2. DER LEBENSSTROM.
Sei es, dass wir in stiller Stunde die Aufmerksamkeit einwärts dem innersten Geschehen in uns zuwenden, oder sei es, dass die Erinnerung über den bisherigen Ablauf unseres Daseins auf Erden hinblickt, stets drängt sich uns der Eindruck auf, dass das Leben einem Strome gleicht, der unaufhaltsam wogt und fließt. So sagte schon der griechische Philosophe Heraklit: „Panta rhei“, alles fließt. Auch die Phantasie des Künstlers kennt den Lebensstrom. In seinem symbolischen Roman „She“ verlegt Rider Haggard das pulsierende Kreisen des Lebensstromes in tief gelegene Hohlräume der Erde, zu denen die zweitausend Jahre alte ägyptische Königstochter mit ihrem Begleiter hinabsteigt. Wer in diesem Lebensstrom eintaucht, gewinnt ewiges Leben und ewige Jugend. Doch — das ist ja der Phantasietraum eines Dichters. Wenn wir ihn zu deuten versuchen, verkörpert die zweitausendjährige, ewig junge, ägyptische Königstochter die unsterbliche altägyptische Weisheitslehre, die von den Mysterien des Lebens handelt; die ins Innere der Erde verlegten Hohlräume aber, in denen der Lebensstrom kreist, symbolisieren die unzugänglichen Tiefen der Seele, des unterbewussten Reiches im Menschen.
Auch der moderne Naturforscher erkennt in den Tiefen unseres Wesens ein unaufhörlich fließendes Geschehen, das vom Bewusstsein des Einzelnen nur in Form des „Lebensgefühls“ erfasst wird. Adolf Koelsch gibt davon in seinem Buche „Das Erleben“ folgende Darstellung:
„Das unmittelbar Gewisseste, was jedem eignet, das Innigste, Vertrauteste und Seelischste, was er besitzt, ist das Lebensgefühl, das Gefühl: ,Ich lebe, ich lebe!‘ Es ist ein Rauschen im Seelengrund, das ohne Anfang ist und ohne Ende, nicht zu beschreiben und mitzuteilen, weil es schon im Wort, worin es die Sprache zu einem Ding für alle zu machen versucht, sich dem entfremdet, als welches es der Einzelne fühlt. Bald ist es ein Jubel, bald eine Qual, in der Regel aber dringt es während der wachen Lebenszeit ins Oberbewusstsein so wenig ein wie das Geräusch eines Wasserfalls, der ununterbrochen vor unsern Fenstern herabstürzt.“
„Aber im Augenblick, wo ein Bruch in das Rauschen kommt — und es gibt solche Augenblicke im Anschluss an gewisse ,körperliche Zufälligkeiten‘ in jedem reiferen Leben —, wo etwas wie eine Ohnmacht uns überfällt oder nur die leiseste Dissonanz sich in jenem Rauschen erhebt, wird es uns schwarz vor Augen. Man fährt mit den Armen in die Luft, keucht, blickt hinter sich, um sich: — es ist entsetzlich; — aber noch bevor man hätte bemerken können, was das gewesen ist, was einem da widerfahren wollte, ist die Bruchstelle wieder zusammengeflossen, schon gehört die Dissonanz der Vergangenheit an, man fühlt sich wieder, man atmet, sieht Licht, man ist sich seiner sicher als Leben, als Dasein, als Körper, als Ich. Doch ob es auch nichts scheint gewesen zu sein, was da vorüberzog und nach etwas Unbestimmtem in uns gegriffen hat, so weiß man doch, es war der Tod.“
„Von Stund an gibt's keine Ruhe mehr. Das Rauschen im Seelengrund ist eine wichtige Sache geworden, die einen bis in die Grübeleien der Träume verfolgt, man beginnt zu denken und zu forschen, was es wohl seinem Wesen nach sei, womit Bekanntem es sich vergleichen lasse und wie es zustandkommt. Man tut das, obgleich man weiß, dass der Wunsch, ihm auf diese Weise ganz nahe zu kommen, so unmöglich erfüllbar ist wie der Flug in die Sonne. Denn als Gefühl ist es nur im Erlebtwerden wirklich und alles Erlebnisgeschehen ist abhold dem Verstand. Aber ist schließlich nicht auch das Hungergefühl nur im Erlebtwerden wirklich? Und gibt es nicht trotzdem eine verstandesmäßige Weise des Schauens, die sich tief in seine Verfassung, seine Physiologie und Entstehungsgeschichte einzubohren vermag? Es gibt sie in der Tat.“
Wie das Hungergefühl die Zusammenfassung aller Meldungen ist, welche im Oberbewusstsein (Gehirn) über die Ernährungsvorgänge in den Verdauungsorganen und den Körpergeweben eintreffen, so ist das Lebensgefühl die Zusammenfassung aller Meldungen über die Gesamtheit der Geschehnisse im körperlichen und seelischen Organismus. Eine Unsumme von Erregungsströmen fließt fortwährend dem Zentralorgan wie einem Sammelbecken zu. „Der in jedem Augenblick auffindbare Gesamtknäuel dieser Erregungen wäre der Same, aus welchem im Schoß des Bewusstseins das Lebensgefühl wie eine Wunderblume aufkeimt.“
Das Lebensgefühl gibt somit Kunde von einem unaufhörlichen, intensiven Geschehen in uns, von „Ausgleichen, Regulationen, eigentümlichen Tätigkeiten und Umtrieben höchst verwickelter Art, einem unerhörten Kreisen von Atomen und Elektronen, einem Vergehen ganzer Wehen von Kraft und Stoff und einem beständigen Neuentstehen von solchen.“
Aber dieses unfassbar große Geschehen in uns ist wohl geordnet, harmonisch abgestimmt und zielgerichtet geleitet. So erscheint meinem Versuche, in Wort und Bild zu fassen, was sich jeder Darstellung entzieht, der Lebensstrom als eine grandiose Symphonie. Wie sich in der Symphonie zusammenfinden: das Genie des Komponisten, die Direktive des Dirigenten, die Leistungen der ausführenden Musiker, die Tonschwingungen und Klangfarben der Instrumente, so vereinen sich im Lebensstrome aus verschiedenen Richtungen kommend und sich durchkreuzend:
- Der Einstrom des Geistes in das Lebendige — wie im ersten Vortrag geschildert —, in Form der Impulse, der Zielrichtung gebenden Ordnung, der Direktive allen Geschehens.
