Uneinheitliche Begriffe, häufige Fehler bei Diagnose und Prognose sowie Mängel hinsichtlich Pflege und Förderung von Menschen im Wachkoma sind als Problemfelder seit langem bekannt (vgl. THIMM 2016; THIMM/CZIRFUSZ 2016a).
Seit über 100 Jahren, seit ROSENBLATH (1899) erstmals Symptome einer schweren Hirnschädigung nach dem Sturz eines Seiltänzers beschrieben hat, herrscht Uneinigkeit und Unsicherheit bezüglich Terminologie und Diagnostik (ODER 2006: 22).
KRETSCHMER (1940) prägte für diese Form der Hirnschädigung den Begriff „Apallisches Syndrom“ („ohne Pallium“, d.h. ohne Funktion des Hirnmantels) und beschrieb jenes Krankheitsbild, das später unter dem Namen „Wachkoma“ – abgeleitet vom lateinisch-französischen Begriff „Coma vigile“ nach ALAJOUANINE (1957) und CALBET/COLL (1959) – Eingang in die deutschsprachige Laienpresse, aber zunehmend auch in die medizinische Begriffswelt fand. GERSTENBRAND (1967) wies erstmals darauf hin, dass eine konsequente Rehabilitation und eine professionelle Betreuung von Wachkomapatienten zu einer möglichen Rückbildung der Symptome führen kann und unterschied acht unterschiedliche Remissionsphasen. In der angloamerikanischen Literatur und Wissenschaft konnte sich der Begriff „Apallisches Syndrom“ nie durchsetzen. Hier plädierten die Autoren JENNETT/PLUM (1972) für den Begriff „persistent vegetative state“ (pvs), dessen charakteristische Merkmale BERNAT (1992) als „wakefulness without awareness“ bezeichnete. Der Begriff „pvs“ verbreitete sich fortan weltweit und wurde von der Multi-Society Task Force on PVS (1994) als Begriff der Wahl empfohlen. Im deutschen Sprachgebrauch stößt dieser Begriff bei Medizinern, Angehörigen und Theologen vielfach auf Ablehnung, drückt sich darin doch eine Geringschätzung der betroffenen Menschen (Assoziation mit „vegetable“, d.h. Gemüse) und eine eher „negativistische“ Einstellung (STEINBACH/DONIS 2011a: 7) zu diesem Krankheitsbild aus. Einen neuen Ansatz der Begriffsbestimmung schlägt die European Task Force on Disorders of Consciousness vor (WILD/LAUREYS et al. 2011), die vom „Syndrom Reaktionsloser Wachheit (SRW)“ spricht, benannt nach dem englischen Begriff „unresponsive wakefulness syndrome (uws)“. Trotz der sich scheinbar ausschließenden Wortkombination von „wach“ und „komatös“ soll im Folgenden der Begriff „Wachkoma“ Verwendung finden, weil sich „Wachkoma“ mittlerweile sowohl in der deutschsprachigen öffentlichen Diskussion als auch im Klinikalltag durchgesetzt hat (NACIMIENTO 2007: 29).
Einen Überblick über die Nomenklatur von erworbenen Hirnschädigungen in der wissenschaftlichen Literatur des letzten Jahrhunderts gibt UNTERHARNSCHEIDT (1993).
Trotz neuester bildgebender Verfahren – unter anderem Positronenemissionstomografie (PET) nach LAUREYS/TONONI (2008), funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) nach OWEN/COLEMAN et. al (2006), quantitative EEG-Verfahren (qEEG) nach BENDER/JOX et al. (2015) – und einer Vielzahl standardisierter Verhaltensbeobachtungen mittels unterschiedlicher Ratingskalen – unter anderem Sensory Modality Assessment and Rehabilitation Technique (SMART), Coma-Recovery-Scale (CRS), Coma-Recovery-Scale-Revised (CRS-R), Koma-Remissions-Skala (KRS), Skala Expressive Kommunikation und Selbstaktualisierung (SEKS), Nociception Coma Scale (NCS, NCS-R) – sind Diagnosestellung und Prognoseabschätzung beim Wachkoma mit hohen Fehlerraten behaftet. ZIEGER (2011: 4) schätzt 18-40% Fehldiagnosen, BENDER/JOX et al. (2015: 235) vermuten „37-40%“ Fehlerrate bei der sehr schwierigen Unterscheidung zwischen den Syndromen Wachkoma und Minimalem Bewusstsein (SMB / Minimally Conscious State MCS nach GIACINO/ASHWAL et al. 2002, vgl. Abbildung 1).
