1. Leben in Assisi
Franziskus begegnet uns als Sohn einer reizvollen Kleinstadt und Spross eines selbstbewussten Bürgertums. Ehrgeizig und vom Leben verwöhnt, entdeckt er erst als erfolgreicher Kaufmann die Schattenseiten seiner Welt. Der Weg aus der Krise führt nach Jahren existenzieller Suche zum Bruch mit seiner Zunft und seiner Stadt. Zwei Einsiedlerjahre vor Assisis Mauern bringen ihn schließlich auf die Spur eines neuen Lebens. Wenn er fortan barfuß durch ganz Italien und den halben Mittelmeerraum zieht, bleibt er doch immer ein Sohn Assisis. Die umbrische Hügelstadt hat Franziskus geprägt. In jungen Jahren erlebt er das Erwachen der städtischen Kultur, trägt die bürgerliche Revolution mit und profitiert von jenem frühen Kapitalismus, der am Morgen der Moderne steht. Sein Ausstieg aus dem Kaufmannsleben führt nicht zur Verachtung dieser Welt, sondern eröffnet einen leidenschaftlichen Dialog mit ihr. Seine Karriere nach unten lässt ihn die Fußspuren des „armen Christus“ entdecken. Er verkündigt dessen Evangelium nicht wie die Kirchenmänner seiner Zeit, sondern mit der Sprache der städtischen Piazza, die in den konkreten Alltag der Menschen spricht.
Eine erwachende Kleinstadt vor 1200
So klein Assisi im 12. Jahrhundert auch war, genoss es doch die Sympathie und die persönliche Sorge des Stauferkaisers. Friedrich I. Barbarossa privilegierte das alte Städtchen im Jahr 1160: An der Westgrenze seines Herzogtums Spoleto gelegen, fand es als staufische Grafschaft den direkten Schutz des Kaisers. Erst wenige Jahrzehnte zuvor war die antike Umbrierstadt neu aus dem Verfall erstanden, den Goten und Langobarden in der Völkerwanderung eingeleitet hatten und der schließlich durch die Raubzüge der Karolinger besiegelt worden war. Der Neubau der Kirche San Rufino kündigt im 11. Jahrhundert das Neuerwachen des einst blühenden Asisium an. Wie überall in Europa wächst auch die Bevölkerung Italiens infolge des wärmeren Klimas, der besseren Anbaumethoden und einer ausgewogeneren Ernährung. Dieser Wachstumsschub führt zur Wiedergeburt der städtischen Kultur. Inmitten der ländlich-feudalen Welt des Hochmittelalters entstehen vitale Kleinstädte, in denen ein neuer Geist weht. „Stadtluft macht frei“, denn sie löst die Menschen aus Hörigkeit und Feudalbeziehungen, befreit sie von der Scholle oder aus engen Burgen und verbindet sie in einem neuen Sozialgebilde zu einer engen Schicksalsgemeinschaft. Gewerbe und handwerkliche Berufe, Märkte und Handel bringen die Geldwirtschaft zurück. Handelsreisen sowie Bildung erweitern den Horizont perspektivenreich und fördern den Austausch von Ideen. Im Zeichen seines wirtschaftlichen Aufschwungs drängt das entstehende Bürgertum immer drängender nach einer Beteiligung an der politischen Macht. Nach den großen Städten erringen in Mittelitalien gegen Ende des 12. Jahrunderts auch die kleinen Zentren die kommunale Selbstverwaltung. Adel und Bischöfe sehen ihre landesherrlichen Vorrechte von republikanischen Ideen bedrängt.
In dieser bewegten und spannenden Zeit des Umbruchs wird Franziskus geboren. Kurz vor seiner Geburt hatte das aufstrebende Städtchen Assisi bereits einen ersten Versuch unternommen, die deutsche Fremdherrschaft abzuschütteln. Daraufhin ließ Barbarossa im Jahre 1174 seinen Reichserzkanzler, den Mainzer Erzbischof Christian I. von Buch, gegen die kleine Subasiostadt ziehen. Mit viel Glück blieb ihr nach erfolgreicher Belagerung das Schicksal Spoletos erspart, das keine zwanzig Jahre zuvor, mit Feuer und Schwert verheert, unter kaiserliche Botmäßigkeit hatte zurückkehren müssen. Nach Rückschlägen Barbarossas in der Lombardei muss sein Sohn Heinrich VI. die Stadt Perugia im Jahr 1186 von neuem besetzen. Herzog Konrad I. von Spoleto, ein Gefolgsmann des Kaisers aus dem schwäbischen Urslingen (heute Irslingen bei Rottweil), hat als Graf von Assisi über eine zunehmend selbstbewusste Bürgerschaft zu wachen. Zeitweise residiert der Herzog sogar in der kaiserlichen Rocca über der klimatisch angenehmeren Subasiostadt. Die Verlagerung des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens vom Land in die Stadt zwingt auch den Adel der Umgebung dazu, von seinen feudalen Landsitzen in städtische Wohntürme zu ziehen. Aristokratische Clans bevölkern die kleine Oberstadt Assisis. Weil ihnen ihr Großgrundbesitz als Zeichen himmlischen Segens erscheint, nennen sie sich „boni homines“ (gute Menschen), die sich als Maiores über die Bürger erheben. Diese hatten sich als Minores und „homines populi“ (Leute des Volkes) auf die Unterstadt zu beschränken. „Ordnung muss sein“ – und solange ein deutscher Graf über die Stadt wacht, wird Assisi zumindest politisch noch von den Adeligen dominiert.