- Der Strom der elektronischen Materie, die, wie Sie hörten, aus zu wohlgeordneten Akkorden aufgebauten Ätherwellengebilden besteht.
- Der Strom der strahlenden Energien, vor allem des Sonnenlichtes.
- Der Strom des seelischen Prinzips, der die Erlebnisgewinne der Rasse und der Vergangenheit in die Gegenwart hineinträgt.
Am Kreuzungspunkte, da wo die vier Ströme Geist, Elektronenwelt, Licht und Seele sich vereinen, wurzelt und wächst „durch der Glutpein Kraft“ der Baum des Lebens, atmet und regt sich der Mensch. In diesem Zusammenhange wird der Sinn des Kreuzes offenbar, dieses uralten Symbols der Weisheitslehren, das schließlich seinen höchsten Ausdruck im „Christus am Kreuze“ fand. Die Denker der Vorzeit sahen im Eindringen des Geistes in die Materie zur Erschaffung des Lebens eine Sendung des Gottessohnes in die Erscheinungswelt, zugleich aber auch ein Versinken des Geistes in die Materie, von der er fortan gefangen gehalten, gemartert und sogar getötet wird, aber wieder aufersteht. Diese Gedankengänge finden sich auch in einer dem Gnostiker Bardesanos zugeschriebenen Dichtung, betitelt: „Der Hymnus von der Seele“, dessen Inhalt kurzer folgender ist:
Der König sendet seinen Sohn nach Ägyptenland mit dem Auftrag, dort eine Perle zu holen, die in einem vom Drachen bewachten tiefen Brunnen liegt. Doch die Ägypter umgarnten den Königssohn mit ihren Listen. „Da ich von ihrer Speise, die sie mir boten, aß, da war's dass ich die Eltern und auch mein Ziel vergaß, dass ich vergaß die Perle, um die man mich gesandt, dass ich sie heimwärts bringe aus dem Ägypterland. Ich diente ihren Herrschern und lag in tiefem Bann. Das hatte mir die Speise und ihre List getan.“ Die Eltern aber wussten, was mit ihrem Sohne geschah. Sie sandten ihm einen Brief, der ihm alles wieder in Erinnerung brachte, seine Herkunft und das Ziel seiner Sendung. Da schläferte er mit Liedern und zauberstarken Namen den zischenden Drachen ein, holte die Perle und kehrte heim in sein Königreich.
In der Tat, auch im Leben der Menschheit hat der Geist einen Passionsweg zu gehen, auch da spielen ihm die Listen und Speisen der „Ägypter“ übel mit. Das Leben wird leidvoll, je mehr der Geist in einem Menschen sich regt, umso leidvoller. Und all dieses Große und Kleine im Geschehnis des Lebens wird umfasst im Symbol vom Christus am Kreuze. Leben ist Leiden! Wir alle sind ans Kreuz geschlagen, sind Träger und zugleich Kerkermeister des göttlichen Geistes.
Im Urphänomen des Lebendigen, von dem im ersten Vortrag die Rede war, tritt der Lebensstrom auf, wächst von der primitiven Bakterie an zum einzelligen Lebewesen und schließlich zur Lebensorganisation der Pflanze, des Tieres und des Menschen. Je komplizierter und höher die Organisation, umso größer werden die Ansprüche konstruktiver und architektonischer Natur zur Ermöglichung und Erhaltung des Lebensstromes. Bei dem unaufhörlichen Vergehen und Neuwerden ganzer Welten muss jeder lebenden Zelle Stoff und Kraft in bestimmter, nie versiegender Menge zu Gebote stehen. Das einzellige Lebewesen kann nur in einer Art „Mutterlauge“, z. B. im Meerwasser, leben und gedeihen, nur da, wo die Umgebung seinen Bedarf zu liefern vermag. Die Eizelle, aus der das Kind heranwachsen soll, wird im Mutterschoße wundersam in ein Nährlager eingebettet, in welchem sie die Befriedigung all ihrer Bedürfnisse finden kann. Nun setzt die Zellteilung und das Wachstum ein, aus der einen Zelle wird eine Zellenkugel, eine Zellenblase (Morula), durch Einstülpung ein doppelwandiges Gebilde (Gastrula), nun umspülen die Nährsäfte schon Innen- und Außenwand. Aber das Wachstum geht weiter, immer größer werden die Zellmassen. Äußere und innere Bespülung mit Nährflüssigkeit wird unzureichend. Nun setzt konstruktive Hilfe ein. Neue Zellgewebe bilden sich und widmen sich der Aufgabe, eine den werdenden Organismus in allen Teilen bis in die letzten Winkel durchziehende Doppelkanalisation für Zu- und Abfuhr zu bilden. Es entstehen die Blutgefäße: zuleitende Schlagadern, rückleitende Blutadern und das Netz der Haargefäße, das die Enden der feinsten Schlagadern mit dem Anfang der...