Dieses Bild ist nicht subtil: Sieben Frauen beugen sich dicht gedrängt über etwas, sehen auf etwas herab, das selbst nicht gezeigt ist. Faszination, Neugierde, aber auch Furcht steht in ihren gut ausgeleuchteten Gesichtern. Eindeutige Reaktionen sind auf diesen Gesichtern zu lesen, alle sieben halten sie sich auf Distanz zum Objekt ihrer Beobachtung. Sie geben damit auch ein Bild des Kinos, weil dieses Bild sofort Fragen aufwirft: Worauf blicken diese Frauen? Auf eine Leiche? Auf einen Mann? Was erregt sie? Was wird geschehen? Das Titelbild dieses Heftes aus dem Film 8 FEMMES (8 FRAUEN, 2002) zeigt sich als Teil einer Abfolge von Blicken und Blick-Objekten, von Lust und Schrecken, von Aktion und Reaktion. Ein deutliches Kino also, nicht subtil in seiner Kostümwahl, in seinen Farben, nicht in seiner Kameraperspektive. Unter den Protagonistinnen sind mit die bekanntesten Gesichter des französischen Kinos – Catherine Deneuve, Isabelle Huppert, Fanny Ardant oder Emmanuelle Béart. Ihre Stellung direkt nebeneinander und frontal zur Kamera verrät sofort den ordnenden Eingriff einer Bildregie, einer Anordnung hin zur »vierten Wand«, wie sie das Theater vorgibt.
Allein in diesem Standbild aus dem bisher größten Erfolgsfilm des französischen Autorenfilmers François Ozon erscheint vieles, was seine Arbeiten prägt: Subtil, im Sinne von differenziert oder zurückhaltend, sind sie eher selten. Sie erscheinen vielmehr selbst-bewusst inszeniert und lassen wenig Raum für psychologische Ambivalenzen. Und doch werden sie immer wieder auch als Herausforderung, als ein prüfender Blick auf das Publikum verstanden. Hier konkret, allein schon wegen der ungewöhnlichen Besetzung, eine Herausforderung des traditionellen männlichen Blicks, der bis heute den Kinofilm dominiert. Denn diese Frauen – verkörpert von ikonischen weiblichen Filmstars, und somit privilegierte und als solche meist einzeln inszenierte Objekte dieses Blicks – blicken hier, versammelt als größere Gruppe, zurück. In geballter Menge werden die Filmfiguren selbst zum Publikum und drehen den Spieß um. Wie es ihnen als »Vergötterte« zukommt, blicken sie nach unten. In der Szene, der dieses Bild entnommen ist, blicken sie auf eine Figur, die gestorben sein könnte, auf den leblosen Körper von Madame Chanel (Firmine Richard). In dieser Werbeaufnahme für den Film stehen sie aber eben auch symbolisch für eine Versammlung von Frauen, die auf das blicken, was komplementär zu ihnen steht. Sie blicken somit auch auf den sprichwörtlichen »kleinen Unterschied«, der, anders als im Sprichwort, hier tatsächlich von [3|4]der Perspektive nach unten gesetzt und im Mengenkontrast an Wichtigkeit einbüßt. Sie blicken auf den Mann, von dessen scheinbarem Tod diese Figuren in dramaturgische Bewegung gesetzt werden, und mit ihm auf das System des »Herr des Hauses«, dessen plötzliches Fehlen ganz neue Dynamiken freisetzt.
Begehren und Tod ebenso wie der gesellschaftlich aufgeladene Unterschied von Mann und Frau werden in diesem Bild aufgerufen. Es kann als beispielhaft für das filmische Werk Ozons gesehen werden, für seine Filme, die sehr häufig aus diesen komplementären Kräften ihre Energien ziehen. Der Ausgang dieser Konflikte erscheint bei Ozon allerdings ergebnisoffen: Bisweilen schaffen seine weiblichen oder schwulen Figuren, wie die bei Pedro Almodóvar, eine eigene Welt, ein selbstbestimmtes Universum, das die Herrschaft der »alten Männer« herausfordert. Dann stehen sie befreit am offenen Grab des Patriarchen, wie am Ende von SITCOM (1998), haben sich von ihrem weißhaarigen und dominanten Verleger frei geschrieben, wie in SWIMMING POOL (2003), oder sich erfolgreich an einer neuen Definition von »Familie« versucht, wie in UNE NOUVELLE AMIE (EINE NEUE FREUNDIN, 2014). Andere jedoch scheinen sich ganz aufzulösen im Schmerz um ihren vermissten Mann, wie in SOUS LE SABLE (UNTER DEM SAND, 2000), oder ergeben sich ganz ihrer sexuellen Hörigkeit vor dem dominanten älteren Herren, wie in GOUTTES D’EAU SUR PIERRES BRÛLANTES (TROPFEN AUF HEISSE STEINE, 2000): Das Universum dieser Filme deutet die Möglichkeit anderer Verhältnisse zwar an, vergisst dabei aber nie das dominante Erbe der etablierten Geschlechter- und Machtverhältnisse.
