DIE STADT
Der zwergenhaft kleine Mann, spitze Nase, hohle Wangen, aber die Stirn eines Jupiter, die sich majestätisch über den tiefliegenden Augen wölbt, Philipp Melanchthon also – da steht er und bebt wie Espenlaub.
Denn vor ihm tobt ein Berserker.
Zweifelnd hat er sich zunächst geweigert, ihn überhaupt wiederzuerkennen, diesen Mann mit dem struppigen Haupthaar und dem Bart wie ein Ginsterbesen, in ein schwarzes Reiterhabit gekleidet; überm Gürtel wölbt sich der Ansatz eines Bauches.
Die Stimme freilich ließ keine Frage offen – das tönende Organ des Predigers, fähig zu allen Farben, vom sanften Säuseln bis zum Donner des Zorns.
Und jetzt ist Donner angesagt. Gewaltiger Donner.
Weiland Bruder Martinus, der Herr Doktor Luther sodann, danach also der Junker Jörg, liest seinem Freund und Bruder die Leviten.
Sie stehen sich gegenüber im Innenhof der Universität, das ist einer der wenigen Plätze, die man trockenen Fußes begehen kann nach einem Regen, denn er ist mit Kopfsteinpflaster versehen. In diesem elenden Nest Wittenberg versinkt man bis zu den Knöcheln im Schlamm, sobald Wasser vom Himmel kommt.
Stehen also da, der seit Neuestem stiernackige Kerl und das Männlein, und beide wissen, der eine triumphierend, der andere bleich vor Scham, dass hinter den geöffneten Fenstern und den Säulen der Arkaden das akademische Volk steht, vom Baccalaureus bis zum Alumnus, und atemlos zuhört.
Der Ankömmling macht Melanchthon fertig nach allen Regeln der Predigtkunst.
Zunächst geht er, wie die antiken Rhetoren, aufs Persönliche.
Er, also Luther, habe den jungen Mann einstmals mit offenen Armen aufgenommen wie einen eigenen Sohn, seinen Graeculus, sein Griechlein, habe er ihn genannt, habe ihm, ungeachtet seiner Jugend, gestattet, die Studiosi zu lehren und in Disputationes seinen luziden Geist leuchten zu lassen.
Sodass er ihm alles Vertrauen der Welt geschenkt habe, tönt er, ihn gleichsam als Vizekönig und Statthalter seiner Person und seiner Sache zurückgelassen habe, von ihm erwartend, dass er verstanden hätte, einfach verstanden, was es auf sich habe mit der Abkehr von teuflischem Papsttum und der Verderbnis der Christenseelen. Und nun, was müsse er sehen, was erleben? Sodom und Gomorrha!
Er wendet sich ab von dem »Graeculus« und geht mit weit ausgreifenden Schritten eine Runde um den Hof, in dessen Mitte nun der Gescholtene allein steht wie einer am Pranger und sich mit Mühe Zorn und Beschämung verbeißt. Man gibt Luther keine Widerworte.
Der hingegen stellt mit Genugtuung fest, dass die jungen Gelehrten Wittenbergs seiner Philippika gelauscht haben und also nun wissen, woher der Wind weht.
Dann, die Arme auf dem Rücken verschränkt, den Kopf gesenkt wie zum Angriff, fährt er wieder auf Melanchthon los.
Stellt ihm nur eine Frage: »Wo ist der Rektor? Wo ist Karlstadt?«
Melanchthon, in all seiner flattrigen Demütigung, verspürt eine gewisse Schadenfreude. Nein, nicht er, Philippus, ist Verursacher des ganzen Durcheinanders hier in Wittenberg. Der andere ist’s. Er hatte nur den Auftrag, Luthers Sache zu vertreten und zu wahren. Aber konnte er wissen, wie weit der Meister diese seine Sache ausgedeutet sehen würde? Ob es nicht vielleicht in seinem Sinne sei, was hier geschehen ist?
Er zuckt die Achseln. »Vielleicht predigt er in den Gassen? Oder gar auf den Dörfern?«, mutmaßt er und sieht, wie Luthers Angesicht sich rötet.
»Was untersteht er sich, dieser windige Wirrkopf? Karlstadt ist kein Priester. Und er tut es gewiss in deutscher Zunge?«
»Gewiss doch.«
Melanchthon beißt sich auf die Lippe und versteckt seine zittrigen Hände nach Gelehrtenart in den Ärmeln seines Talars.
Flüchtig erinnert er sich, dass besagter Martinus, so, wie er jetzt vor ihm steht, in weltlicher Tracht nun, verwildert und aufgeschwemmt, vor Jahresfrist noch auf der Reise nach Worms, dürr und fiebrig und in der Augustinerkutte, in jedem Flecken, wo er Station machte, voller Glut das Evangelium gepredigt hatte – in deutscher Zunge.
Doch das tut jetzt nichts zur Sache. Er ist zutiefst getroffen. Er ist vernichtet. Er weiß, auch Karlstadt wird nicht standhalten können, wenn dieser Rammbock Gottes ihm entgegenkommt, er wird einknicken wie ein Schilfrohr im Sturm. So wie er selbst, der er bis noch vor wenigen Augenblicken überzeugt war davon, dass ihre Sach’ die rechte sei hier zu Wittenberg – nun wohl, ein bisschen wild schon hin und wieder, aber das würde sich einpendeln mit der Zeit, wie der Zeiger auf einer Waage.
Luther indes ist zum Tor gegangen, wo er irgendwelche Anweisungen erteilt, kommt zurück.
Die Strafpredigt ist zu Ende.
