Oder ist Yoga weiblich?
Die zwei Seiten des Hatha Yoga
Bevor ich mit Yoga anfing, hatte ich, außer vielleicht im Erdkunde- oder Physikunterricht, noch nie etwas vom Konzept der Polarität gehört. Und das, was ich in der Schule gelernt hatte, hatte bis dahin keinen großen Einfluss auf mein Leben bzw. die bessere Bewältigung meines Alltags gehabt. Das änderte sich allerdings schlagartig, als ich erfuhr, dass Polarität im Yoga ein wichtiges, wenn nicht sogar eines der wichtigsten Prinzipien ist, wenn es darum geht, Balance und Ausgeglichenheit herzustellen und gleichzeitig Transformation auszulösen.
Zunächst bemerkte ich das nicht bewusst, sondern nahm eher unterschwellig wahr, dass auf eine Übung mit der linken Körperseite die gleiche Übung auf der rechten Seite folgte, nach einer Vorbeuge eine Rückbeuge kam oder dass sich einer dynamischen Sequenz eine statische anschloss. Was ich jedoch nach jeder Yoga-Stunde deutlich spürte, war zum einen das Gefühl der Ausgeglichenheit und zum anderen eine erhöhte Bereitschaft zur Akzeptanz von Dingen, die im Lauf des Tages nicht so rund gelaufen waren. Und damit hatte ich, wie die meisten, die mit Yoga anfangen, schon zu Beginn und ohne es zu wissen, ziemlich viel über Polarität und das Ausbalancieren verstanden.
»Yoga« ist ein Wort aus dem Sanskrit, das sich in seiner wörtlichen Bedeutung mit »zusammengebunden« übersetzen lässt. Yoga ist entsprechend ein Weg in die Erkenntnis, dass alles zusammenhängt und nicht voneinander getrennt werden kann, und vor dieser Erkenntnis spielt die Auseinandersetzung mit der scheinbaren Getrenntheit eine wichtige Rolle. Diese Getrenntheit wird im Yoga durch Polarität beschrieben, was für mich persönlich ein sehr romantisches Konzept darstellt: Unterschiedliches und scheinbar Gegensätzliches kann hier zusammengehören wie ein Topf und sein Deckel.
In der Philosophie gilt Polarität als ein Ausdruck für das Verhältnis sich gegenseitig bedingender Größen. Anders als beim Dualismus, bei dem diese Größen als nicht miteinander vereinbar angesehen werden, ist mit der Polarität also ein komplementäres Verhältnis gemeint. Es geht nicht nur um das Gegensatzpaar an den Enden beider Pole, sondern um deren Beziehung zueinander und auch um das Feld dazwischen. Das eine lässt sich hier nur im Kontrast zum anderen definieren, was die beiden Pole zu den sich gegenüberstehenden Enden ein und derselben Sache macht und diese in ihrem Kontrast miteinander verbindet. Es gibt links nur mit rechts, Liebe nur mit Hass und männlich nur mit weiblich – und dazwischen jede Menge bunter Zwischentöne.
Das Empfinden dieser Polarität übte bei mir, wie wohl bei vielen Menschen, den stärksten Einfluss auf die beiden Aspekte Eigenständigkeit und Zusammengehörigkeit aus. Ich liebe es, allein und ganz mit mir zu sein. Als Kind soll mein zweites Wort nach »Mama« »leine« (allein) gewesen sein. Aber ich liebe es fast noch mehr, im nahen oder fröhlichen Austausch mit anderen zu sein. »Guck mal!« oder wahlweise »Komm spielen!« folgten dicht auf das Allein-Prinzip in Kindertagen. So entwickelte sich ein Tanz zwischen Nähe und Distanz, der, noch bevor ich mit Yoga begann, viele Fragen aufwarf und meine Identitätssuche als Frau und Mensch prägte und durch meine Unwissenheit in Bezug auf den Umgang mit zwei Polen zum Stocken brachte. In der Rückschau hat dies auch zu einigen unguten Entscheidungen im Zwischenmenschlichen geführt.
Im Yoga, allein auf meiner Matte und doch zusammen mit anderen, hatten die beiden Pole von Beginn an Platz. Diese erlaubte Mischung aus Alleinsein und Mit-anderen-Sein, aus Autonomie und Verschmelzung, Individualität und Gleichheit beruhigte mich von Anfang an und gab mir Halt. Deshalb wollte ich unbedingt mehr darüber wissen, warum das für mich hier, im Yoga, möglich war und »da draußen« nicht.
Und so tat ich, was viele tun, die sich schon von Beginn an in der Yoga-Stunde wie zu Hause fühlen: Ich übte mehr Yoga und besuchte schließlich auch verschiedene Aus- und Fortbildungen.
Ida, die mit dem Mond tanzt
Und so lernte ich im Hatha Yoga zwei der wichtigsten Nadis kennen, Ida und Pingala.
Nadis kann man nicht sehen. Sie sind, ähnlich wie Meridiane, Energiebahnen, die sich durch den ganzen Körper ziehen und Prana, einen Ausdruck für Lebenskraft oder Vitalität, transportieren. Während in der Traditionellen Chinesischen Medizin die Meridiane minutiös verortet sind und mittels Akupressur und Akupunktur entlang dieser Meridiane den Organen geholfen werden kann, besser zu arbeiten, sind die Nadis im Yoga nicht so genau verortet und werden weniger punktuell als flächendeckend durch Körper- oder Atemübungen angeregt.
