Appetizer
Hab’ ich des Menschen Kern erst untersucht,
So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.
Schiller, »Wallenstein«
Heute schon gelogen?
Der Mensch lügt täglich über hundertmal. Glaubt man den Vorurteilen, trägt der weibliche Mensch den Löwenanteil zur beachtlichen Höhe dieses Durchschnittswertes bei. Das belegen die wissenschaftlichen Studien der Lügenforscher.
Wem jetzt danach ist, mit erigiertem Zeigefinger auf die Schlechtigkeit der Welt und die verschärfte Boshaftigkeit der Frau zu deuten, der liegt voll im Trend unserer Doppelmoral. Obwohl jeder lügt, heuchelt und täuscht so gut er kann, wird die Lüge vom geballten Volksempfinden verdammt, verurteilt, diffamiert. Nur wer die Wahrheit sagt, ist ein guter Mensch. Lügner hingegen sind verachtenswert und böse, Charakterschweine in Reinkultur – solches lehrt uns die herrschende Moral.
Es ist höchste Zeit, mit diesem Vorurteil Schluß zu machen und die Moral eines Besseren zu belehren. Wir müssen der Lüge den Stellenwert geben, den sie verdient – gleichberechtigt an der Seite der Wahrheit. Denn die Wahrheit war und ist niemals so unschuldig, wie sie verkauft wird – im Gegenteil. Geschickt mißbraucht, steht sie manchen Lügen an Gemeinheit in nichts nach. Mehr noch: Sie werden am Ende mit Staunen feststellen, daß vor allem Lügnerinnen unter Umständen die besseren Menschen sind.
Das halten Sie für absurd? Für die Ausgeburt eines kranken Hirns? Ihr Gewissen meldet sich? Schuldgefühle? Lächerlich und völlig fehl am Platze. Das werden Sie gleich feststellen, wenn wir der Lüge auf ihren tief verwurzelten Zahn gefühlt haben.
Als unsere Spezies noch das Feuer hütete, gehörten Lug und Trug zur Grundausstattung im Überlebenskampf. Wer nicht fähig war, Täuschungsmanöver meisterhaft auszuführen, dem war der baldige Abflug in die ewigen Jagdgründe so sicher wie das Schwarze unter seinen Fingernägeln.
Der Stärkere hatte immer recht, nahm es sich und überlebte. Der Stärkere oder die Klügere? Wo Muskelmasse und Statur nicht ausreichten, um sich zu behaupten – sei es nun bei Weiblein oder Männlein, sei es nun gegen den Wollmammut oder den gemüseklauenden Stiefbruder –, bedurfte es einer anderen Strategie, um zu überleben. Und so ward die Lüge geboren.
Was nützt mir mein Faustkeil, wenn Meister Petz nicht damit einverstanden ist, daß ich seine Höhle zu eigenen Wohnzwecken nutzen will? Nichts! Hier hilft nur List und Tücke – ab mit ihm in die Fallgrube! Was mache ich, wenn der Nachbar an meinen mühsam gesammelten Wintervorräten Interesse zeigt, ohne die ich und meine Lebensgefährtinnen verhungern würden? Kriegt er derart eins auf die Rübe, daß er nie mehr was zu essen braucht? Nein! Viel cleverer ist es, ihn anzulügen, der Geier hätte alles geklaut; denn was nützt mir ein toter Nachbar im Kampf gegen befeindete Horden?
Lügen gehörte zu den Verhaltensweisen, die dringend notwendig waren, um das nackte Leben zu retten. Die Alternative zu Lug und Trug waren Hunger und Tod. Evolutionsforscher vermuten, daß sich das Gehirn des Menschen überhaupt erst aus dem Zwang heraus weiterentwickelt hat, überlebensfördernde Täuschungsmanöver zu erfinden. Blicken wir der Wahrheit also ins Auge: ihre Widersacherin, die Lüge, liegt uns im Blut.
