Ouvertüre
»Es war die beste und es war die schlimmste Zeit.« So begann Charles Dickens vor anderthalb Jahrhunderten seinen Roman Geschichte aus zwei Städten. Gemeint sind Paris und London, und die Länder, die er einander gegenüberstellt, sind das revolutionäre Frankreich und das England des späten 18. Jahrhunderts: zwei gegensätzliche Welten, zwei unterschiedliche Blickrichtungen, zwei verschiedene Schicksale. Als ich mein Buch Warum französische Frauen nicht dick werden schrieb, dachte auch ich an zwei unterschiedliche Welten, und zwar in Bezug auf Essen und Ernährung – die französische und die amerikanische – und in gewisser Art und Weise auch an zwei Städte – Paris und New York. Tatsächlich ging es dabei jedoch, ohne dass es mir in seinem ganzen Ausmaß bewusst geworden wäre, um zwei globale Kulturen, deren Grenzen immer mehr verwischen. Im Guten wie im Schlechten hängt die Esskultur nicht länger von dem Ort ab, an dem Sie leben, sondern von Ihnen selbst.
Auch in unserer komplizierten, hektischen Welt ist es möglich, so zu essen, wie es uns gefällt. Wir können jeden einzelnen Tag neu genießen, indem wir uns auf die erprobten wesentlichen Dinge des Lebens konzentrieren – eines gehaltvollen Lebens, das kulinarisch mit den Jahreszeiten geht. Ich will nicht zurück in die Vergangenheit, aber ich möchte von ihr lernen und bin der festen Überzeugung, dass die Kultur des Maßhaltens, der sorgfältigen Pflege von Geschmack, gesunder Ernährung und Lebensweise, mit der ich in Frankreich aufgewachsen bin, überall auf dieser Welt verfolgt und genossen werden kann. Das soll nicht heißen, dass ich nicht verstehe, welchen Herausforderungen sich viele Frauen heute gegenübersehen: dem Druck, immer mehr in immer weniger Zeit erledigen zu müssen – und den Riesenportionen vorgefertigten Essens, das ihnen zwischendurch vorgesetzt wird.
Lange Zeit waren die beiden gegensätzlichen Auffassungen von Lebensstil und Lebensziel zwischen Frankreich und meiner neuen Heimat Amerika für mich wesentlich und ursächlich mit den divergierenden kulturellen Traditionen verknüpft. Als aber mein erstes Buch Warum französische Frauen nicht dick werden in einer Sprache nach der anderen erschien, begann ich zu begreifen, dass das, was ich bis dahin für einen nationalen Unterschied gehalten hatte, tatsächlich den Konflikt zweier – ja, nennen wir es so – Weltordnungen darstellt. Nun glaube ich sicher nicht, alle Lösungen für diesen Konflikt parat zu haben und die große Expertin in dieser Frage zu sein (ich versuche, mich nicht zu ernst zu nehmen), aber ich habe durchaus noch ein paar Erfahrungen und Geheimnisse – und umso mehr Rezepte und Wochenmenüs –, die es sich mitzuteilen lohnt und die vielen Menschen zu einer höheren Lebensqualität und ganz eindeutig weniger Gewichtsproblemen verhelfen können.
Im letzten Herbst begleitete mich ein französischer Journalist über den Gemüsemarkt auf dem New Yorker Union Square, wo wir auf eine Schulklasse trafen. Die Kinder waren alle um die acht Jahre alt und nahmen an einer Initiative teil, die sich Spoons Across America nennt und die es sich zum Ziel gesetzt hat, Schülern, Lehrern und Familien gleichermaßen die Vorteile gesunden Essens nahezubringen. Dazu gehört ganz wesentlich, ihnen zu zeigen, wie wichtig es ist, die örtliche Landwirtschaft zu unterstützen – gar nicht zu reden von dem Verlust, den es bedeutet, nicht mehr im Familienverbund zu essen. Es war, wie gesagt, Herbst, und halb aus Spaß nahm der Journalist aus dem zu dieser Jahreszeit überreichen Angebot an Äpfeln einen heraus und fragte eines der Kinder, was für einer das wohl sei. Der Junge hatte keine Ahnung, und so unglaublich es klingt, ging es keineswegs nur darum, dass er nicht sagen konnte, um was für eine Sorte es sich handelte, nein, er wusste nicht einmal, dass er es mit einem Apfel zu tun hatte. Dieses Stadtkind schien sein ganzes Leben noch keinen Apfel gesehen zu haben! Dabei möchte ich wetten, dass es den abgepackten Apfelkuchen gegenüber bei McDonald’s sofort erkannt hätte.
