Susanne Marschall
Satyajit Rays Handschrift in der APU-Trilogie
I. Der Erzähler
In 334 Filmminuten folgt Satyajit Ray seiner bekanntesten Filmfigur durch ein bewegtes Leben, dessen Essenz der Held selbst im dritten Teil, APUR SANSAR (APUS WEG INS LEBEN – 3: APUS WELT, 1959), auf den Punkt bringt: »A wonderful novel. (…) It’s about a boy. A village boy. Poor, but sensitive. Father, a priest. He dies. The boy doesn’t want to be a priest. He wants to study, he’s ambitious. He studies. In the process, I see him struggle. He sheds superstition and prejudice. He takes nothing on trust. He tries to be rational. He has imagination, he’s intrigued by little things. He has greatness in him, perhaps. He has the ability to create. But he doesn’t … Right, but that’s not a tragedy. He remains poor, in want. But he doesn’t turn from life, he doesn’t want to escape. He is fulfilled, he wants to live. The point of life is to live it.« Apu sieht seine berufliche Zukunft in der Poesie, mit Haut und Haar Dichter und Poet stöbert er im Fundus seines eigenen Lebens und nimmt es als Material für seine Kunst. Eine Art Autobiografie mit fiktionalen Anteilen schwebe ihm als Werk vor, so berichtet Apu seinem engen Freund Pulu (Swapan Mukherjee) während eines nächtlichen Spaziergangs durch Kalkutta, bis Pulu ihn an einem heiklen Punkt, dem Thema Liebe, abrupt unterbricht. Alles, was Apu über sein fiktionales Alter Ego zu berichten weiß, hat er selbst erlebt, nur die Liebe, über die er schreiben möchte, noch nicht. Ihr will er mithilfe seiner Fantasie literarisch Herr werden. Pulu widerspricht an diesem Punkt vehement. Mit dieser Schlüsselszene schließt Ray den Kreis zum Anfang seiner Trilogie und leitet zugleich das zentrale Thema des letzten Films ein, die enge Verbindung von Liebe, Leid und Künstlertum, die der erwachsene Apu erfahren muss und die ihn vollkommen verwandeln wird.
Der lange Dialog zwischen Pulu und Apu wird von Rays damaligem Kameramann Subrata Mitra in einer halbnahen, ungeschnittenen Rückwärtsfahrt der Kamera aufgenommen, die im Moment von Apus schwärmender Selbstbeschreibung abbricht, und zwar genau bei den Worten: »A village boy. Poor, but sensitive.« Im Takt dieser Sentenz rückt die Kamera ein entscheidendes Stück näher an den Schwärmer heran, der durch die Kadrierung und das Dunkel der Nacht für die nächsten Augenblicke mit sich allein zu sein scheint. Der Monolog, wie auf einer Bühne dargebracht, endet mit Apus in englischer Sprache hervorgehobenem Satz »He wants to live«. Erst jetzt wendet sich die Kamera wieder dem Skeptiker und Realisten Pulu zu, der Apu eigentlich gerade zu einem Brotberuf überreden will, und erfasst die beiden Schauspieler in einem Two Shot. Während einer diesem wichtigen Dialog vorangestellten Essensszene im Restaurant hat Pulu Apu gebeten, ihn in einer familiären Angelegenheit zu begleiten, zu einer Hochzeit nach Khulna, in eine ländliche Gegend, die Apus Kindheitsräumen aufs Haar gleicht: »An old-world village, a lovely river with boats on it, fields of grass and paddy. Bamboo groves, mango orchards, trees full of birds, magpies, thrushes, nightingales. And in the evening fireflies and oil lamps aglow. No electricity.« Pulus Beschreibung und Apus schallendes Lachen verweisen auf den Beginn der Trilogie, deren erster Teil PATHER PANCHALI (APUS WEG INS LEBEN – 1: AUF DER STRASSE, 1955) genau in diesem Milieu spielt. Apu, der im Hier und Jetzt lebt und das Ziellose liebt, folgt dem Freund zu dem Hochzeitsfest und ersetzt dort spontan – aus der Not der Situation geboren – den Bräutigam. Aparna tritt in sein Leben und mit ihr eine große Liebe.
Pulus Imagination des ländlichen Lebens ruft bei Kennern der APU-Trilogie die wohl berühmteste Sequenz des ersten Films in Erinnerung, in der Durga ihren kleinen Bruder Apu zu den Bahngleisen führt, um auf die Durchfahrt des Zuges zu warten. Die Szene wurde in einem weitläufigen Feld blühender Gräser gedreht, deren weiß auslaufende, vom Wind bewegte Blütenstände inmitten der ansonsten eher kargen Landschaft einen Raum der Imagination eröffnen – die richtige Kulisse für das besondere Erlebnis, auf das die beiden Kinder gespannt warten. Die Idylle der Landschaft wird durch die Spuren und Zeichen der Technik – Strommasten, Kabeltrassen und die dunklen Rauchwolken, die der schwarze Zug hinterlässt – gebrochen. Mit der prominenten Inszenierung des Zuges und dessen schneller Bewegung – für eine Weile blickt die Kamera durch das Fahrwerk des Zuges hindurch auf die Landschaft, die nun kaum noch zu erkennen ist – werden Apus künftige Reisen zwischen der Heimat des Dorfes und der Großstadt Kalkutta bereits symbolisch vorweggenommen. Zugleich etabliert Ray mit dem Zug den Beginn einer Motivkette, die sich durch die ganze Trilogie hindurchziehen wird.