»Ich habe«, sagt er, nun beinah beiläufig, »Order gegeben, den Wagen zur Wartburg zurückzuschicken. Meines Bleibens ist hier, und auf Dauer, ich kann nicht zurück. Das muss kurfürstliche Gnaden verstehen, wenn nicht alles zugrunde gehen wird, was ich begonnen habe. Morgen wird die Epistel an Seine Gnaden verfasst.
Heutzutage über Land zu fahren, ist ohnehin wie ein Spaziergang durch die Hölle. Da sieht man Bauern, so klapperdürr wie verhungerte Gäule, die haben ihr Weib vor den Pflug gespannt, weil ihnen der Grundherr den letzten Ochsen weggetrieben hat, und zerlumpte Kinder laufen neben deinem Karren her und strecken die Hände aus und betteln um ein Stück Brot.
Lass uns gehen und die Schrecknisse ansehen, die hier zu Wittenberg geschehen sind.«
Nun also ist er wieder völlig gelassen, völlig alltäglich.
»Danach«, so fährt er fort, »will ich zunächst in deinem Haus Quartier nehmen, denn meine alte Behausung im Schwarzen Kloster ist ja wohl dahin, da ich kein Mönch mehr bin. Will diese Verkleidung abnehmen und wieder zum ehrbaren Doktor werden. Meinen Mantelsack mit den Büchern und meine Lauten lass ich zu dir bringen. Die Verbannung nach Patmos ist vorbei. Schaffst du mir dann einen Gelehrtentalar, Bruder?«
Plötzlich Bruder wieder, und eine Hand auf der Schulter.
Die Fenster und Arkaden leeren sich von Zuschauern. Das Spektakel ist vorbei.
Nieselregen setzt erneut ein, als hätte er auf ihr Erscheinen in den Straßen gewartet. Wann regnet es hier nicht? Das Klima ist mörderisch. An diesem grauen Maitag offenbart die elende Stadt ihre ganze Hässlichkeit. Die beiden Männer waten durch den Schlamm der Straßen, vorbei an den Katen der Bierbrauer und Trödler. Melanchthon hat seinen Gelehrtenrock geziert mit zwei Fingern gerafft, trotzdem spritzt der Dreck aus den Pfützen ihm bis hoch an den Saum. Luther in seiner weltlichen Tracht, grobe Lederstiefel an den Füßen, stapft mit zornigen Schritten voran, ohne sich um kotige Pfützen zu kümmern.
Er hasst diese Stadt. Nach den lieblichen Hügeln Thüringens, auch wenn er sie nur vom Fenster des Turmzimmers hat sehen können, nun diese Ödnis. Keine Wälder, mal im grünen Schmuck, oder bereift und unter der Schneelast gebeugt, keine Weingärten oder Obsthänge wie dort im Süden, nur triste Felder und sumpfige Wiesen ringsum, auf denen dürres Vieh weidet.
Schloss, Universität, Kloster und Kirche sind die einzigen Bauten, die den Namen verdienen, dazu noch ein paar Bürgerhäuser am Markt. Alles andere macht keinen Staat – elende Hütten.
Und doch – er lächelt in sich hinein, besänftigt nun wieder – hat dies Nest Studenten aus aller Welt angezogen in den letzten Jahren, dank der Leuchten der Wissenschaft, die hier lehren: Karlstadt, Cellarius, Melanchthon. Martin Luther.
Eine Windbö schlägt ihnen ins Gesicht, zwingt sie beide, das Kinn im Kragen zu verbergen.
Philipp Melanchthon knirscht mit den Zähnen.
Er vermutet, dass der nächste Wutausbruch des teutschen Herkules bevorsteht, wenn sie an der Kirche angelangt sind – und gut, dass er zunächst nicht ins Schwarze Kloster will …
In einem schmerzhaften Gemisch von einander widerstreitenden Gefühlen fragt Melanchthon sich, wie denn der, der andere, dazu kommt, sich ungefragt in seiner Behausung einquartieren zu wollen, ihn außerdem beauftragt, für standesgemäße Kleidung zu sorgen, und ihn nun hinter sich herschleppt wie ein Hündchen am Strick … und ja, es ist in seiner Brust außer Angst und Wut und Ärger auch so etwas vorhanden wie Stolz. Stolz darauf, wie selbstverständlich dieser Mann ihn denn doch als seinen Bruder zu betrachten scheint – einen minderen Bruder, gewiss, einen Bruder, der versagt hat als sein Stellvertreter vor Ort, aber dennoch.
Vielleicht ist er ja in Ungnade, aber nicht davongejagt. Denn man will bei ihm hausen.
Luther, der ihm immer einen halben Schritt voraus ist, rutscht aus an einer besonders morastigen Stelle, fällt, stützt sich mit den Händen ab; Melanchthon versucht gar nicht erst, ihm aufzuhelfen, klein und schwächlich wie er ist, würde er ohnehin nur mit in den Dreck gezogen. Luther erhebt sich, die schmutzigen Hände anklagend vorgestreckt – soll er, Philippus, ihn etwa säubern? Doch dann wischt sich der Gestürzte die Finger an seiner eigenen Montur ab, und flucht: »Dieses Nest ist eine Schindleiche!« So verschmiert an Hand und Fuß, betreten sie die Schlosskirche.
Kein Heiligenbild ist mehr an seinem Platz. Der Opferstock fehlt. Fenster sind klaffende Höhlen, in den Rahmen hängen hier und da noch einige Scherben. Der Beichtstuhl liegt umgekippt und wirkt wie ein Sarg. Der Statue der heiligen Jungfrau Maria hat man das Gesicht zerschlagen.
Aber wo bleibt es, das Wüten?
Luther geht stumm durch das Kirchenschiff,...