Die knalligen Farben und der lustvolle Umgang mit Kino-Klischees wie in 8 FEMMES machen jedoch nicht die einzige Tonart aus, die diesen Drehbuchautor und Regisseur beschäftigt. Mit SOUS LE SABLE, der ersten Hälfte von RICKY (2009) oder JEUNE & JOLIE (JUNG & SCHÖN, 2013) führt er vor, dass auch das fast unsichtbare Drama einer stillen Verdrängung, die Alltagsrealität einer prekären Kleinfamilie oder das psychologische Rätsel des Heranwachsens zu den Gegenständen gehören, mit denen er ein Publikum zu beschäftigen vermag. Wer also den »neuen Ozon« sehen möchte, kann also gerade nicht wissen, was ihn oder sie erwartet. Umso erstaunlicher erscheint es, dass sein Name zu den wenigen gehört, die sogar hierzulande als »Marke« in der Vermarktung der Filme genannt werden. Dabei zieren nur selten die gerne eingesetzten, kleinen, lorbeerumkränzten Prädikate die Plakate seiner Filme. Sowohl die Filmkritik als auch die Jurys der großen Festivals haben andere Lieblinge als diesen hochproduktiven Franzosen, der in den letzten 18 Jahren fast einen Film [4|5]pro Jahr in die Kinos gebracht hat. Im September soll sein jüngster Film FRANTZ (2016) erscheinen.
Weniger das perfekte Einzelstück als vielmehr das Wagnis des Neuen und das Risiko des Scheiterns scheinen ihn zu interessieren. Wobei das eine vom anderen abhängt: Ein entscheidender Vorteil seiner Arbeitsweise sei, wie er selbst in Interviews sagt, dass er beim Erscheinen eines Films schon mitten in der Herstellung des nächsten stecke. Ein Misserfolg beim Publikum oder in der Fachwelt bedrohe damit weder die Finanzierung des nächsten Projekts, noch könne er es sich erlauben, sich dadurch selbst lähmen zu lassen.
In vielerlei Hinsicht führt Ozon damit auch die Tradition eines Rainer Werner Fassbinder fort, dessen Theaterstück Tropfen auf heiße Steine er im Jahr 2000 verfilmte. In beider Filme erscheint die Bühne weniger als überkommene Vorform als vielmehr lebendiges Gegenüber zur Kinematografie. Die häufig tableauhafte Inszenierung hin zur unsichtbaren »vierten Wand« (wie auch auf dem oben beschriebenen Titelbild) zeigt diesen Bezug in Bildgestaltung und Schauspielerführung. Beider Filme präsentieren zudem immer wieder auch starke Frauen und homosexuelle Männer. Sie zeigen Figuren, die weder in Stereotype verfallen noch sich dem Zuschauer anzubiedern scheinen. Gleichzeitig zeigt der gegenwärtige Ozon, ähnlich wie der späte Fassbinder, ein Bewusstsein für das, was die europäische »Hochkultur« noch häufig verschmäht: die filmische Tradition des klassischen Hollywoodkinos, Melodram oder Boulevardtheater – also das eben nicht subtile Kino, die Freude am Überdeutlichen, am offensichtlichen Bewusstsein für die Künstlichkeit der Filmrealität.
Wie die Figuren auf diesem Standbild aus 8 FEMMES enthalten auch Ozons Filme ein Bewusstsein dafür, dass das Kino eine Kunst ist, die von einem größeren Publikum gesehen werden muss, um überhaupt existieren zu können. Und dass es zwar von einer großen Tradition lebt (deren unterschiedliche Epochen diese weiblichen Stars verkörpern), dass diese aber auch in jedem Moment neu fortgeschrieben werden will, um nicht in »Museumsruhe« vor sich hin zu dämmern: Ludivine Sagnier als selbstbewusste Besetzung seines weiblichen Stars stellt Ozon hier an die Seite der schon bekannten großen Frauen. Somit ist es vielleicht auch der Körper des Kinos selbst, auf den diese sieben Frauen blicken. Dann aber, so behauptet Ozon, ist es ein noch immer herausforderndes, noch immer lebendiges, noch immer neues Kino.
Das Bild des Autorenfilmers prägen also weniger Porträtabbildungen seiner selbst als vielmehr eine Inszenierung und Ikonisierung von Schauspielern und Schauspielerinnen. Diese besondere Vorstellung von Distanznahme [5|6]eines Selbst im Anderen konkretisiert Vinzenz Hediger im ersten Beitrag im Begriff der »actrice fétiche« – und fasst darunter wiederkehrende Muster von Besetzung und Inszenierung derselben Schauspielerinnen in der Tradition ihres Starimages. Catherine Deneuve natürlich und die von Ozon »wiederentdeckte« Charlotte Rampling erklärt er als Fixpunkte einer ménage à trois, die viele Filme dramaturgisch prägt und in einem zweiten Schritt über die Filmfiguren hinausgeht und den Zuschauer anzustecken vermag. Anders als im heterosexuellen »Normalfall« kann bei Ozon dieses Verhältnis vom Regisseur zur Hauptdarstellerin freilich nicht bloß auf erotische Obsession reduziert werden. Vielmehr stellen seine Filme immer wieder die normativen Geschlechterverhältnisse infrage und damit ihre Machtstrukturen und ihr Begehren. Was passiert also, wenn die weibliche Hauptrolle gerade erst dabei ist, die Geschlechtergrenzen zu überschreiten? Und wenn Transsexualität und Travestie auch im Überschreiten von Genregrenzen eine filmische Entsprechung findet? Sabine Schrader zeichnet eben diese Traditionslinie im Schaffen Ozons vom Kurzfilm UNE ROBE...