Abenteuer zwischen 20 und 30
Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wann ich endgültig mein Elternhaus verlassen habe. Vielleicht gab es auch diesen einen Tag gar nicht. Meine Jugend war ein einziges Abhauen und Wiederkommen. Mal freiwillig, mal nicht. Geplante und gescheiterte Neuanfänge. Irgendwie machte ich meinen Hauptschulabschluss, fing eine Lehre zum Koch an. Beendet habe ich sie nie.
Irgendwann also bin ich nicht mehr zu meinen Eltern zurückgekehrt. Vielleicht war ich auch schon ganz offiziell von Zuhause ausgezogen. Gut möglich. Ich könnte meine Eltern fragen. Aber das möchte ich nicht. Es geht hier um meine Erinnerungen und wenn ich es nicht mehr weiß, dann ist es eben so.
Mein Leben zwischen 20 und 30 verlief eigentlich ganz ähnlich wie meine Jugend: viele Neuanfänge, viele Abstürze. Viele Städte, Begegnungen. Freundliche Menschen, böse Menschen. Hoffnung und Scherbenhaufen. Der Wechsel von einem normalen Leben zu einem Leben ohne alles war manchmal so schnell, dass ich selber nicht begriff, wie ich da schon wieder gelandet war. Ein Leben im Sturm, von einer Geschehnis-Welle zur nächsten geschleudert. So rasant, dass mir niemals Zeit blieb, nach Land zu suchen.
Manchmal stelle ich mir die Frage, ob ich nicht genau das einfach hätte tun sollen: Land suchen, Boden unter die Füße bekommen. Ein besseres Konzept entwickeln. Nicht von einem Tag zum nächsten überleben, sondern mir eine Zukunft aufbauen. Nicht nur vorübergehend, sondern richtig. In dem Moment, in dem ich mir diese Frage stelle, wird mir klar, dass es die falsche Frage ist. Denn genau das habe ich damals versucht. Ich wollte nie so leben, wie es gekommen ist. Jede Stadt, jeder Job und irgendwie auch jede Beziehung war verbunden mit der Hoffnung und dem Plan wieder Fuß zu fassen.
Ich weiß nicht, warum das immer wieder gescheitert ist. Außenstehende mögen es als meinen Stolz oder meine Sturheit bezeichnen. Aber das allein war es nicht. Heute denke ich, es war Angst. Jeder Mensch, der mir hätte helfen können und es wahrscheinlich sogar getan hätte, hätte die Wahrheit über mich erfahren. Alles über mich. Alles über Felix. Das war genau das, was ich nicht wollte. Ich wollte normal sein, so wie alle anderen Jungs und Männer. Eine Arbeit, Geld, ein Dach über dem Kopf.
Hilfe annehmen hätte bedeutet, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, dass nichts von dem, was ich zu sein schien, stimmte. Wie würden die Menschen auf so eine Offenbarung reagieren? Das Ergebnis wollte ich nicht abwarten. Ich wandte mich ab, bevor sie es tun konnten. Oft ging ich, bevor ich vor die Tür gesetzt werden konnte. Meine Angst vor Ablehnung und Enttäuschung war stärker als die vor Hunger oder Einsamkeit.
In Panik und auf der Flucht kann man nicht planbar und logisch denken. Es mag Ausnahmen geben. Aber mir war es nicht möglich, in einer Krise zu refektieren, was die Konsequenz einer Handlung wäre. Dass dieses Mich-nicht-anvertrauen bedeutet, Hunger, Kälte und Einsamkeit zu erfahren.
Der singende Verehrer
Wir sitzen vor dem Fernseher und lachen uns schlapp über verschiedene Schlager, die sie in der Silvestersendung spielen. Noch mehr lachen müssen wir über die Frisuren und Fehltritte bei der Kleiderwahl. Wir nippen an unserem Sekt und fühlen uns, wie auch schon an Weihnachten, eher einsam hier, so mutterseelenallein in der Toskana. Wir haben Heimweh. Ganz bewusst nehmen wir uns nichts, aber auch wirklich nichts für das neue Jahr vor. Wir wollen es einfach auf uns zukommen lassen. Und mal ganz ehrlich, es ist mir persönlich äußerst selten bis nie passiert, dass es geklappt hat, mit dem, was ich mir so vorgenommen hatte. Silvester ist für mich ein Tag wie jeder andere. Nur weil laut dem Kalender ein Jahr zu Ende ist, muss ich doch keine Party machen oder irgendwelche Vorsätze fassen. Das kann ich immer tun. Jeder Tag ist ein neuer Anfang.
Zumindest war es bisher in meinem Leben so. Jeden Tag konnte alles passieren. Der ganz große Flug oder aber der ganz tiefe Fall. Ich war immer und überall auf beide Varianten vorbereitet. Wenn ich jetzt am heutigen Silvesterabend ein Resümee ziehen müsste, so wäre ich doch recht zufrieden. Es gibt immer Dinge, die verbesserungswürdig sind, aber im Großen und Ganzen bin ich auf dem richtigen Weg.
