Wenn Katzen Meister darin sind, im Hier und Jetzt zu sein, dann war Herr Paul Weltmeister. Unangefochten und über jeden Zweifel erhaben. Bis heute bin ich keinem Wesen begegnet, das die Kunst des Im-Augenblick-Seins auch nur annähernd so gut beherrscht wie dieser Kater. Was er auch tat, ob er auf seinem Sessel als schwarz-weiße Kugel zusammengerollt schlief, den Garten erkundete oder auch einfach nur aus dem Fenster schaute – er tat es mit seinem ganzen Sein, vom Schnurrhaar bis zur Schwanzspitze. Denn das bedeutet im Hier und Jetzt zu sein: Voll im gegenwärtig stattfindenden Augenblick zu sein und gedanklich nicht in die Zukunft oder die Vergangenheit zu schweifen.
Wenn Herr Paul etwa Katzenfutter fraß, dann bestand sein ganzes Wesen in diesem Augenblick nur aus Fressen, nichts anderem. Und mehr noch: Während er fraß, hatte ich manchmal den Eindruck, als gäbe es nicht mal die Möglichkeit, dass er außer fressen jemals noch irgendetwas anderes tun könnte. Alles an ihm – sein ganzer kleiner Katzenkörper, jedes einzelne Schnurrhaar – war dann so sehr auf den Napf vor ihm ausgerichtet, dass es schien, als seien der Kater, der Napf und der Akt des Fressens in Wirklichkeit eins.
In puncto Nahrungsaufnahme lagen Welten zwischen Herrn Paul und mir. Während er beim Fressen also voll und ganz bei der Sache war, schaufelte ich mir meine Mahlzeiten häufig nur nebenbei in den Mund, während ich fernsah oder las. Überspitzt könnte man sagen, dass meine Aufmerksamkeit allem galt, nur nicht dem, was ich mir da einverleibte. Oder andersherum: Beim Essen war ich überall, nur nicht im Hier und Jetzt. Damit hatte ich eines nicht verstanden, was für Herrn Paul anscheinend völlig klar war:
Alles, was wir haben, ist das Jetzt. Denn die Vergangenheit ist vergangen und die Zukunft noch nicht da.
Während Herr Paul diese Erkenntnis verinnerlicht hatte und aus ihr heraus lebte, fällt uns Menschen das oftmals schwer. Wir verstehen sie zwar rein von unserem Verstand her, aber es fällt uns schwer, nach ihr zu handeln.
Warum das so ist? Zum Teil ist unser hoch entwickeltes Gehirn dafür verantwortlich. Mit seiner Hilfe können wir uns Situationen und Dinge vorstellen, die nicht in der Gegenwart stattfinden. Evolutionär gesehen hat das natürlich große Vorteile, weil der Mensch so etwas planen konnte, das sich erst in der Zukunft ereignete. Eine groß angelegte Mammut-Jagd zum Beispiel. Diese Vorstellungsgabe hat aber auch einen entscheidenden Nachteil, denn sie bedeutet, dass wir generell die Fähigkeit besitzen, uns über Vergangenheit und Zukunft Gedanken (oder meistens Sorgen) zu machen.
Und das ist so brisant, weil wir immer, wenn wir ins Gestern oder Morgen abdriften, nicht wirklich im Jetzt sind. Der aufwühlende Film vom Vorabend, das aufreibende Jahresgespräch mit dem Vorgesetzten letzte Woche oder auch die Sorge vor dem bevorstehenden Zahnarztbesuch – wann immer wir in Gedanken abschweifen, verliert unsere Gegenwärtigkeit an Gewicht. Wir sind zwar dann noch körperlich anwesend, aber unser Geist befindet sich in einem »Anderswo«, in einem »Früher/Später«.
Aber ist es denn nicht wundervoll, Tagträume zu haben, sich ein schönes zukünftiges Ereignis auszumalen oder sich an eine freudige Situation aus der Vergangenheit zu erinnern? Ja, ja und ja. Es ist nicht nur angenehm, sondern sogar wichtig und gut, denn Tagträume etwa erfüllen eine wichtige Funktion für unser Bewusstsein. Sie wirken als ein Ventil im oftmals stressigen Alltag und erlauben es, der Kreativität freien Lauf zu lassen.
Problematisch wird es nur, wenn wir nicht ablassen können von diesen Gedanken und Bildern und vor lauter Tagträumen gar nicht mehr mitbekommen, was genau in diesem Moment um uns und in uns stattfindet. Und genau das ist leider nur allzu häufig der Fall. Hinzu kommt, dass viele dieser Vorstellungen, in die wir da abdriften, oftmals keinen freudigen, sondern einen düsteren, schmerzhaften oder sorgenvollen Beigeschmack haben: der peinliche Vorfall, für den wir uns noch heute schämen, der Streit mit einer uns nahestehenden Person, bei dem verletzende Worte fielen, oder die bald anstehende Präsentation auf der Arbeit, bei der wir vor einer größeren Menschenmenge sprechen müssen.
Wenn solche Gedanken sich in unserem Bewusstsein festsetzen, dann kann der Augenblick noch so schön sein – wir können ihn nicht genießen.
Ein Beispiel: Wir sind nach einem langen, beschwerlichen Aufstieg auf einer Bergspitze angekommen, die Sonne scheint, die Luft ist rein, die Aussicht großartig und wir sind umgeben von Freunden. Der Augenblick ist eigentlich perfekt. Nichts spräche dagegen, ihn bewusst zu erleben und aus vollem Herzen zu genießen. Doch was tun wir stattdessen? Wir denken schon über den Abstieg nach, fragen uns, welche Route wohl die schnellste ist, ob wir noch genug Benzin im Tank haben, auf welcher Strecke mit Stau zu rechnen ist etc. Wer kennt so etwas nicht?