Ich bin in Elsass-Lothringen aufgewachsen, und das war wirklich eine ganz andere Welt als die dieses New Yorker Stadtjungen. Unsere Nachbarn hatten alle mindestens einen Obstbaum im Garten – wie viele Apfelbäume wir selbst hatten, kann ich nicht mehr genau sagen. Zur Pflückzeit war es meine Aufgabe, die verschiedenen Sorten in flache Kisten zu legen, die hinunter in den kalten Keller kamen, wo sich die Äpfel den Winter über hielten. Jahrhundertelang hat man das so gemacht, auch wenn es heute so gut wie völlig aus der Mode gekommen ist. Welch süße, herrliche Düfte erfüllten den Keller, wenn ich die cagettes dorthin brachte! (Es ist kein Zufall, dass das französische Wort für riechen, sentir, gleichzeitig auch fühlen bedeutet.) Wenn ich an damals zurückdenke, ist es vor allem dieser Duft, der mich an unser herbstliches Ritual erinnert. Und natürlich backte meine Mutter zu jener Zeit dann auch einen Apfelkuchen, une tarte aux pommes alsacienne.
In unserem Garten wuchsen auch rote Johannisbeeren, die eine Spezialität der Gegend sind. Damit zu backen war für meine Mutter und mich eine große Freude. Aber die Johannisbeerzeit ist vergleichsweise kurz, und so machten wir auch confiture, gelée und coulis, Fruchtsoße. Wie sehr wir uns jedes Jahr darauf freuten! Unsere Freude war Ausdruck einer typisch französischen Einstellung: Was es nicht immer gibt und bald schon wieder vorbei sein wird, bedeutet einen besonderen Genuss. Reichtum und Eigenarten der Jahrszeiten schärfen unser Bewusstsein für das, was wir essen, und wirken der gedankenlosen Völlerei entgegen, die uns nur wenig Genuss, aber reichlich unerwünschte Pfunde beschert.
In diesem Zusammenhang muss ich an zwei Flughäfen denken. Flughäfen sind Schauplätze, die gut zum Thema passen, denn schließlich bilden sie die Schnittpunkte der modernen Welt, an denen sich die verschiedenen Kulturen begegnen und ausdrücken. Auf dem O’Hare International, dem Flughafen von Chicago, unterwegs zu einem Auftritt bei Oprah Winfrey, wurde ich Zeugin eines surreal anmutenden Spektakels, das ich gerne auf Video aufgenommen hätte. Überall um mich herum verschlangen die Leute Hamburger, Pommes frites und Pizza und tranken dazu große Becher Limonade oder Kaffee, während sie auf ihre Laptops starrten, telefonierten oder durch Zeitschriften blätterten. Was die Sache besonders bemerkenswert machte, war, dass es erst zehn Uhr morgens war. Warum aßen diese Leute überhaupt? War das ihr Frühstück? Ein frühes Mittagessen? Oder half es ihnen einfach nur, die Zeit totzuschlagen? Das alles war sowieso eher ein Sich-Vollstopfen als ein normales Essen. Die meisten dieser Leute waren übergewichtig, und dass irgendwer von ihnen sein Essen genoss, war nicht zu erkennen. Auch auf meinem Weg zurück nach New York – es war drei Uhr nachmittags – hatten die Flughafen-Imbisse reichlich zu tun. Nur hier und da ließen sich Menschen entdecken, die nicht in das allgemeine Schema passten: Amerikaner, die bei dieser Verrücktheit nicht mitmachten? Oder vielleicht Ausländer auf der Durchreise? Wer immer sie sein mochten, sie erinnerten mich an meine französischen Landsleute.
Schnellimbisse und Take-aways auf Flughäfen mögen ein Zeichen unserer Zeit sein – in Frankreich aber ist diese Entwicklung bislang nicht ganz angekommen. Wenn die Fluggäste auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle (oder Roissy, wie die Franzosen sagen), einem der geschäftigsten Drehkreuze Europas, etwas essen wollen, setzen sie sich nach wie vor mit Messer und Gabel an den Tisch eines Restaurants oder einer Cafeteria. Es gibt zwar kleine Theken, an denen man ein schnelles Croissant oder vielleicht ein Sandwich jambon beurre und eine Tasse Kaffee bekommt – eine typische französische Tasse Kaffee, das sind maximal drei, vielleicht vier Schlückchen. Frappuccino gargantuoso con lateria gibt es da nicht (wenn sich Starbucks auch weltweit an die Fersen von McDonald’s heftet). Wer in Frankreich Milch im Kaffee möchte, bestellt einen crème, vielleicht auch einen grand crème, und bekommt ein, zwei Schlückchen mehr. Auf den Flughäfen zeigen sich immer noch die traditionellen nationalen Unterschiede, doch die Grenzen weichen auf, und zwar in beide Richtungen. Obwohl in Frankreich längst noch nicht alles darauf ausgerichtet ist, der modernen XXL-Kultur des allgegenwärtigen Übermaßes zu genügen, finden sich auch in Roissy Beispiele für das alte Sprichwort »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«: Auch hier sind vereinzelt Leute zu beobachten, die sich in seltsam fremden Gewohnheiten üben, ausgestattet mit zwei Sandwiches, einem iPod und einer Zeitschrift – konsumierend, was sich gerade noch gleichzeitig konsumieren lässt. In Frankreich sind sie die Ausnahme, in Amerika dagegen die Regel.
Wann immer ich Szenen wie die in Chicago sehe, muss ich an einen Ausspruch von Jean-Anthelme Brillat-Savarin denken, dem großen »modernen« Gastronomen des 18. Jahrhunderts, der...