Meine ganze medizinische Karriere hindurch, sogar schon als Student, fragte ich mich, was mich so empfänglich für die Not der Patienten im Krankenhaus machte. Diese Gefühle unterschieden mich von Kollegen, die eine solche Empathie oder Anteilnahme nicht zu haben schienen.
Eines Tages machte ich eine erschreckende Entdeckung. Sie ging mit der schmerzlichen Erkenntnis einher, wie wir die Patientenversorgung im Krankenhaus institutionalisieren.
Im Alter von zehn Jahren wurde ich auf eine Internatsschule in England geschickt. Meine bisherige schulische Ausbildung hatte arg darunter gelitten, dass mein Vater als Militärarzt von Land zu Land gesandt wurde. Nun war meine Ausbildung gesichert, aber der Preis dafür war eine tiefe Einsamkeit.
Es ist schwer, mein damaliges Gefühl der Verlassenheit zu vermitteln, als ich von meiner Familie gewaltsam getrennt und in eine grauenvolle Einrichtung eingesperrt wurde. Die Depersonalisierung folgte sofort: Schuluniformen wurden angeordnet und ich verlor meinen Vornamen. Fortan hieß ich nur noch Youngson.
Ich schlief in einem unbeheizten Schlafsaal zusammen mit etwa zwanzig anderen und erfuhr das Demütigende an Gemeinschaftsbadezimmern. Jegliche Privatsphäre wurde abgeschafft. Jeder Tag war in einen starren Zeitplan von Ereignissen eingeteilt und gipfelte im Kommando „Licht aus!“ abends um zehn Uhr.
Das Essen war furchtbar, geschmacklos und zerkocht. Zu Semesterbeginn besserten wir unsere karge Kost mit heimischen Leckereien aus der Geschenkekiste auf.
Unser Alltag wurde bestimmt von willkürlichen Vorschriften, auf Verstöße folgten Sanktionen. Eine strenge Hierarchie der Macht und Privilegien wies den Jüngeren ihren Platz zu. Die furchteinflößenden Figuren der Heimleiterin und des Schulleiters waren omnipräsent. Körperliche Züchtigung war an der Tagesordnung.
Die obligatorischen Rugbystunden waren für mich eine Quelle der Angst. Ich wurde im Gedränge zerschrammt und geschunden und erntete den Hohn meiner Mitspieler, wenn ich den Ball fallen ließ. Bisweilen folgten Beleidigung und Bestrafung in der Umkleidekabine. Ich wusste genau, wie es sich anfühlte, nackt und schutzlos zu sein.
Ich wurde jahrelang schikaniert und fühlte mich entsetzlich allein. Überlebensinstinkte schalteten sich ein, rüsteten mich mit einer dicken Haut und wilder Entschlossenheit aus. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie sehr sich diese Erlebnisse auf mein Leben auswirken würden.
So traf mich nach Jahrzehnten die späte Erkenntnis wie ein Schock: Das archetypische Vorbild für die institutionalisierte Kultur der Krankenhäuser ist die englische Internatsschule. Darum erkannte ich Leid, Einsamkeit, Angst und Machtlosigkeit instinktiv.
In jedem leidenden Patienten, dem ich im Krankenhaus begegnete, sah ich auch einen verängstigten und einsamen kleinen Jungen. Das einzige Gegenmittel, das ich kannte, war Freundlichkeit.
Beim Betreten des Krankenhauses werden die Patienten entpersonalisiert und ihrer Macht und Identität entledigt. Sie werden gewaltsam von ihren Angehörigen getrennt und haben viele Demütigungen zu ertragen. Die Stationen im Krankenhaus ähneln den Internatsschlafsälen überaus stark und auch die tägliche Routine ist an Regeln und Restriktionen gebunden.
Ich erinnere mich an einen Vorfall in einer Rehabilitationsklinik. Dort wurden zu Beginn der Nachtruhe abends um zehn Uhr die Rollatoren vom Patientenbett weggeräumt, um die Patienten davon abzuhalten, nachts herumzulaufen. Ich fragte mich, wie viele gebrechliche Patienten wohl in verschmutztem Bettzeug liegen blieben, wenn sie nachts nicht mehr zur Toilette gehen konnten.
Die Krankenhauskultur gibt der körperlichen Züchtigung eine ganz neue Bedeutung. Sowohl im Internat als auch im Krankenhaus werden Schmerzen eingesetzt, um jemanden zur Besserung zu bringen.
Ein ängstliches kleines Mädchen flehte ihre Eltern an, ihr zu sagen, wann sie aus dem Krankenhaus nach Hause dürfe. „Wenn es dir besser geht“,I antwortete die Mutter. „Aber ich bin doch ein gutes Mädchen!“, beteuerte sie.
Als medizinische Fachkräfte sind wir so tief in der Kultur unserer Institutionen verwurzelt, dass wir kaum bemerken, was den Patienten widerfährt. Sobald wir die andere Seite der Grenze betreten, blüht uns ein böses Erwachen.
