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E-Book

Feders fantastische Stadtpflanzen

Neue Entdeckungstouren mit dem Extrembotaniker

AutorJürgen Feder
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644556911
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Nicht nur auf Feld und Wiesen finden sich die erstaunlichsten Pflanzen - auch vor unserer Haustür, auf dem Grünstreifen neben der Ampel oder im kleinen Park um die Ecke gedeihen die faszinierendsten Gewächse. Jürgen Feder lädt uns mit seiner ansteckenden Leidenschaft auf zehn Stadtrundgänge der besonderen Art ein. Was blüht auf dem Weg zum Supermarkt, was gedeiht an der Bushaltestelle, was wächst denn so um Papierkörbe herum? Auf unnachahmliche Art stellt der Extrembotaniker die Geschichte der Pflanzen vor - und begeistert für die heimische Flora in unserer Nachbarschaft. «Früher habe ich Unkraut achtlos links liegengelassen. Bis ich Jürgen Feder begegnet bin! Die Leidenschaft des Extrembotanikers ist extrem ansteckend. Lesen! Staunen! Pflücken!» Bettina Tietjen «Jürgen Feder wirbt um Aufmerksamkeit für eine Vielfalt, die wir gerade zerstören. Seine Begeisterung ist echt und ansteckend.» Berliner Zeitung

Jürgen Feder, 1960 in Flensburg geboren, ist Dipl.-Ing. für Landespflege, Flora und Vegetationskunde und zählt zu den bekanntesten Experten für Botanik in Deutschland. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner, bevor er sich dem Studium der Landespflege in Hannover widmete. Lange Zeit war er als selbständiger Landespfleger und Chef-Pflanzenkartierer tätig. Heute lebt er in Bremen.Mehr über den Autor erfahren Sie unter: www.juergen-feder.dewww.facebook.com/Extrembotanikerwww.youtube.com/user/juergenfeder

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Leseprobe

1 Frankfurt


Im alten und neuen Westhafen am Gutleutviertel

Haben Sie sich schon mal im Main die Haare gewaschen? Heute Morgen um sechs Uhr dreißig habe ich genau das getan – Premiere, aber nur im Main! Nachdem ich vorher – mal wieder mehr schlecht als recht – in meinem Škoda Fabia am Stadion von Eintracht Frankfurt übernachtet hatte. Hier also ist, dachte ich mir als Bremer, die neue Heimat von Werder Bremens langjährigem Erfolgstrainer Thomas Schaaf (wobei man jetzt schon wieder «war» sagen muss). Nicht nur meine Haare, auch meine Hände sind fein säuberlich gewaschen, damit ich meinen ersten Stadtspaziergang in «Mainhattan» starten kann. Endlich. Durch das bisher kalte Wetter hinkt der Frühling mindestens zwei Wochen hinterher. Das mag ich aber lieber, als wenn man den (botanischen) Sommer schon im Frühling (erledigt) hat. Doch an diesem Tag, es ist der 20. April, knallt die Sonne von einem so was von wolkenlosen Himmel. Der Pullover wird früh schon ausgezogen, alles nur überflüssiges Zeug. Es ist fast Badewetter, auf jeden Fall aber ideales Pflanzenwetter!

Ich hatte mir den Frankfurter Hauptbahnhof und umliegende Straßenzüge als städtisches Zentrum ausgeguckt, einschließlich des berühmt-berüchtigten Rotlichtmilieus. Ganz viele Banker, Pendler und Reisende eilen hier durch, da könnte es für den einen oder anderen Gestressten erholsam sein, kurz mal innezuhalten und manch hübsche Wildblume am Straßenrand zu bestaunen. Aber obwohl ich die Augen wie Argus aufsperre, hier gedeiht so gut wie nichts! Beim besten Willen nicht. Auf dem Gelände des Hauptbahnhofs ja, üppig sprießt es da sogar, aber zwischen die Gleise kann ich doch keinen locken. Lebensgefahr! Drum herum ist es botanisch jedoch eine Katastrophe. Besonders der Bahnhofsvorplatz. Total öde. Ein paar plattgetretene Löwenzähne und einige lausige Gräser. Dafür Hundekacke, Splitter von zerbrochenen Bierflaschen, die üblichen Fastfood-Überbleibsel. Wahrscheinlich haben auch die Pflanzen die Schnauze voll von den Drogenhändlern in dieser Gegend und ihren Revierkämpfen, und sicher hat man ihretwegen jede kleinste Ecke zubetoniert. Niemand soll auf die Idee kommen, dort etwas Halluzinierendes zu verstecken. Also: Dreck, Dreck; Platte, Platte; Staub, Staub. Dazu habe ich nicht die geringste Lust, schon gar nicht an so einem Wonnetag. Ich muss mir schnell etwas anderes suchen. Ich will nämlich schwelgen, voll aus dem Bunten und Grünen schöpfen, begeistern und begeistert sein!

