Der Kreis, Partnerschaft und Repression
1955 ist Ernst neu gewählter Lehrer in Zürich Oerlikon und darf als 25-Jähriger mit »Rolfs« Einwilligung endlich dem Kreis beitreten; von Röbi weiß er zu dieser Zeit noch nichts.
Wer in der Organisation »Lesezirkel der Kreis« aufgenommen wird, ist nicht Mitglied, sondern Abonnent, weil es »Rolf«, der führende Kopf, nicht anders will. »Er wollte kein Gremium, das gewählt wird und bestimmt«, erklärt Ernst, »er wollte selber bestimmen. ›Rolf‹ sagte jeweils, er habe eine gewisse Verantwortung und stehe dafür auch bei den Behörden als Einziger mit seinem richtigen Namen, Karl Meier, ein.«
Denn »Rolf«, ein anerkannter Schauspieler und Ensemblemitglied des Cabaret Cornichon, leistet es sich als einer der wenigen, sich als Homosexueller zu exponieren. Alle andern Mitglieder des Kreises schützt er und achtet darauf, dass die Adressen der Abonnenten nur ihm und »Charles Welti«, dem andern bestimmenden Kopf innerhalb der Organisation, bekannt sind. »Die Kartei mit den richtigen Namen der Abonnenten gab es nur in zweifacher Ausführung«, erzählt Röbi: »Sie wurden in ›Rolfs‹ Büro aufgehoben, versteckt neben dem Ofen, damit man sie jederzeit hätte verbrennen können.«
Die Geschichte gibt »Rolf« recht: In mehreren Städten, auch in Zürich, fichiert die Polizei Homosexuelle und führt insgeheim schon seit langem sogenannte Homo-Register: Der Kreis steht, solange es ihn gibt, unter polizeilicher Observation, auch über »Rolf« gibt es eine Akte.
Wer im Kreis verkehrt und sich für die Theater- und Filmwelt interessiert, weiß, dass der schwule »Rolf« außerhalb der Inselwelt eine bekannte Nummer ist und in der Welt, die Homosexuelle ausgrenzt, Karl Meier heißt. Zu Hause im Thurgau, wo er aufgewachsen ist, ahnt jedoch niemand, dass ihr Karl Meier ein Doppelleben führt. In der Ostschweiz, seiner Heimat, wird er als großer Schauspieler und als angesehener Leiter der Sommerfestspiele Kradolf verehrt, dem der Schritt aus ärmlichen Verhältnissen – vom Adoptivkind eines Stickers aus dem Thurgau – auf die Bretter, die die Welt bedeuten, geglückt ist. »Rolf« selber deckt in seiner familiären Umgebung sein zweites Gesicht, sein schwules Leben, nie auf. Denn nicht zuletzt war es die ländliche Enge, die ihn schon als jungen Mann in die Stadt flüchten ließ.
In einer Zeit, wo Schwulsein in den Augen der heterosexuellen Gesellschaft Ekel und Sünde ist und Menschen mit dieser Veranlagung ausgegrenzt werden, ist der Kreis ein willkommenes und nötiges Ghetto, innerhalb dessen Mauern homosexuelle Männer so sein können, wie sie wirklich sind – allerdings mit gewissen Einschränkungen. Wenn man mit der Polizei nichts zu tun haben will, muss alles, was vom Gesetz her verboten ist, konsequent ausgeschlossen werden, damit man ihr keinen Anlass bietet, Razzien durchzuführen. Deshalb werden von vornherein auch Menschen ausgeschlossen, die sich den verschworenen Zirkel als Heimat gewünscht hätten – nämlich alle Minderjährigen, also alle unter zwanzigjährigen Männer, die nicht wie Röbi eine Sonderbewilligung haben, und alle Stricher.
Letztlich ist ein Ort, an dem man als Homosexueller sein kann, wie man ist, wichtig, um auch neue Bekanntschaften zu schließen, da von vornherein klar ist, dass hier gleich tickende Männer zu finden sind. »Im Kreis«, sagt Ernst, »war es tabu, einander über Persönliches zu befragen. Wenn jemand aus eigenen Stücken über sich erzählte, war das etwas anderes. Aber fragen, nein. Man fragte auch nie: ›Wie heisst du?‹ ›Wo wohnst du?‹ ›Was machst du?‹ Einzig über Hobbys konnte man sich mal eine Frage leisten.«
Um dieser Tatsache den entsprechenden Stellenwert zu geben, sagt Ernst noch einmal ganz vehement: »Nie! Das machte man einfach nicht. Wenn du jemanden näher kennen lerntest und bei jemandem zu Hause warst, es musste nicht unbedingt für Sex sein, oder mit jemandem ins Kino gingst und dieser, mit einem gewissen Vertrauen von selber Name und Adresse nannte, dann war es meist ein anderer Name und ein anderer Wohnort, als man im Kreis gehört hatte. Daran war nichts Besonderes.«
Ernst und Röbi gehören zu den wenigen, die auch innerhalb des Kreises mit ihren richtigen Vornamen verkehren. Ernst sagt: »Ich spielte in meinem Alltag so viele Rollen, weil ich auch meine Homosexualität verbergen musste, dass ich nicht Gefahr laufen wollte, nicht mehr zu wissen, für welche Rolle ich welchen Namen wählte. Darum nannte ich mich immer Ernst.« Einzig unter seine Kurzgeschichten und Gedichte in der Zeitschrift »Der Kreis« setzte er Pseudonyme.
