Nichts macht uns so einsam wie unsere Geheimnisse.
Paul Tournier
Bulimie
Eines Abends, als ich allein zu Hause war, niedergeschlagen in meinem Zimmer saß, verspürte ich plötzlich den Drang, den Apfel, den ich zu Abend gegessen hatte, sofort wieder loszuwerden. In meinem Kopf herrschte Aufregung, und ich verfiel in Panik. Ich rannte zur Toilette, um zu erbrechen.
Von diesem Moment an litt ich an Bulimie.
Ich hatte nicht die gewöhnliche Bulimie. Nie stand ich vor dem Kühlschrank und griff nach allem, was mir in die Finger kam. Ich litt auch nicht an unkontrollierten Fressattacken. Bei mir war schon damals das Kontrollverhalten sehr stark, bloß Magerprodukte und Obst kamen infrage. Trotzdem kam ich aus meiner Essbrechsucht schwer wieder heraus.
Die Zeit meiner Bulimie war sehr intensiv. Manon besuchte diverse Kurse und war von der Musik wie verzaubert worden. Mama arbeitete viel und hart, und ich war häufig allein zu Hause. Die Zeit in einer leeren und stillen Wohnung war für mich schrecklich. Meine Einsamkeit und Verzweiflung kompensierte ich mit Selbstzerstörung. Also verriegelte ich die Tür, stellte die Musik laut und begann, Magerjoghurts und Früchte zu essen. Ich aß und aß, bis mein Magen zu schmerzen begann und ich erbrechen konnte. Es löste in mir keine Freude aus, aber doch fühlte ich mich danach beruhigt.
Ich wusste meistens genau, wann ich alleine zu Hause sein würde, und bereitete mich dann aufs Essen und Erbrechen vor. Nach der Schule ging ich zuerst meine Lebensmittel einkaufen, viel Obst und Magerjoghurts. In den Einkaufsläden fühlte ich mich oft von den Verkäufern beobachtet, als wüssten sie Bescheid. Darum wechselte ich auch regelmäßig das Geschäft und eilte dann nach Hause. Ich fühlte etwas zwischen Adrenalinkick und Angst, Hass und Gleichgültigkeit. Dann aß ich und erbrach.
Nach dem Erbrechen war ich von mir selbst angewidert. Oft badete ich stundenlang, um den Schmutz meines schlechten Gewissens abzuwaschen. Doch sauber fühlte ich mich danach nie. Auch weinte ich oft nach dem Erbrechen, weil ich so unzufrieden mit mir selbst war. Dazu entstand immer mehr ein schlechtes Gewissen gegenüber meiner Mutter und meiner Schwester. Unbewusst ahnte ich wohl, wohin dies alles führen würde. Noch mehr begann ich mich von der Welt zu isolieren, stürzte in eine noch tiefere Welt der Melancholie und fühlte mich endlos allein.
Keine Bulimikerin und kein Bulimiker ist stolz auf diese Sucht, und – dies vor allem – keine und keiner von ihnen spricht gern darüber. Deshalb möchte auch ich nicht zu detailliert über diese Zeit schreiben. Die Tatsache, dass ich stundenlang mit meinem Kopf über der Schüssel hing und jeden Bissen aus mir herauswürgte, ist widerlich und für manche unverständlich. Doch können auch viele die Angst und das schreckliche Gefühl nach dem Essen nicht nachvollziehen. Diese Angst löste in mir einen enormen Druck aus, den ich irgendwie kompensieren musste.
Eines Tages bemerkte ich, dass ich mich von Manon und Mama zu weit entfernt hatte. Mir war klar, dass die Bulimie einiges dazu beigetragen hatte, und wollte damit aufhören. Doch es war kaum machbar. Trotz meines starken Willens war es schwer, der Sucht zu entfliehen. Manchmal ließ ich mich von einer inneren Stimme einfach verführen und fiel in mein altes Muster zurück. Sucht bleibt Sucht.
Im Juni 2008 machten Mama, Manon und ich Ferien in Südfrankreich, freuten uns alle sehr, gemeinsam die aufregende Stadt Cannes zu entdecken. Mein Vater stellte uns seine Wohnung direkt am Strand zur Verfügung. Es war traumhaft schön. Da ich permanent mit meiner Familie zusammen war, war Erbrechen kein Thema für mich. Ich hätte dies nie in ihrer Gegenwart tun wollen und schon gar nicht können.
Menschen, die länger an einer starken Bulimie leiden, halten es manchmal keinen Tag ohne Erbrechen aus. Ich habe Frauen kennen gelernt, die mir von zehn Essbrechanfällen täglich berichtet haben. Der Druck ist so stark, dass sie sich nicht mehr beherrschen können, seien sie an öffentlichen Orten oder mit Verwandten in den Ferien.
Nach den Sommerferien nahm mein Leben eine neue Wendung. Ich begann mit der Ausbildung zur medizinischen Praxisassistentin. In der Freizeit ging ich noch immer regelmäßig reiten und oft schwimmen. Manon war im Vorkurs für ein Jazz-Musikstudium und arbeitete gleichzeitig im Büro der Gesangsschule, die sie besuchte. Sie vertiefte sich in ihre Welt der Musik und baute sich ein neues, kreatives Umfeld auf. Ich empfand sie in dieser Zeit als sehr glücklich. Es freute mich sehr, dass sie ihre Leidenschaft gefunden hatte.