Was tun? So hieß ja eine berühmte Schrift von Wladimir Iljitsch Uljanow, den alle eher unter dem Namen Lenin kennen. Schon 1902 machte der sich Gedanken über die Zusammenarbeit von Arbeitern und Bildungsbürgern und begründete eine Theorie, nämlich die von der «Avantgarde des Proletariats». Passt perfekt. Auch ich will den «Proletariern» unter den Pflanzen nachgehen, den Gewächsen in den Städten, diesen widerstandsfähigen Spontis, die niemand in Grünanlagen oder raumgreifenden Betonkübeln anpflanzt, die nicht zu den «bürgerlichen» Kulturpflanzen zählen. Sie sollen bloß nicht mit Geranien, Spiersträuchern, Zierrosen, Narzissen und Tulpen eine Gemeinschaft bilden. Lieber autark sollen sie bleiben, die kleinen grünen Wunder unter Abfallkübeln und Plakatwänden, um Ampeln, Laternen, Pfosten oder Straßenschilder. Die, die sich aus dem Pflastersand hervorwagen und die jede Parkbank zum Eigenheim deklarieren.

Was also tun? Ich erinnere mich an Matthias, einen früheren Studienkollegen, den ich tags zuvor in der Nähe von Gelnhausen besucht hatte. Folgenden Tipp hatte er auf Lager: «Vergiss den Bahnhof. Geh zum Westhafen, ins alte Gutleutviertel. Es liegt am Nordufer des Mains und ist zu Fuß höchstens fünfzehn Minuten vom Bahnhof entfernt. Modernstes urbanes Frankfurt, Topadresse, nach dem Motto: ‹Wohnen am Wasser – Party am Wasser›. Fast so wie die Docks in London.» Klang etwas übertrieben, doch nun denke ich, dass die Worte «Westhafen» und «Gutleutviertel» eine spannende Mischung aus Elitärem und Wildnis sein könnten. Da besteht Hoffnung auf nicht zu viel Durchgestyltes und dennoch Raum für pflanzliche Rebellen.

Vorbei geht es an der schmalsten Kirche Deutschlands, die Gutleutkirche an der Gutleutstraße ist kaum zwei Meter breit. Von hier erreiche ich den Punkt, den mir mein früherer Kollege genannt hatte – den runden Glasturm am Westhafenplatz! Auch erkenne ich in einer Entfernung von ungefähr einem Kilometer mein erklärtes Ziel: die alte Eisenbahnbrücke über den Main, die Rhein-Neckar-Brücke, auf der sich gerade zwei ICE-Züge begegnen, der eine will nach Frankfurt, der andere verlässt die Stadt. Die Promenade verläuft annähernd schnurgerade, links das Wasser, rechts moderne Bauten mit mehr oder weniger Glas, Wohnungen und Firmengebäude. Dazwischen neu gepflanzte Bäume, Bänke zum Ausruhen, Papierkörbe. Und ganz wichtig: alte Pflastersteine, damit der Charme der Gegend erhalten bleibt. In ihnen können sich Pflanzen einwurzeln, zwar keine Riesenstauden, aber niedere Pflanzen allemal. Spaziergänger können ruhig darauf treten, die ducken sich und kommen dann wieder hoch. Die alte Kaimauer sieht ebenfalls vielversprechend aus. Gespritzt wird anscheinend nicht, denn überall wuchert es. Außerdem: Man kann weit gucken, nach vorn und nicht nur nach oben, das ist eher ungewöhnlich für die Trabantenstadt Frankfurt. Die Gebäude mit dreißig, vierzig Stockwerken liegen am Horizont.