Dass ich die indische Mentalität liebe und diese mich zugleich auch immer wieder irritiert, wird für mich in diesem Zusammenhang an folgendem Satz deutlich, den ich im Rahmen meiner Ausbildung an der Bihar School of Yoga hörte: »Wir haben im Yoga 72 000 Nadis, aber konzentriere dich besser nur auf drei.«
Und diese drei hier angesprochenen und im Yoga viel verwendeten Nadis, Ida, Pingala und Sushumna, bringen die Idee von Polarität und Einheit symbolisch sehr gut auf den Punkt. Ida und Pingala stehen sich hier als Pole gegenüber. Beide zusammen stehen für die Getrenntheit der Dinge und ihren Kontext miteinander. Sushumna hingegen ist die Energielinie für den direkten Weg der Einheit. Wie eine Art Autobahn führt sie in der Mitte des Körpers und durch die Wirbelsäule schnurstracks vom Beckenboden hinauf bis zur Kopfkrone, und von da in den Zustand der Nondualität, da, wo alles eins ist. Allerdings sind auf dem Weg dorthin mehrere »Stopps« eingefügt, und zwar in Form der Chakren, die als Wegmarken – oder manchmal auch wie Baustellen oder Straßensperrungen – auf dem Weg liegen und passiert werden wollen.
Ida und Pingala hingegen sind da eher wie zwei Landstraßen oder Serpentinen, die sich gegenläufig von links nach rechts, wie eine Helix, immer wieder in Sushumna auf der Höhe der einzelnen Chakren kreuzend nach oben bewegen. Ida startet links, Pingala rechts. Und sie treffen sich schließlich am Punkt zwischen den Augenbrauen und münden final in Sushumna für die letzte Etappe auf dem Weg in die Erleuchtung. So das grobe Prinzip, das in sich ziemlich klar ist. Schwierig wird es nun, wenn verschiedene Interpretationen hinzukommen, wofür die Pole Ida und Pingala jeweils stehen. Für uns hier in diesem Buch gehört die Auseinandersetzung damit unausweichlich dazu, denn Ida wird mit der weiblichen Seite in Verbindung gebracht und als »Mondseite« bezeichnet.
Sind Frauen passiv?
Das vorherrschende Merkmal an Ida ist, dass sie in erster Linie passiv ist. Es ist die energetische Seite im Menschen, die, laut Yoga, empfängt statt gibt, sich nach innen wendet, statt sich nach außen zu exponieren und sich eher kühl als warm anfühlt. Wenn du Vorbeugen lange hältst, dann kannst du diese Attribute spüren, egal ob du eine Frau oder ein Mann bist. Und das ist auch mit »weiblich« und »männlich« in der Welt des Yoga, in der Welt von Ida und Pingala gemeint: energetische Felder, die sich durch die groben und feinen Körperempfindungen ausdrücken. Was nicht gemeint ist, ist das biologische Geschlecht oder darauf bezogene psychologische Interpretationen wie: »Frausein heißt empfangen« oder »Frausein heißt passiv zu sein«. Das sind meines Erachtens Deutungen, die erst in unserer Zeit entstanden sind, um da Orientierung zu schaffen, wo es an Orientierung fehlt, und um dort Eindeutigkeit zu schaffen, wo der Wunsch nach Halt besteht. Aber genau darin liegt für mich die Schönheit des Yoga: Er lässt sich in seiner Klarheit nicht so vereinfachen, dass er eindeutig wird. Er bleibt eine Disziplin der messerscharfen Unterscheidungskraft, und wir kommen in Teufels Küche, wenn wir Yoga dazu nutzen, ihn für unsere Zwecke auszulegen. Denn dann wird es eng, und wenn es eng wird, dann sind wir zwar die Herausforderung der Komplexität los, aber in der innerlichen Suche nach Orientierung eigentlich keinen Schritt weiter. Ich erlebe es zwar auch immer als kurzzeitige Erleichterung, wenn ich Konzepte aus dem Yoga nutze, um Komplexität zu vereinfachen, merke aber mittlerweile recht schnell, wie es dann unter der Oberfläche brodelt und sich etwas wehrt, weil, laut Yoga, der Weg zu innerer Ausgeglichenheit und Frieden in der Annahme der Komplexität besteht, wodurch, und das ist fast poetisch, alles in sich ganz einfach wird.
Vor diesem Hintergrund ist das Prinzip von Ida also passiv, und dies meint: empfangend, introvertiert, kühl. Der Mond, im Sanskrit Chandra genannt, bekommt hier als Symbol eine zentrale Bedeutung.
Das Prinzip von Pingala ist hingegen aktiv, und dies meint: extrovertiert und warm. Hier hat die Sonne, auf Sanskrit Surya genannt, als Bild eine zentrale Bedeutung.
Und um die Frage aus der Überschrift zu beantworten: Nein, Frauen sind nicht passiv. Und ja, im Yoga ist die weibliche Energie empfangend.
Shakti, die dem Mond seine Gesichter gibt
Im Yoga gibt es neben dem philosophischen Prinzip der Polarität auch die Psychologie der Vielfalt. Besonders wenn man einen Blick in den Götterhimmel wirft, wird deutlich: Hier gibt es alles! Und ähnlich wie bei den Nadis hört man, wenn man hier einen Inder fragt, wieder recht hohe, aber nicht recht nachvollziehbare Zahlenangaben: »In Indien haben wir drei Millionen Götter.«
Etwas...