GRUNDLAGEN FÜR DAS RICHTIG GEHEN
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VERGANGENHEIT, GEGENWART, ZUKUNFT – WO SIND DIE GEDANKEN?
Wenn Sie in Ihrem Büro vor dem Computer sitzen und effektiv und konzentriert arbeiten wollen, wo sind Sie dann mit Ihren Gedanken? Sicherlich nicht bei Dingen, die Ihre Zukunft betreffen: Reicht das Geld in diesem Monat? Hoffentlich wird meine Frau wieder gesund! Bekomme ich den Auftrag oder nicht? Oder bei Ereignissen, die in der Vergangenheit liegen: Mann, hat mich mein Chef gestern wieder genervt! Nein, gewiss nicht. Denn produktiv und effektiv sind wir nur dann, wenn wir im „Hier und Jetzt“ sind, wenn wir unsere Aufmerksamkeit voll und ganz auf die Sache lenken, mit der wir es gerade zu tun haben.
Reicht das Geld in diesem Monat? Hoffentlich wird meine Frau wieder gesund! Bekomme ich den Auftrag oder nicht? Diese Art von Gedanken und Sorgen über unsere Zukunft begleiten uns häufig – aber auch Vergangenes lässt uns oftmals mental nicht zur Ruhe kommen, etwa: „Mann, hat mich mein Chef gestern wieder genervt!“ Oder: „Warum streite ich in letzter Zeit dauernd mit meinen Kindern?“ Haben Sie auch schon bemerkt, dass es sehr schwerfällt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, wenn sich unsere Gedanken zu stark im Gestern und Morgen befinden und uns vom eigentlichen Moment ablenken? Wirklich produktiv und effektiv sind wir nämlich nur dann, wenn wir im „Hier und Jetzt“ sind, wenn wir uns voll und ganz dem widmen, womit wir gerade beschäftigt sind.
Sind wir mit unseren Gedanken anderswo, dann ist unsere Bewegung längst nicht so effektiv für die Gesundheit. Versuchen Sie einmal, sich während des Gehens zu beobachten. Wo sind Sie dabei mit Ihren Gedanken?
Das Begriffspaar „Hier und Jetzt“ haben Sie garantiert schon einmal gehört. Es soll ursprünglich auf einen nordindischen Adligen namens Siddhartha Gautama Buddha zurückgehen, der um 500 v. Chr. lebte und seine Mitmenschen die Meditation lehrte, sie damit auf einen Pfad brachte, der den Menschen zur Vervollkommnung, zur „Erleuchtung“ führen soll. Das vollständige Buddha-Zitat lautet:
„Laufe nicht der Vergangenheit nach und verliere dich nicht in der Zukunft. Die Vergangenheit ist nicht mehr. Die Zukunft ist noch nicht gekommen. Das Leben ist hier und jetzt.“
Vielleicht denken Sie nun, wir wollten Ihnen hier esoterisches Geschwätz auftischen. Denn was soll das schon heißen: „im Hier und Jetzt sein“? Man kann doch beim Gehen wunderbar über Geschehenes nachdenken und Künftiges planen. Sie haben recht, selbstverständlich kann man das! Dagegen ist auch absolut nichts einzuwenden. Es ist nur so, dass die meisten von uns beim Gehen – ebenso wie bei fast allen anderen Tätigkeiten – nichts anderes mehr tun! Diese andauernde geistige Unruhe ist übrigens ein Grund dafür, dass viele von uns früher oder später ein Burn-out und Depressionen bekommen. Immer wieder im „Hier und Jetzt“ zu leben, ist elementar für unsere körperliche und seelische Gesundheit sowie für unser Wohlbefinden ganz allgemein. Um Ihnen diese Behauptungen näher zu erläutern, müssen wir ein wenig ausholen.
Lassen Sie uns mit einem interessanten Versuch beginnen: Vor etwa zehn Jahren führte der Schmerzforscher Prof. Lorimer Moseley ein interessantes Experiment durch. Seine 13 Testpersonen litten alle unter dem sogenannten komplexen regionalen Schmerzsyndrom (Complex Regional Pain Syndrome, CRPS) in einer Hand. Bei dieser Krankheit kommt es nach äußerer Einwirkung (z. B. Unfall, Operation) zu Durchblutungsstörungen, Hautveränderungen und vor allem Schmerzen in bestimmten Abschnitten der Gliedmaßen (z. B. Hand, Handgelenk, Unterarm). In Moseleys Studie durchliefen die Testpersonen mehrere Phasen. Auf eine Anfangsphase von rund zwei Wochen ohne jede besondere Aktivität folgten zwei Wochen mit Behandlung, die folgendermaßen aussah: Täglich einmal mussten sich die Probanden so hinsetzen, dass sie ihre betroffene Hand nicht sehen konnten (Abb. 3, oberer Abschnitt). Dann wurden in der jeweiligen Schmerzregion fünf Punkte nacheinander und in für alle Teilnehmer gleich definierten Abständen mit nicht schmerzhaftem Druck gereizt. Die Prozedur dauerte immer 24 Minuten, während dieser Zeit sollten die Patienten lesen, Musik hören oder sich auf andere Weise ablenken. Schon während der zweiwöchigen Anfangsphase hatten die Patienten jeden Tag auf einer 100-Millimeter-Skala ihre durchschnittliche Schmerzstärke eingezeichnet, in der zweiten Phase sollten sie dann täglich ihren aktuellen Schmerzpegel angeben.