Herr Paul ganz offensichtlich. Und ich bin überzeugt, dass es nicht an der Größe seines Katzenhirns lag, das ihm womöglich nicht erlaubte, an vergangene oder zukünftige Ereignisse zu denken. Vielmehr glaube ich, dass Herr Paul schlicht wusste, dass wirkliches Glück nur im Hier und Jetzt zu erfahren ist und nirgendwo sonst.
Wenn man wie er ganz im gegenwärtigen Augenblick ist, dann genügt schon eine Kleinigkeit, um tiefe Freude zu empfinden: ein Windhauch, der über die Haut fährt, ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht, ein Lachen, das uns ins Ohr dringt. Oder eben: ein Kissen, auf dem man sich zusammenrollen kann, ein leerer Karton, der zum Erkunden einlädt, eine Hand, die sanft übers Fell streicht. Aber eigentlich braucht es nicht mal das. Denn wer wirklich ganz im Hier und Jetzt ist, muss überhaupt nichts tun, um sich glücklich und von Freude erfüllt zu fühlen. Es reicht, einfach nur zu sein. Und genau darin war Herr Paul unangefochten die Nummer eins.
Stundenlang konnte er einfach nur still dasitzen oder auf der Couch liegen. Dabei strahlte er eine tiefe Ruhe aus, die sich auch auf mich übertrug. Dieses Gefühl kennt vermutlich jeder, der eine Katze hat. Sie müssen nur anwesend sein und schon ist die Atmosphäre völlig verwandelt. Wie ein geheimnisvoller Katzenzauber, der sich auf das Zimmer legt und auf alle, die sich darin aufhalten. Ein stiller Hauch von Glück.
Immer wenn ich von diesem Zauber berührt wurde, fragte ich mich, ob ich auch lernen könnte, so wie Herr Paul im Hier und Jetzt zu sein. Tatsächlich gab mir meine Buddha-Katze hierzu einen guten Tipp: mit Meditation. Je länger ich mir Herrn Paul so anschaute, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass er eben damit einen Großteil seines Tages verbrachte und dass dies der Hauptgrund für seine Fähigkeit war, ganz im Augenblick zu sein. Er hatte sogar so etwas wie eine bevorzugte Meditationshaltung, nämlich wie die große Sphinx in Ägypten. Stundenlang saß er in dieser Position still da und schien sich dabei in tiefer innerer Versenkung zu befinden.
Also versuchte ich, es ihm gleichzutun. Und siehe da: Die Meditation half mir, im Hier und Jetzt anzukommen. Dass sie das tat, ist eigentlich nicht erstaunlich, denn seit Jahrtausenden ist zu meditieren einer der traditionellen Wege, um genau das zu üben und zu lernen. Bei der Meditation geht es im Kern nämlich darum, voll und ganz im Jetzt zu sein, indem man sich dem gegenwärtigen Augenblick mit seinem ganzen Sein hingibt.
MEDITATION IN MAUSESCHRITTEN
Meditieren ist nicht schwer. Schau mich an, als Katze kenne ich mich damit aus. Wir sind nämlich Weltmeister im Meditieren. Ihr Zweibeiner tut euch damit häufig etwas schwerer, deshalb gebe ich dir hier einmal eine kurze Anleitung, damit du sofort loslegen kannst, wenn du magst. Übrigens: Fünf Minuten reichen für den Anfang völlig! Fang ruhig in Mauseschritten an.
- Setz dich hin. Gerne auf einen Stuhl oder auf den Boden mithilfe eines Meditationskissens. Welche Haltung du wählst, ist eigentlich egal, Hauptsache, sie ist bequem. Achte nur darauf, dass deine Wirbelsäule gerade aufgerichtet ist. Sie sollte weder durchgedrückt noch gekrümmt sein, sondern sich in einer natürlichen Balance befinden. Der Kopf ist in einer Linie mit den Schultern, das Kinn sinkt leicht zur Brust, der Mund ist geschlossen. Die Augen kannst du schließen oder offen lassen, wie du möchtest. Für viele ist es aber am Anfang mit geschlossenen Augen einfacher. Ich mache sie auch meist zu.
- Richte deine Aufmerksamkeit nun auf den Atem. Das Atmen geschieht immer im Hier und Jetzt, deswegen bist du automatisch mit deinem Bewusstsein in der Gegenwart, wenn du dich auf deinen Atem konzentrierst. Du brauchst den Atem nicht zu regulieren, lass ihn einfach kommen und gehen, wie er möchte. Versuche aber möglichst in den Bauch zu atmen: Beim Einatmen hebt sich die Bauchdecke, beim Ausatmen senkt sie sich. Das fühlt sich gut an und beruhigt dich automatisch. Bleibe mit deiner Aufmerksamkeit bei dieser Bewegung der Bauchdecke.
- Immer wenn du merkst, dass deine Gedanken abschweifen und du mit deiner Aufmerksamkeit nicht mehr beim Atem bist, hole dich einfach sanft ins Hier und Jetzt zurück. Das geht, indem du deine Aufmerksamkeit wieder auf den Atem richtest. Sei nicht enttäuscht oder ärgere dich nicht, wenn du das am Anfang immer und immer wieder machen musst. Das ist ganz normal und Teil der Übung. Genau darum geht es nämlich beim Meditieren: sich stets aufs Neue wieder in die Gegenwart zurückzuholen. Das ist alles.
Letztlich ist das Im-Hier-und-Jetzt-Sein eine Frage der Hingabe. Wir müssen loslassen und...