In Indien wurde die Eisenbahn in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die britische Kolonialmacht eingeführt und von der Bevölkerung ohne Weiteres als modernes Fortbewegungsmittel angenommen. Bis heute hat die indische Eisenbahn einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft und garantiert bei relativ niedrigen Fahrtkosten Mobilität. In PATHER PANCHALI verkörpert die Eisenbahn Modernität und bildet einen starken Kontrast zur Dorfkultur, die überwiegend von alten Traditionen beherrscht ist. Der kleine Apu tritt in der Zugsequenz als Kindgott mit einem an den Hirtengott Krishna erinnernden Kopfschmuck in Erscheinung und führt ein Kalb mit sich. Immer wieder wird Ray in den beiden folgenden Filmen der Trilogie seinen Protagonisten Apu in Anspielung auf Krishna auf einer Flöte spielend zeigen, wodurch er ihn als spielerisch veranlagte, leichtherzige Künstlergestalt charakterisiert und zugleich darauf hinweist, dass diesem im Dorf eine Sonderstellung zukommt. Apu verortet sich wenig später selbst außerhalb der Traditionen, vor allem innerhalb der Familie, denn er weigert sich, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und wie ein guter Brahmanen-Sohn als Priester zu wirken. Schon als Jugendlichen zieht es ihn in APARAJITO (APUS WEG INS LEBEN – 2: DER UNBESIEGBARE, 1957) in die Großstadt Kalkutta. Ray bewegt sich in vielen seiner späteren Filme in dieser Dichotomie zwischen Land und Stadt, auf deren soziale Komplexität Chandrani Chatterjee in ihrem Text »Translated City – Die Großstadt in Satyajit Rays Filmen« eingeht. Auch wenn Ray sehr oft vor allem mit dieser ländlichen Szenerie aus PATHER PANCHALI assoziiert wird, so spielen viele seiner Filme, allen voran seine Emanzipationsgeschichten, in den anonymen, chaotischen und heterogenen Milieus der modernen Großstadt, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern wesentlich größere Handlungsspielräume und mehr Freiheiten zu bieten hat als das Dorf, in dem sich Apus Mutter als junge Frau so verloren vorkommt – isoliert, ohne Möglichkeiten zur Kommunikation mit anderen Menschen als der Familie und den böswilligen Nachbarn.
Betrachtet man Rays Gesamtwerk, so scheinen viele seiner grundlegenden Themen bereits in der Trilogie angelegt zu sein. Allen voran ein epischer Gestus, aus der Leidenschaft für das Erzählen und den Roman geboren – für die bengalische Literatur, welche Ray immer wieder als Quelle für seine Filme diente. Das Milieu, in dem Apu geboren und aufgewachsen ist, die Armut und Einfachheit des Dorfes, entsprechen allerdings weniger Rays biografischer Herkunft als vielmehr den Lebenserfahrungen des bengalischen Autors Bibhutibhushan Bandyopadhyay (1894–1950), dessen Erzählung Pather Panchali im Jahr 1929 veröffentlicht wurde. Ray kam während seiner Tätigkeit als Illustrator mit dem Buch in Kontakt und es ließ ihn über die Jahre nicht mehr los, bis er es endlich – wiederum in einem jahrelangen schwierigen Produktionsprozess – auf die Leinwand bringen konnte. Als Chronist einer Familie, aber auch der allgemeinen Stadien des Menschseins, die während eines Lebens zu durchlaufen sind, spannt Ray in PATHER PANCHALI einen symbolischen Bogen zwischen den Frauen der Familie, von der zahnlosen Greisin Indir (Chunibala Devi), einer entfernten Verwandten, die sich durch ihr bisweilen clowneskes Verhalten regelmäßig den Zorn der Mutter Sarbajaya (Karuna Bandyopadhyay) zuzieht, hin zu Apus älterer Schwester Durga (Uma Das Gupta/Runki Banerjee). Durga macht ihrem göttlichen Namen alle Ehre, nicht zuletzt, weil sie sich energisch den Zumutungen der Armut widersetzt.
Die Leinwand gehört in PATHER PANCHALI eindeutig und in gleichem Maß diesen drei Frauen und deren kompliziertem Beziehungsgefüge, das vor allem durch Sarbajayas anhaltende Wut choreografiert wird. Wie in vielen seiner späteren Filme widmet sich Ray einer intensiven Auseinandersetzung mit den Lebenssituationen seiner Protagonistinnen und deren Konflikten mit den ihnen zugewiesenen traditionellen Rollenbildern. Wie die beiden Beiträge von Sreenanti Banerjee und Pradnya Bivalkar zu Satyajit Rays Frauenfiguren ausführen, lässt sich diese lebenslange Auseinandersetzung des Regisseurs mit Geschlechterbildern und deren Wandel im Kontext der Moderne aus unterschiedlichen, kritischen Perspektiven betrachten. In PATHER PANCHALI, aber auch den späteren Filmen, gibt Ray besonders Sarbajaya...