Ein ehrgeiziger Kaufmannssohn
Franziskus kommt in der Unterstadt zur Welt. Seine Familie zählt zu den reichsten in Assisi. Der Vater gehört der Kaufmannszunft an. Durch die Produktion eigenen Wolltuches, den Handel mit Luxusstoffen und mit Geldverleih hat die Familie ein beachtliches Vermögen erwirtschaftet. Mindestens fünf Häuser sowie Grundbesitz in der Umgebung kann Pietro di Bernardone sein Eigen nennen. Dass seine Frau aus Südfrankreich stammen soll, wird erst in späteren Überlieferungen greifbar – und bleibt zweifelhaft, denn eine andere Tradition meint, dass Pietro sie in Lucca kennengelernt habe. Nachweisen lässt sich die Herkunft der Mutter Francescos ebenso wenig wie ihr erst spät bezeugter Name Pica. 1182 wird dem Paar ein erster Sohn geboren. Dass die Mutter dem kleinen Giovanni gleich nach der Geburt weder den Namen seines Vaters noch des Großvater Bernardone gibt, könnte auf den 24. Juni, den Johannestag, als Geburtsdatum hindeuten. Tatsächlich wird Franziskus später als Wanderprophet Johannes den Täufer in besonderer Art ehren. Vater Pietro ist gerade auf Geschäftsreise in Frankreich. Der Import kostbarer Stoffe aus Südfrankreich und deren Verkauf auf den Märkten des Spoletotals tragen wesentlich zum Erfolg des Handelshauses bei. Als der glückliche Vater zurückkehrt und sein Söhnchen zum ersten Mal in den Armen hält, benennt er es in Francesco um. „Panno francesco“ ist ein begehrter französischer Modestoff. Der neue Name erinnert an kostbares Tuch und steht für Reichtum, Eleganz und erfolgreiche Geschäfte. „Französisch“ sind damals aber auch die neue Poesie, höfische Kultur und Minnelieder, die von italienischen Kaufleuten bewundert werden. Der kleine Francesco wird von der sagenhaften Tafelrunde des Königs Artus hören und sich als Jugendlicher selbst in ritterlichem Verhalten üben. Selbst als er, nunmehr erwachsen geworden, mit der frühkapitalistischen Mentalität seiner Zunft bricht, nimmt er das Edel-Ritterliche und die Kunst der Troubadours mit in ein ganz anderes Leben. Doch bis dahin sind es noch viele sonnige und ereignisreiche Jahre.
Umsichtig bereitet Pietro seinen ersten Sohn auf den Kaufmannsberuf vor. In der Pfarrschule von San Giorgio erhält Francesco eine rudimentäre Grundbildung. Im Kreis einiger privilegierter Söhne lernt er Lesen, Schreiben und Rechnen, und er erwirbt Elementarkenntnisse in Latein. Die Notare schrieben damals lateinisch, und auch Geschäftsabschlüsse, Kauf- und Verkaufsverträge wurden in dieser Schriftsprache abgefasst. Mittellatein diente zudem der internationalen Verständigung. Vom Vater lernt der junge Franziskus wohl auch Provençalisch, die Sprache der wichtigsten Geschäftskontakte mit Südfrankreich. Die Bildung des Jungen war damit ganz auf die Bedürfnisse der führenden Bürgerschicht ausgerichtet. Sie lässt Franziskus nach seinen eigenen Worten dennoch einfältig und ungebildet bleiben:„idiota et ignorans“ (Test, Ord) – ein Mann ohne höhere Bildung und mit der ungelenken Schrift eines Händlers.
Mit 14 Jahren wird der Kaufmannssohn volljährig. Somit muss er 1196 dem Adel Assisis und dem deutschen Grafen in der Rocca erstmals die Herrendienstpflicht schwören. Zugleich tritt er in die Zunft seines Vaters ein. Sie führt die Zünfte an, denn...