Im Fernsehen tritt soeben Wolfgang Petry auf die Bühne und schmettert einen seiner zahlreichen Liebes- und Partyhits in die Zuschauermenge. Lauthals singe ich mit und bin selbst überrascht, dass ich noch jedes Wort vom Text weiß. Sie dreht sich zu mir um und zieht fragend eine Augenbraue hoch. Ein extra in die Länge gezogenes „Schaaatz?“ ertönt. „Alles klar mit dir?“
„Alles bestens“, singe ich zurück, „ich finde die Lieder nur so geil und ehrlich, ich kann sie alle auswendig.“
„Ja, das ist schön, aber behalt das lieber für dich!“
Wir müssen beide lachen.
„Warum kannst du die eigentlich auswendig?“, fragt sie nach einer Weile mit einem Unterton, der unmissverständlich klar macht, dass es für sie keine Tugend ist, Wolfgang-Petry-Texte im Schlaf singen zu können.
„Wegen Joachim. Wenn ich den Wolle höre, muss ich immer an Joachim denken.“
„An Joachim? Und wer ist das?“
Ich steige aus dem Bus und nur mit Mühe kriege ich alles getragen. Ich habe etliche Taschen, Tüten, Rucksäcke und einen Hamsterkäfig dabei. Ich hänge mir so viel wie möglich über die Schultern und den Rest verteile ich auf meine Hände. Ich muss aufpassen, dass ich Kalle nicht zerquetsche, der in einem Waschlappen unter meiner Jacke hängt.
Die Hausnummer 42, zu der ich muss, hab ich aus dem Bus schon gesehen und so gehe ich die etwa 150 Meter von der Bushaltestelle zu dem Haus zurück. Als ich davor stehe, krame ich in meinen Taschen nach dem Zettel, den ich vom Sozialamt bekommen habe. Der berechtigt mich, hier in diesem Haus ein Zimmer zu beziehen. Aus meiner Wohnung musste ich raus, weil der Vermieter sie verkauft hat und ich für zwei Monate mit der Miete im Rückstand war.
Ich schaue an dem Haus hoch. Es ist ein ganz normales Einfamilienhaus, mit einer Garage und hinter der Garage sieht man noch ein zweites Hausdach. Vermutlich wurde da mal was angebaut. Es ist nicht schön, der sicher ehemals helle Putz ist grau, dreckig grau und bröckelt an vielen Stellen von der Wand. Die Eingangstür ist aus den Siebziger Jahren, mit gelbem Glas zwischen den einzelnen Metallelementen. Die Farbe vom Garagentor ist abgeblättert und es ist nicht ganz geschlossen. Unschlüssig stehe ich mit meinem Zettel vor der Tür und suche die Wand nach einer Klingel ab. Nichts zu sehen. Zaghaft klopfe ich an die Tür. Nichts rührt sich. Ich klopfe etwas lauter. Jetzt höre ich von drinnen ein Geräusch. Aber die Tür bleibt zu. Ich warte fast eine Viertelstunde und überlege mir gerade, wo wohl die nächste Telefonzelle ist, um beim Sozialamt anzurufen, als ein Auto vor die Garage fährt.
Die Autotür geht auf und eine große, rote, fette Hand mit dreckigen Fingernägeln, die aussieht, als würde sie mit einem lauten Knall platzen, wenn man mit einer Nadel hineinsticht, legt sich aufs Autodach, um den dazu gehörigen, noch fetteren Körper aus dem Fahrersitz zu hieven. Schnaufend steht der Klops dann neben seinem Auto und fixiert mich mit seinen winzig kleinen Schweinsäuglein, die vermutlich von Natur aus größer sind, jetzt aber hinter Tränensäcken so groß wie Fünf-Mark-Stücke und verquollenen Augenlidern fast gänzlich verschwinden. Das Gesicht ist aufgedunsen und hat eine ungesunde Farbe, die Nase leuchtet bläulich violett und ist so großporig, dass sich in den Kerben sicher so einiges verstecken kann. Die Haare sind so fettig, dass der schmalzige Geruch davon zu mir herüber weht. Die Hose trägt er bis weit über den Nabel, also ich vermute den Nabel dort irgendwo unter den Fettmassen, der Knopf fehlt und sie wird nur durch den Reißverschluss und einen Gürtel gehalten. Die Polyester-Trainingsjacke riecht auch auf die zwei Meter Entfernung deutlich nach Schweiß und Pisse. Bei dem Anblick juckt es mich gleich überall.
Sie sind Frau Altmann? Ja, sage ich und es ist mir in dem Moment nicht so doll unangenehm wie sonst, denn der Typ merkt doch echt nichts mehr. Okay, Zettel dabei? Ich reiche ihm den Zettel, er schaut ihn sich kurz an und holt dann ein Schlüsselbund mit mindestens zwanzig Schlüsseln aus seiner Hosentasche. Irgendwann, nachdem er schon mit einigen versucht hat die Tür aufzuschließen, findet er den richtigen.
Der Flur ist eng und muffig. „Geradeaus geht es in den Garten“, höre ich ihn. Wir gehen nach links und auf der rechten Seite sind drei Türen. Auf der linken Seite ist ein Türrahmen, wo die Tür fehlt. Er macht die erste Zimmertür auf. Hier ist das Zimmer. Ich gehe ein paar Schritte hinein und schaue mich um. Es ist ca. 5m x 5m groß. Auf der einen Seite steht ein Doppelbett, dem gegenüber ein Schrank. Vor dem Fenster, welches nach hinten zum Garten zeigt, steht ein...