiesubstrate gelangen durch die Verdauung in abgebauter Form bis in die Mitochondrien der Muskelzellen und werden dort verbrannt. Es entsteht Energie, die unsere Muskulatur für Bewegungen nutzt. Ist der Kohlehydratspeicher leer, kommt es zur Unterzuckerung – nichts geht mehr. Der Tank muss nachgefüllt werden, im besten Falle mit schnell verfügbaren Kohlehydraten wie Einfachzucker oder Traubenzucker. Das funktioniert eine Zeitlang auch sehr gut, bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Aufnahmekapazität des Verdauungstrakts erschöpft ist. Es gibt Schätzungen von 10 000–14 000 Kalorien an maximaler Aufnahmekapazität pro Tag. Für die Laufleistung der Tahamura wären aber rechnerisch mehr als 40 000 Kalorien am Tag notwendig! Woher nimmt sich der Tarahumara also die fehlenden 26 000–30 000?
Die Läufer dieses Naturvolks trinken vor langen Laufbelastungen sogenanntes Maisbier. Dieses ist hochglykämisch, also zuckerhaltig, somit energetisch wertvoll, und hat einen geringen Alkoholanteil. Jedoch auch dieses Getränk kann die Kapazität des Verdauungstraktes nicht um solche Differenzen ausdehnen. Woher kommt also dann dieses Leistungsvermögen?
Was das Jagen anbelangt, bedienen sich die Tarahumara einer Methode, die Menschen schon vor 100 000 Jahren angewandt haben, des sogenannten »Persistence Hunting« – wörtlich übersetzt »beharrliches Jagen«. Beim Persistence Hunting läuft oder geht der Jäger dem schnelleren Tier nach, langsamer, aber beharrlich. Durch das fortwährende Aufscheuchen und Hetzen der Tiere ermüden diese irgendwann und können nicht mehr weiter. Dann kommt der Speer zum Einsatz. Die Vermutung liegt nahe, das sich aus dieser Jagdtechnik heraus der Mensch zu einem ausdauernden Wesen entwickelt hat und seine Körperfunktionen entsprechend angepasst hat. Tatsächlich lassen Knochen- und Muskelbau des Menschen Anpassungen an die Ausdauerleistung vermuten.
Müssten wir aber dann nicht alle so ausdauernd sein wie die Tarahumara? Nein, denn diese setzen ihren Körper anders ein als die meisten modernen Menschen. Es gibt große Unterschiede zwischen dem Laufstil eines Tarahumara und dem eines heutigen Hobbyläufers. Provokant ausgedrückt werden wir heute nicht mehr »artgerecht gehalten«: Wir beginnen schon im Kleinkindalter, mit Schuhwerk zu laufen. Schuhe dämpfen und verhindern beim Laufen die Vorspannung in der stärksten Sehne des Körpers, der Achillessehne. Sieht man sich das Laufbild bei einer vierdimensionalen biomechanischen Analyse an, wird klar, dass man mit Schuhen viel fersenlastiger läuft. Daraus resultiert ein viel längerer Bodenkontakt, und der Laufschuh dämpft. Beides bedeutet Kraftverlust in der Bewegungsübertragung.
Ein Tarahumara dagegen läuft, wie es einst alle Menschen getan haben: barfuß. Der Fuß mit seinem Gewölbe ist durch seine Bauform ein faszinierendes Dämpfungsorgan und auch das erste in der Dämpfungskette der Gelenke, die unsere Schritte abfedert. Bei einem normalen lockeren Laufschritt wirkt etwa das Siebenfache unseres Körpergewichts auf die Dämpfungskette, bei einem Sprung aus 50 cm Höhe etwa das Zwanzigfache. Das alles hält ein entsprechend gut trainierter Fuß locker aus. Das jedoch ist in unserer Zeit nicht mehr der Fall. Persistence Hunting ist Geschichte, man geht in den Supermarkt und nimmt das fertig abgepackte Fleisch, trägt Schuhe und ist vielfach zum Sitzen verdammt. Die Strukturen schwächen sich ab. Zivilisationserkrankungen wie etwa, Senk-, Spreiz- oder Plattfüße sind an der Tagesordnung in einer orthopädischen Ambulanz. Die Lösung ist oft, das...