Die ersten Wochen meiner Ausbildung waren äußerst spannend. So viele neue Eindrücke und Einflüsse! Ich arbeitete viel und wollte unbedingt eine der besten Schülerinnen sein. Stundenlang lernte ich die medizinische Terminologie mit Karteikärtchen oder zeichnete den genauen Aufbau der menschlichen Zelle. Es war wirklich interessant. Trotzdem ließ mich meine Essstörung nicht los, ließ mir kaum Raum für andere Dinge.
Zwar gelang es mir nun, es ohne Erbrechen auszuhalten, und ich ließ die Bulimie hinter mir. Doch stattdessen begann wieder das große Hungern. Meine Beine, meine Arme, mein Gesicht, nichts war für mich erträglich anzuschauen. Mein Spiegelbild zeigte mir ein dickes Mädchen. Ich schämte mich, mit diesem Körper durch die Welt zu gehen, und versteckte mich noch immer in großen Klamotten. Um endlich glücklich mit mir selbst und meinem Leben zu werden, musste ich einfach unbedingt an Gewicht verlieren.
Weshalb nur immer diese fixe Idee, wenn ich dünn wäre, wäre alles wieder gut?
Das war nie der Fall. – Im Gegenteil.
Immer stärker drehte sich alles in meinem Leben bloß noch ums Hungern. Ich wollte nichts mehr essen. Abends nach der Schule aß ich vielleicht eine kleine Suppe oder ein Magerjoghurt. Ganz normales Essen wie Brot, Kartoffeln oder Pasta wäre nie infrage gekommen. Selbst der Anblick solcher Nahrungsmittel rief in mir ein schlechtes Gewissen hervor. Bei jedem Bissen verkrampfte ich mich, sodass ich steif wie ein Brett wurde. In meinen Kopf begann es vor lauter Gedanken zu drehen und zu drehen …
Fast alle Lebensmittel wurden von meinem Essplan gestrichen. Nichts durfte mehr als 75 Kalorien und 0,5 Gramm Fett enthalten. Dazu versuchte ich täglich, so wenig wie möglich zu trinken. Der Mensch besteht aus ungefähr sechzig bis siebzig Prozent Wasser, und das wollte ich loswerden. Häufig ging ich nach der Schule ins Schwimmbad, um einige Längen zu schwimmen und somit ein wenig Ruhe im Kopf zu bekommen. Davor aß ich nie etwas, ich fror am ganzen Körper und fühlte mich müde und schwach. Doch trotzdem schwamm ich immer weiter und weiter. Kalorien verbrennen war der größte Antrieb, weshalb Sport und permanente Bewegung zu einem wichtigen Thema wurden. Auf dem Heimweg erlaubte ich mir, ein wenig zu trinken, und zu Hause dann mein mageres Süppchen, das ich langsam auslöffelte. Ich litt nun bereits an Bauchschmerzen, die von der Mangelernährung stammten. Und ich zitterte und fror ständig und fühlte mich antriebslos und müde. Die monatliche Blutung war auch schon längst ausgeblieben. Trotzdem denke ich, dass mein Körperbild noch relativ gesund aussah. Wie viel ich damals wog, kann ich nicht sagen, da ich mich nie auf die Waage traute. Zu sehr fürchtete ich mich vor meinem Gewicht.
In meiner Ausbildung zur medizinischen Praxisassistentin fühlte ich mich trotz den spannenden Fächern und meinen guten Noten nach einigen Monaten nicht mehr wohl. Ich spürte keine Freude mehr und sah für mich in dieser Branche keine Zukunft. Also brach ich die Ausbildung nach einem halben Jahr ab und machte ein Praktikum in einer Zeitschriftenredaktion, wozu mir meine Mutter verhalf. Dieser Job gefiel mir sehr gut. Es war aufregend und lebendig und bot mir einen Einblick in die Welt der Erwachsenen: ein eigener Arbeitsplatz, fester Lohn, Selbständigkeit. Ich spürte sogar wieder so etwas wie Fröhlichkeit in mir. Doch die Essstörungen blieben.
Eines Abends saß ich alleine und frustriert zu Hause. Meine Mutter war noch bei der Arbeit und meine Schwester im Musikunterricht. Ich war einsam, wusste nicht, wie mit meinen Komplexen umgehen, und hätte mir am liebsten meinen Körper weggeschnitten. Trotz Hungern und Sport hatte ich noch immer zu viel auf den Rippen. Dachte ich zumindest. Also begann ich erneut zu erbrechen.
Und wieder hatte mich die Essbrechsucht fest in ihren Klauen. Dieser eine Ausrutscher hatte gereicht, um in das alte Muster zurückzufallen. Diese Phase der Bulimie war dann jedoch intensiver als die letzte. Ich suchte regelrecht jede Gelegenheit, um zu erbrechen. Nur so konnte ich meinen Frust überwinden. Wieder kaufte ich Magerjoghurts, Obst und Fruchtsäfte. An manchen Tagen kaufte ich aber auch Reis, Brot oder Müesli, um zu erbrechen. Diese Lebensmittel eigneten sich für mich am besten dafür. Alle an Bulimie Erkrankten entwickeln...