Diese Gegend ist ideal für meine erste urbane Flaniermeile. Der einstige Hafenbereich ist zudem ein altes Bahnhofsgelände, auf dem früher per Schiff angekommene Waren in Güterwaggons verladen wurden, später werde ich das an nicht mehr benutzten Schienen sehen. Zuerst aber springt mir nahe der Westhafenbrücke, an der alten Kaimauer aus Sandstein, das Mauer-Zimbelkraut (Cymbalaria muralis) ins Auge. Gleich zu Anfang eine meiner Lieblingspflanzen! So was von hübsch sind die hellvioletten Blüten! Die Art ist heimisch in Südosteuropa und wurde vor ungefähr 200 Jahren bei uns als Steingewächs eingeführt. Der Dichter Ludwig Bechstein schrieb über das Zimbelkraut im 19. Jahrhundert: «Niedliche Pflanze, du kleidest der alten Ruine Gemäuer, rankend hinab und hinauf blühest du einsam für dich. Sey der Erinnerung Bild, die, der Einsamkeit traute Genossin, oft des vergangenen Glücks sinkendes Luftschloss, umgrünt.» Für mich klingt das arg schwülstig, aber klar ist: Bei so viel Romantik musste man sie haben, sie sollte die deutsche Flora richtig aufmöbeln. Als wenn wir selbst nur pflanzlichen Mist gehabt hätten und diese Art nun alles überstrahlen würde. Die Spaltpflanze breitete sich dann mit ungeahntem Erfolg aus, was bei dieser Säuselei auch kein Wunder war. In Ritzen kommt sie praktisch mit Luft und Liebe aus, gibt sich aber mit ihren zart hellvioletten Blüten – ein bisschen Weiß und Gelb sind noch dabei – letztlich einen edlen Anstrich. Die Pflanze hat eine weitere Besonderheit: Sie ist negativ phototrop, das heißt, wenn es ihr zu hell wird, schlägt jeder vorwitzige Trieb eine Kurve und kehrt wieder nach innen: Marsch, marsch zurück ins Mäuerchen. Ständig sucht sie nach neuen Fugen, deshalb hat sie oberirdische Ausläufer. Sie kann von Ende März bis in den Oktober hinein blühen. Nun sehe ich Tausende Blüten größerer Flatschen in gleißender Sonne oberhalb des Wassers – das Zimbelkraut ist umwerfend.

Mauer-Zimbelkraut

Diese wunderbar löchrige Kalkmauer – aus diesem Grund bin ich auch so gern in Städten, weil in ihnen verschiedenste Materialien verwendet werden: Sand, Stein, Lehm, Ton oder das Sedimentgestein Mergel. Und das wiederum zieht alle möglichen Pflanzenarten an. Landflucht ist also auch bei Pflanzen ein Thema. Bei den neu erbauten Häusern wird, wenn es regnet, viel Kalk abgespült. Ist er trocken, staubt es durch vorbeifahrende Autos, und schon werden Nährstoffe verbreitetet. Der Sandstein der Kaimauer stammt mit Sicherheit aus dem Taunus, ein bodensaurer Stein mit viel Basalt, der mit Zement bearbeitet wurde (und dieser ist ebenso sehr kalkhaltig). Derartige Standortmöglichkeiten zu erkennen, finde ich immer spannend, um zu wissen, wieso sich plötzlich an dieser oder jener Stelle Pflanzen eine Heimat suchen.

Und warum wächst entlang der Promenade unter den angepflanzten Bäumen so viel? Auch wenn die Antwort nicht so appetitlich ausfällt: weil hier die Hunde pissen und kacken. Als Hundebesitzer müssen Sie jetzt mal nicht verschämt wegsehen, Ihre Tiere tun der wilden Natur etwas Gutes. Dennoch würde man hier das Zimbelkraut vergeblich suchen, ihm würden die trittfesten Vierbeiner auf die Nerven gehen, deshalb wächst es in der Ufermauer und ist da ungestört. Und bedenken Sie: Jeder Papierkorb ist wichtig, jedes Schild, denn da heben Hunde ihr Bein – und Pflanzen haben ihr natürliches Substral. So können sich die Arten sammeln und zeigen, wie gut sie im städtischen Milieu überleben. Hier wird auch höchstens einmal im Jahr mit einem Freischneider gearbeitet.

Puh, die Sonne steigt höher und höher, es wird richtig heiß. Die gelbe Sonne passt gut zu dem gelb leuchtenden Gewöhnlichen Löwenzahn (Taraxacum sect. Ruderalia). Ihn kennt jeder, er wächst hier in Massen unter einem Rettungsring, als würde er sagen: «Hilfeleistender, guck dich erst einmal um und atme tief durch, ehe du ins Wasser springst.» Was kaum einer weiß: In Deutschland wachsen rund tausend Löwenzahn-Arten, keiner kann sie alle kennen. Es wird auch nie jemanden geben, der sie komplett gesehen hat,...

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