Die dritte, ebenfalls rund zwei Wochen dauernde Phase lief an sich gleichermaßen ab, allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied: Jetzt sollten sich die Probanden nicht mehr durch irgendwelche Aktivitäten vom Behandlungsgeschehen ablenken, sondern sich vielmehr währenddessen auf eine Fotografie des bei ihnen betroffenen Handareals konzentrieren, worauf die Stimulationspunkte markiert waren. Und sie sollten jeweils benennen, welcher Punkt gerade gereizt wurde (Abb. 3, unterer Versuchsaufbau).
Abb. 3: Eine Schmerzlinderung tritt nur dann ein, wenn der Proband seine Aufmerksamkeit auf die betroffene Hand lenkt.
Und jetzt raten Sie mal, was bei diesem Test herauskam: Während der Phase, in der die Studienteilnehmer bei der Stimulation der Schmerzpunkte ihrer Hände mit Lesen oder Musikhören beschäftigt, also abgelenkt waren, blieb ihr Schmerzniveau gleich. In der Phase jedoch, in der sie ihre Aufmerksamkeit vollständig auf ihre Hände und die Stimulationspunkte lenkten, verringerten sich ihre Schmerzen deutlich.
Was lernen wir daraus? Ganz einfach: Nur wenn wir unsere Aufmerksamkeit bündeln und darauf ausrichten, womit wir gerade beschäftigt sind – also ganz im Hier und Jetzt sind –, können wir maximalen Nutzen aus unserer Tätigkeit bzw. der jeweiligen Beschäftigung ziehen. Wenn Sie sich also – aus welchen Gründen auch immer – ohnehin wenig bewegen, dann sollten Sie von dieser wenigen Bewegung zumindest optimal profitieren. Und das geht nur, wenn Sie mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit bei Ihrer Bewegung sind, im „Hier und Jetzt“.
WISSENSCHAFT UND MEDITATION
Wenn jemand die Rede auf den Begriff „Meditation“ bringt, erscheinen vor den Augen der meisten von uns buddhistische Mönche, die im Lotossitz auf dem Steinboden eines tibetischen Klosters sitzen und mit sonorer Stimme etwas vor sich hin murmeln. Diese Vorstellung ist jedoch sehr einseitig, denn die Meditation spielt in wohl allen Religionen und Kulturen der Welt eine wichtige Rolle: im Christentum beispielsweise als Beten des Rosenkranzes, bei den Muslimen als Tanz der Sufis, im indischen Hinduismus als Yoga-Meditation in ihren zahlreichen Formen.
Betrachtet man die verschiedenen Techniken und Ziele der Meditation genauer, so handelt es sich doch stets um die „Fokussierung der Aufmerksamkeit auf Objekte, Körperwahrnehmungen, Gefühle und Gedanken, und zwar aus religiösen, spirituellen und philosophischen Gründen, zur tieferen Selbsterkenntnis oder einfach zur Verbesserung der psychischen und physischen Gesundheit“, wie es italienische Wissenschaftler 2016 in einer Übersichtsarbeit formulierten.
Würde es Sie eigentlich wundern, wenn der Begriff „Meditation“ nicht nur im Zusammenhang mit Religion, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur zu anderen Themen immer häufiger auftauchte? Pubmed (www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed), eine der weltweit größten medizinisch-wissenschaftlichen Datenbanken, weist für das Jahr 2000 immerhin 16 Artikel aus, die das Wort „Meditation“ im Titel tragen. In den Jahren 2014 und 2015 waren es dagegen bereits (jeweils) mehr als 130.
Die ernsthafte Auseinandersetzung der Wissenschaft mit der Praxis der Meditation begann 1987 mit einem Treffen des spirituellen Führers der Tibeter, des 14. und aktuellen Dalai Lama Tenzin Gyatso (*1935), mit dem US-amerikanischen Anwalt und Unternehmer R. Adam Engle (*1942) sowie dem chilenischen Biologen und Neurowissenschaftler Francisco Varela (1946–2001). Aus diesem Treffen ging das im amerikanischen Hadley, Massachusetts, ansässige Mind and Life Institute hervor, dem wir über 200 Forschungsarbeiten verdanken. Seither wurden an der University of Wisconsin–Madison (USA) und mindestens 19 weiteren Universitäten Untersuchungen an mehr als 100 buddhistischen Mönchen – Meditationsexperten, von denen jeder schon Zehntausende Stunden in der inneren Versenkung zugebracht hatte – sowie einer Vielzahl von Meditationsanfängern durchgeführt. Dabei zeigte sich erstaunlicherweise, dass regelmäßige Meditation einige Strukturen im Gehirn messbar verändert. So führt das Meditieren beispielsweise zu einer Vergrößerung zweier Hirnregionen,...