Mythologie des Detektiv-Genres
Stationen der Detektiv-Literatur
Anfänge der Detektiv-Literatur
In Detektivgeschichten geht es um Probleme, Rätsel, die gelöst werden, von einem, der vor allem das Interesse hat, das Problem zu lösen, weil es ihn fasziniert, nicht, weil er etwas davon hat. Doch diese Distanz ist, wie gezeigt worden ist (vgl. das Kapitel «Kriminalistik als Mythos»), eine nachträgliche «Kurskorrektur» innerhalb des Genres. In den Vorformen der Detektiv-Gattung dagegen geht es für die Helden, die sich als «Detektive» bewähren müssen, durchaus um Kopf und Kragen. Es mag ein wenig müßig sein, darüber zu rechten, wo man nun die Geschichte der Detektiv-Erzählung beginnen lässt, ob beim Orakel, in der Bibel, beim Volksrätsel, in den Erzählungen von «1001 Nacht», oder auch bei Voltaire, in dessen «Zadig» (1747) es einen bemerkenswerten Fall von Deduktion (detection) gibt: Zadig schließt auf die Verfassung des Hundes und des Pferdes der Königin, die beide verschwunden sind, und er tut dies, ohne sie gesehen zu haben, er liest aus den Indizien heraus, was er weiß, und was ihm beinahe zum Verhängnis wird: Er bestimmt die Größe der Tiere und sagt im Fall des Pferdes sogar aus, dass es mit Silber beschlagen ist. Die Königin lässt ihn auspeitschen, bis er ihr seine Detektion erklären kann: So etwa hatte das Pferd einen Strauch in einer bestimmten Höhe gestreift, woraus Zadig dessen Größe erschlossen hat; der Schwanz des Pferdes hatte den Staub in einem gewissen Umkreis aufgewirbelt, an Steinen hatte Zadig den Abrieb der Hufe entdeckt etc. Ganz ähnlich sollte später auch Sherlock Holmes auf seine Schlüsse kommen; und ähnlich mussten bei ihm gleichsam «klinische» Bedingungen geschaffen sein.
Eine erste Verbindung solcher Deduktionen mit dem Verbrechen findet man in Henry Fieldings «Jonathan Wild» (genauer: «History of the Life of the Late Mr. Jonathan Wild the Great» – 1743); die Schauergeschichten der gothic novels machten sich schließlich die Struktur des literarischen Rätsels zu eigen, um die Probleme freilich schließlich ans Irrationale, Mystische zu verweisen. Lösen sich schließlich hier die Rätsel, was nicht immer der Fall ist, dann selten auf Grund einer Detektion.
Als ersten «Kriminalroman» bezeichnen daher viele Autoren den Roman «Things as They are, or: The Adventures of Caleb Williams» von William Godwin aus dem Jahr 1794 (dt. Die Abenteuer des Caleb Williams – 1931). Es geht hier um den sympathisch wirkenden Landedelmann Falkland, der unter den Verdacht gerät, seinen tyrannischen Nachbarn Tyrell ermordet zu haben. Beim Prozess wird er jedoch freigesprochen; man verurteilt einen von Tyrells Angestellten und dessen Sohn, da man bei ihnen ein abgebrochenes Messer gefunden hat, dessen Klingenrest exakt auf das Stück Klinge passt, das im Körper des Toten stak. Caleb Williams ist ein Junge, der Jahre später als Sekretär in die Dienste Falklands tritt. Es häufen sich für ihn die Indizien, dass Falkland doch mit dem Mord in Beziehung stand, und Caleb Williams verfolgt – gleichsam als Amateurdetektiv – die Spuren, bis er die Wahrheit entdeckt hat: Falkland ist tatsächlich der Mörder Tyrells. Er hatte die Indizien gegen die Gehängten selbst gefälscht. Das Opfer solcher von Falkland gefälschter Indizien wird auch Caleb; Falkland versteckt Schmuck in seinen Habseligkeiten und lässt ihn als Dieb verhaften. Wieder in Freiheit, gewahrt Caleb, dass Falkland ihn verfolgt, um den unliebsamen Zeugen zu beseitigen. Er muss die mannigfaltigsten Verkleidungen annehmen, um ihm und seinen Häschern zu entkommen. Zuletzt und nach unendlichen Strapazen gelingt es Caleb doch noch, seinen einstigen Herrn vor Gericht zu bringen und der gerechten Strafe zuzuführen.
Godwin, der erste Ehemann von Mary Wolstonecraft-Shelley, der Autorin des «Frankenstein», hatte im Grunde versucht, einen Roman gegen das Rechtssystem seiner Zeit zu schreiben, das Klassenvorrechte zu sichern hatte. Wie ja sehr vieles der «Trivialliteratur» dieser Zeit und deren Vorläufer polemische Züge aufwies, so waren fast alle literarischen Darstellungen von Verbrechen und Gerichtsurteilen literarisch verbrämte Diskurse über Moral und Rechtsprechung.
Die Rationalisierung, später Hauptmerkmal der Gattung, ist hier ein Mittel zum Zweck, was sich wohl auch von einem anderen Vorläufer der modernen Detektiv-Literatur sagen lässt, den Memoiren des Eugène François Vidocq (1775–1857) (vgl. dazu den Abschnitt «Historische Vorbilder» im Kapitel «Die Geburt des neuen Helden»).