Die Männer, die im Schatten der Gesellschaft ein zweites Leben leben, treffen sich jeweils mittwochs und samstags in der Zürcher Innenstadt, im ersten Stock des heutigen Theaters am Neumarkt, das damals noch das Restaurant Eintracht war. Man ist unter sich und atmet befreit, im Schutz des Verstecks. Röbi geht es nicht anders, obwohl er innerhalb der eigenen Familie sein Leben nicht verbergen muss. Dennoch sagt er: »In diesen wenigen Stunden mussten wir keine Maske tragen, nichts vertuschen. Wir waren alle ›Gleichgesinnte‹. Jeder konnte innerhalb dieser Strukturen natürlich leben, so wie es ihm entsprach. Wir konnten tanzen und interessante Gespräche führen.«
Der Kreis verhilft zu viel Lebensqualität. Legendär sind die Festivitäten mit internationaler Ausstrahlung. In den Fünfzigerjahren nehmen an den rauschenden Ballnächten bis zu 800 Männer teil. Auch Homosexuelle aus den USA reisen dafür nach Zürich, da der Kreis nach dem Krieg eine der wenigen Inseln für Schwule ist, die es weltweit noch gibt.
Die Maskenbälle und Herbstfeste sind das Highlight des gesellschaftlichen Zusammenseins. Vor allem die Herbstfeste bieten Röbi die große Bühne, die er, der Kinderschauspieler, durchs Erwachsenwerden verloren hat. Hier findet er das Forum, das er sich immer wünschte, und »Rolf«, der Schauspieler und Regisseur, fördert dabei seinen talentierten Protegé Röbi. Er leitet ihn an und inszeniert mit ihm, der von sich sagt, dass er sowohl das Seriöse wie auch das Anrüchige in sich verberge, Theater-, Kabarett- und Varieté-Aufführungen.
Für sein Bühnen-Talent, seinen Charme, seinen androgynen Körper – sein Feminines, auch in der Stimme, wird er geliebt. Paul Burkhard, der Komponist von »O mein Papa« oder »D’Zäller Wiehnacht« und langjähriger, musikalischer Leiter des Radioorchesters Beromünster, ist von Röbi angetan – »aber Sex hatten wir nie«, sagt Röbi: »Er übte mit mir bei sich zu Hause einige seiner Chansons ein – immer unter der Obhut seiner Schwester, damit ja nichts passiere.«
Auch Artur Beul, Schweizer Musikerlegende und Komponist von rund 2000 Liedern, darunter so bekannte wie »Stägeli uf, Stägeli ab« oder »Übre Gotthard flüged Bräme«, ist von Röbi angetan. Er sucht aktiv dessen Nähe und arrangiert für ihn Lieder, mit denen dieser wiederum im Kreis auf der Bühne steht. Die beiden sind kurzzeitig ein Paar.
Damit er mit Artur zusammen sein kann, »schwänzt« Röbi, der noch in der Ausbildung steckt, die Gewerbeschule. Als er aber realisiert, dass er nicht der einzige Mann in dessen Bett ist, trennt er sich von ihm. Auch Beul führt ein Doppelleben – er ist verheiratet mit Lale Andersen, der »Lili Marleen«-Interpretin. Sie ist pro forma seine Ehefrau. Röbi sagt: »Damals war ich fasziniert, dass ein berühmter Musiker für mich Lieder schreibt. Das war toll.«
Röbi lebt auf der Bühne des Kreises seine frauliche Seite und schöpft dabei aus dem Vollen – er trägt, lange bevor Ernst »Kreis«-Abonnent ist, Federn, Schminke und falsche Wimpern. Er kopiert Marlene Dietrich, sein Vorbild, singt mit seiner als Kind geschulten, zarten Stimme und interpretiert Texte – auch das Lied von Friedrich Hollaender mit dem wunderschönen, vieldeutigen Titel »Wenn ich mir was wünschen dürfte«10.
Ich frage mich, als Röbi über die Männergesellschaft außerhalb des normierten Lebens ins Schwärmen gerät, wo die lesbischen Frauen geblieben sind, da sie in den Gesprächen über den Kreis kaum erwähnt werden. Und das, obwohl die beiden Vorgängerorganisationen des Kreises von Frauen initiiert worden waren und sich dort sowohl Frauen als auch Männer ab 1932 regelmäßig im Schweizerischen Freundschaftsverband Amicitia getroffen haben.11
Ernst erzählt, dass der Frauenanteil ab Mitte der Dreißigerjahre immer mehr zurückgegangen sei, auch nach einer Neulancierung unter dem Namen Schweizerische Liga für Menschenrechte. Schon damals sei »Rolf« dabei gewesen und habe neuen Schwung in die...