Als Wachkomacharakteristika entwickelte die Multi-Society Task Force on PVS (1994) folgende Diagnosestandards:
- Vollständiger Verlust des Bewusstseins über sich selbst oder die Umwelt und vollständiger Verlust der Fähigkeit zur Kommunikation
- Verlust der Fähigkeit zu willkürlichen oder sinnvollen Verhaltensänderungen infolge externer Stimulation
- Verlust von Sprachverständnis und -produktion
- Harnblasen- und Darminkontinenz
- Gestörter, aber grundsätzlich erhaltener Schlaf-Wach-Rhythmus
- Weitgehend erhaltene Reflexe des Hirnstamms, des Rückenmarks und des vegetativen Nervensystems (zit. nach ERBGUTH 2011: 36)
Kriterien zur Diagnose des Wachkoma-Vollbildes beschreiben STEINBACH/DONIS (2011a: 10). ERBGUTH/DIETRICH (2013: 431) berichten, dass in den letzten zehn Jahren klinische und medizinisch-technische Untersuchungen zeigen, dass bei einem Teil der Wachkomapatienten durchaus Anzeichen von Bewusstsein und Bewusstheit nachweisbar sind. Es mehren sich auch Hinweise, dass Menschen im Wachkoma über Wahrnehmungen verfügen, sich emotional äußern können und möglicherweise sogar sprachliche Äußerungen verstehen (ZIEGER 2005a: 199).
Hinsichtlich der Prognoseeinschätzung führen ERBGUTH/DIETRICH (2013: 428) aus, dass die Wahrscheinlichkeit einer Wiedererlangung des Bewusstseins nach einem Schädel-Hirn-Trauma entscheidend von der Komadauer abhängt. Nach sechs Monaten beträgt sie nur mehr 12%. Dabei sinkt die Chance auf ein unbehindertes Leben nach initialem Wachkoma mit zunehmendem Alter. Bei Betroffenen über 40 Jahren liegt sie praktisch bei 0%. Zudem ist bei einem traumatisch bedingten frühen Wachkoma – 25-30% der Ursachen sind Schädel-Hirn-Traumen – die Wahrscheinlichkeit auf eine Wiedererlangung des Bewusstseins fünfmal höher als nach hypoxischer Hirnschädigung, die zu 70% die Ursache ist.
Leben im Wachkoma ist kein statischer Zustand, sondern eine dynamische Existenzform eines Menschen. Das schließt Veränderungen und Lernprozesse ein (LEYENDECKER 1998: 319). ZIEGER (2011: 5-6) führt aus, dass die funktionelle Wiederherstellung eines traumatisierten Gehirns weitgehend von den ihm gebotenen Reizen abhängt. Das bedeutet, dass die Potenziale des Gehirns eines Menschen im Wachkoma bereits im Rahmen der Akutbehandlung und der Frührehabilitation der Phasen A und B gefördert werden müssen und der Zustand des Pflegebedürftigen prinzipiell reversibel ist.
Abbildung 2 zeigt das „Rehabilitations-Phasen-Modell“, aus dem hervorgeht, dass die Akutbehandlung meist auf der Intensivstation vorgenommen wird (Phase A), die Frührehabilitation in Phase B abläuft und die Langzeitversorgung auf stationären Pflegestationen oder zuhause in Phase F stattfindet.
Patientinnen und Patienten in der Phase F (vgl. Abbildung 2) sind häufig betroffen von langfristigen Bewusstseinsstörungen, von kognitiven Einschränkungen, von Lähmungen, Spasmen und anderen sehr komplexen Ausfallmustern im Bereich der Sensorik und Motorik. In dieser Phase der Langzeitversorgung, der stationären oder privaten Pflege sind die Lebensaktivitäten dieser Menschen meist so stark eingeschränkt, dass aufwändige pflegerische und medizinische Maßnahmen wie Sondenernährung, spezielle Lagerung, Tracheotomie, im Extremfall auch apparative Beatmungshilfen notwendig werden (BAG Phase F 2015).
Abbildung 2 Neurologisches Rehabilitations-Phasenmodell (zit. nach GEREMEK 2009: 88 und ZIEGER 2011: 11)
Im Bereich der fürsorglichen Pflege und der individuellen Förderung von Menschen im Wachkoma tut sich ein zweiter wichtiger Problemkreis auf. Das gilt nicht nur für die Phasen A und B sondern vor allem auch für die Langzeitversorgung in Phase F, mit der sich die vorliegende Studie befasst.
Die Probleme konkretisieren sich zunächst in der Heimversorgung der Wachkomapatienten. 30% der Betroffenen werden institutionell gepflegt, ca. 70% von Angehörigen privat zuhause. Von den institutionell gepflegten Menschen im Wachkoma leben über 50% in nicht speziell für die Wachkomapflege eingerichteten und ausgestatteten Häusern, meist auf gemischten Stationen der Altenpflege, d.h. nur 15% aller betroffenen Menschen erhalten in Deutschland eine spezielle Versorgung und Förderung nach dem Akutereignis (ERBGUTH/DIETRICH 2013: 426 und ERBGUTH 2011: 36).
Eine angemessene und fundierte Behandlungs-, Betreuungs- und Pflegekompetenz ist oft nicht gewährleistet (FROMMANN 2013: 42). Es fehlt die gezielte Förderung und Integration der betroffenen Menschen. Der durch die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation im Jahr 2003 vorgeschlagene Pflegeschlüssel für die Betreuung von Menschen im Wachkoma – 1,25 Pflegekräfte für 1 Patient/in tagsüber – wird meist nicht eingehalten (vgl. STEINBACH/DONIS 2011a: 89-91). Derzeit liegt das Optimum bei 1:3-4. Es gibt viel zu wenig Pflegefachkräfte bzw. Fachkräfte für außerklinische Intensivpflege. Diese stehen meist...