Zum wirklichen Helden wurde der Polizist/Detektiv in den Arbeiten von Charles Dickens, die auf die zahlreichen Publikationen biografischer Berichte von Polizeidetektiven folgten. Die sensation novelists, die das Erbe der gothic novels angetreten hatten, verbanden das Interesse an Schrecken und Sensationen mit einem Hang zum Dokumentarischen, zum «Tatsächlichen», und auch Dickens, der zu ihren prominentesten Vertretern gehörte, ließ es sich angelegen sein, das Romantische und das Melodramatische auch im Hier und Jetzt zu finden. Schon von daher ist die Neigung verständlich, das Verbrechen und seine Bekämpfung zu thematisieren. Hinzu kommen die Justizreformen und die Entwicklung der Polizei, schließlich ein erwachendes soziales Bewusstsein vom Verbrechen und seinen Ursachen, das die Literatur reflektierte. Das Schreckliche, das Romantische und das «Faktische» ließen sich so auf einen Nenner bringen.
Dickens hatte keineswegs von Anfang an eine so positive Einstellung zur Polizei und zur Kriminalistik, wie es in seinen Artikeln und Romanen nach 1850 zum Ausdruck kommt. Aber von Beginn an waren seine Detektiv-Gestalten Abbilder von wirklichen Polizisten, und auch die Fälle, die sie zu lösen hatten, waren von wirklichen Fällen inspiriert, welche die Presse diskutierte. So sind die von Charles Dickens porträtierten Detektive, auch und gerade dort, wo sie nur als Nebenfiguren auftauchen, den wirklichen Polizisten seiner Zeit ähnlicher, als dies später im Genre der Fall sein sollte. Im «Oliver Twist» (1838) etwa tauchen zwei Bowstreet Runners, Blathers und Duff, auf; sie erscheinen aber keineswegs als Meister der Detektion, sondern sorgen eher für komische Szenen. Einen größeren Anteil an Interesse haben Detektive im Werk Dickens’ erst seit «Martin Chuzzlewit» (1844), wo ein Angestellter einer Versicherungsfirma, Nadget, einen Mord aufklärt, um seine Firma vor Schaden zu bewahren. Nadget wird als professioneller «Spürhund» eingeführt, und auch sein Vorgehen ist einem tatsächlichen Fall nachgebildet, bei dem im Jahr 1835 ein Giftmord von der Versicherungsfirma des Opfers aufgeklärt wurde. Nun mag schon diese Motivation den «Detektiv» als eher zweideutige Gestalt ausweisen, geht es ihm doch weniger um die Gerechtigkeit als darum, zu verhindern, dass seine Firma zahlen muss. Aber das eigentümliche, wenig Vertrauen erweckende Auftreten des Detektivs in «Martin Chuzzlewit» hat andere Ursachen. Obwohl er auf der Seite des Guten steht, wird er uns als nicht gerade sympathisch dargestellt: ein «kleiner, alter, ausgetrockneter Mann», der «schäbig, ja verschimmelt» wirkt, macht der Detektiv eine eher unglückliche Figur, auch wenn ihm der Erfolg nicht versagt bleibt. Seine Erscheinung korrespondiert mit seinen Methoden, die nicht um jeden Preis ehrbar sind. Immer scheint er von Schuldgefühlen geplagt, zugleich scheint er mit finsteren Mächten zu korrespondieren; er hat etwas Diabolisches an sich. (Einmal schließt er eine Tür, «so sorgfältig, als plane er einen Mord»; er bleibt ein «Mann der Geheimnisse», «er war als Geheimnis geboren ... Wie er lebte, war ein Geheimnis, wo er lebte, war ein Geheimnis, und sogar, was er war, war ein Geheimnis».)
Mit diesem Bild vom Polizisten mochte Dickens einem populären Urteil entsprochen haben; darüber hinaus gehörte Nadget zu seinen Porträts einer neuen, urbanen Klasse von Menschen, die die Fähigkeit zu wirklicher Kommunikation verloren haben. Sie machen, wie Nadget, aus sich selbst ein Geheimnis, während sie die Geheimnisse anderer, durchaus ähnlich versteinerter Menschen zu ergründen suchen. Während diese Gestalt in zahlreichen Variationen in Dickens’ Werk auftaucht, wird das Urteil des Autors über Polizei und Detektive einer Revision unterzogen, die durchaus typisch für die Zeit sein mag.
In der von ihm gegründeten Zeitschrift «Household Words» veröffentlichte er zwischen 1850 und 1853 eine Reihe von Artikeln zum Thema Polizei und kriminalistische Aufklärungsarbeit, darunter etwa «A Detective Police Party» und «Three Detective Anecdotes». In «On Duty With Inspector Field» beschreibt Dickens eine nächtliche Polizeistreife mit dem Polizeibeamten, der zum persönlichen Freund des Autors geworden war, und er, der wohl Dickens’ Meinung von der Polizei zum Positiven änderte, war auch Vorbild für weitere Detektiv-Gestalten von Dickens.
Fiktion und Tatsache vermengen sich in Dickens’ Berichten, in denen Inspector Field/Wield und andere Polizisten Methoden der Detektion vorführten. In diesen Berichten werden viele der Vorgehensweisen von späteren (realen und literarischen) Detektiven beschrieben, vor allem und immer wieder die Verkleidung, die Falle am Tatort und die Überführung von Verdächtigen vermittels Indizien. Mehr noch als der Mord scheint die Polizei der Diebstahl zu beschäftigen, ja es scheint, dass die Polizei, wie Dickens sie schildert, mehr Ehrgeiz darin setzt, Eigentum zu schützen als Leben. Mittlerweile waren Dickens’ Vorbehalte in...