Auf der anderen Seite der Grenzlinie
Als Teenager hatte unsere Tochter Chloe einen Autounfall und wurde dabei schwerst verletzt. Mit einer gebrochenen Halswirbelsäule verbrachte sie drei Monate in einer Traktionsbehandlung. Die technische Qualität der Versorgung war ausgezeichnet, jedoch wurden einige ihrer grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse vernachlässigt.
Chloes Erfahrung war für mich ein wesentlicher Beweggrund für den Versuch, Menschlichkeit und Mitgefühl stärker im Gesundheitswesen zu verankern.1 Zum Glück erholte sich Chloe vollständig.
An den ersten Tag, der für uns so traumatisch war, erinnere ich mich nur noch bruchstückhaft. Als Arzt fand ich mich in der gewohnten Umgebung eines Krankenhauses wieder. In meiner neuen Rolle als verängstigtes Elternteil einer schwer verletzten Tochter erschien mir eben diese Krankenhausumgebung fremd und bedrohlich.
In meiner neuen Rolle als verängstigtes Elternteil einer schwer verletzten Tochter erschien mir eben diese Krankenhausumgebung fremd und bedrohlich.
Meine stärksten Erinnerungen an diesen schicksalhaften Tag waren die kleinen Akte der Freundlichkeit von mitfühlenden Mitarbeitern; sie spendeten uns unbeschreiblichen Trost.
Chloe brachte in diesem Krankenhaus viele Wege hinter sich: Vom Schockraum in den Computertomographen, zurück zum Schockraum, weiter in den OP-Saal und auf die Intensivstation. Auf diesen potentiell gefährlichen Wegen begleitete sie ein Krankenpfleger.
Wir waren so dankbar für diese liebevolle Obhut und Aufmerksamkeit. Er trug nicht nur sämtliche Geräte zur Überwachung von Chloes Vitalfunktionen, sondern nahm auch ihren Schmerzmittelbedarf vorausschauend wahr. Er war ausgestattet mit Morphin und anderen Medikamenten, um ihre Not zu lindern.
Aber es ist die Erinnerung an eine Handlung, die mich bis heute noch immer zu Tränen rührt. Am Übergang zwischen den Krankenhaus-Gebäuden gibt es eine Fuge auf dem Fußboden. Dieser fürsorgliche Pfleger hielt Chloes Liege an und hob jedes Rad einzeln über die Fuge, um weitere Erschütterungen in der gebrochenen Halswirbelsäule zu vermeiden.
Es ist schwer zu beschreiben, wie verletzlich und verängstigt man sich angesichts eines Angehörigen in Lebensgefahr fühlt, aber diese ganz besonderen Akte der Freundlichkeit bewirken, dass man wieder Boden unter den Füßen gewinnt.
Als Eltern einer ernsthaft verletzten Jugendlichen fühlten wir uns sehr verloren in der befremdlichen Krankenhausumgebung. Indes nahm uns dieser wunderbare Pfleger an der Hand und führte uns an all die Orte, an denen wir sein mussten.
In den folgenden Monaten, an Tagen, an denen Chloe am meisten litt, tauchte wie durch Zauberhand dieser Pfleger im Zimmer auf, um Hilfe anzubieten. Niemand hatte ihn gerufen. Er nahm einfach intuitiv wahr, wann seine Präsenz gebraucht wurde.
Das Geschenk der Freundlichkeit
Ich glaube, dass alle Gesundheitsfachkräfte ihre Ausbildung mit dem tiefen Wunsch beginnen, den Patienten und ihren Familien, die ihnen begegnen werden, eine mitfühlende, ganzheitliche Fürsorge zukommen zu lassen. Und ich bin sicher, das trifft auch auf die Mitarbeiter in den Verwaltungs- und Führungsebenen im Gesundheitswesen zu. Auch wenn sie Maßnahmen ergreifen, die dem Kern der Fürsorge scheinbar einen Stoß versetzen, wünschen sie sich, dass es anders sein könnte.
Aber unsere Gesundheitsberufe, Institutionen und Arbeitsplätze haben Wege eingeschlagen, die mitfühlende Handlungen untergraben und sogar bestrafen. Viele sagen, „es ist uns nicht gestattet, Mitgefühl zu zeigen“, so unbarmherzig sind Arbeitstempo, die Fokussierung auf die Pflichten und die institutionellen Verhaltensnormen.
Diese Probleme scheinen sehr greifbar und real – ja feste Bestandteile des Systems zu sein, in dem wir verwurzelt sind. Es herrscht ein Gefühl der Hilflosigkeit unter den Fach- und Führungskräften im Gesundheitssystem. Sie fühlen sich bedrängt, wie auf hoher See, den Elementen hilflos ausgeliefert.
Aber eine viel positivere Sichtweise ist möglich.
Jeder Einzelne kann seine persönliche Stärke wiederentdecken und Wege finden, diese schwerwiegenden Probleme aus einer grundsätzlich anderen Perspektive anzugehen und sich damit von der Diktatur nutzloser Lehren, Glaubenssätze und institutioneller...