Der Gehirnforscher Paul MacLean lokalisiert die Reaktionen und instinktiven Verhaltensweisen, die schon den Urtieren das Überleben ermöglichten, in einem Gehirnteil, das alle Reptilien und Säugetiere inklusive Mensch aufweisen. Es ist unter dem Namen Reptiliengehirn bekannt und funktioniert – in Zusammenarbeit mit dem limbischen System – bei uns genauso wie bei Maus und Walroß. Das Verhalten, das uns von den Tieren unterscheidet, das, was man gemeinhin die menschlichen Qualitäten nennt, wird von der Hirnrinde aus gesteuert. Dort werden die Informationen gespeichert, die wir lernen und antrainieren können. Die vererbten Urinstinkte, wie zum Beispiel der Drang zu kämpfen, sich zu verstellen, zu fliehen oder sich zu verstecken, werden dadurch lediglich überlagert, keinesfalls aber ausgelöscht.
Ihre Eltern – und wer auch immer sich berufen fühlte – haben sich enorme Mühe gegeben, Ihr Reptiliengehirn auszutricksen und Ihnen eine neue Sicht der Dinge zu übermitteln – die gängigen Moralvorstellungen und das, was sie für richtig hielten.
Leider haperte es allzuoft an Überzeugungskraft und an der Methode. Ein Kind, das einem wutentbrannten Erwachsenen auf die Frage »Warst du das?!« mit der klaren Lüge »Nein!« antwortet, hat gelernt, daß es sich eine Ohrfeige einfängt, wenn es die Wahrheit sagt.
Einen weiteren »Lügenverstärker«, die Vorbildfunktion von Mama und Papa, haben auch Sie sicher live erlebt:
Wie oft mußten Sie Tante Hilde am Telefon abwimmeln, weil Mama keine Lust hatte, mit ihr zu plaudern?
Wie oft wurden Sie mit der wissentlichen Falschaussage »Es tut überhaupt nicht weh!« auf den Zahnarztstuhl gelockt?
Wie oft verbrachten Sie nach der Lüge »Ich bin gleich wieder da!« lange, einsame Stunden in der menschenleeren Wohnung?
»Wir haben es ja nur gutgemeint«, rechtfertigen sich heute die Lügner von damals. »Wir haben ja nur zu deinem Wohl gelogen«, schmollen sie beleidigt. Das kann sein, es kann aber auch sein, daß die lieben Eltern zu ihrem eigenen Wohl gelogen haben, um sich nervenzermürbende, endlose Diskussionen über Sinn und Zweck ihres Tuns zu ersparen, oder?
List und Tücke wurden Ihnen in der Regel nicht nur vorgelebt, sondern auch vorgelesen. Die meisten Märchengestalten, wie das tapfere Schneiderlein, Aschenputtel oder Rumpelstilzchen, brillieren durch hinterlistige Täuschungsmanöver. Die nette Mär vom Klapperstorch erscheint in einem anderen Licht, wenn man weiß, daß sie aus der Verklemmtheit einer Generation entstand, die Tatsachen nicht beim Namen nennen wollte. Struwwelpeters sogenannte Lebenserfahrungen sind Erziehungshilfen, die auf faustdicken Lügen basieren. Den Durchblick, daß das Wetter in keinem Zusammenhang mit den Eßgewohnheiten steht, gewinnen Kinder noch bevor der nächste Spinattag graut. Hänsel und Gretel durften lügen, um sich aus einer verfahrenen Situation zu befreien. Genauso die Eltern. Warum nur? Warum durften die tun, was Kindern verboten war?
Clevere Kids erkennen früher, als es den Eltern lieb ist, daß Lug und Trug die Privilegien derer sind, die das Sagen haben. Und sie erkennen auch, daß es nicht zu verachtende Vorteile bringt, die Wirklichkeit so aufzuweichen, daß sie sich flexibel an die momentanen Bedürfnisse anschmiegen kann.
Wenn Sie sich jetzt darüber empören, daß Sie in die geächtete Spezies der Lügner eingeordnet werden, nur weil Sie, sagen wir mal, eine Spontanheilung erfahren durften, nachdem Sie Sekunden vorher noch ein Essen wegen entsetzlicher Kopf- und Magenkrämpfe absagen mußten – dann ist es an der Zeit, die Lüge zu definieren.
Im Lexikon steht, die Lüge sei eine bewußt falsche oder täuschende Aussage – also ist ein Lügner einer, der – aus welchen Gründen auch immer – etwas sagt, was nicht wahr ist. Ganz einfach. Ganz einfach?
Die Philosophen aller Zeiten und aller Herren Länder haben unzählige Federkiele zerschlissen und sich die Zungen trocken geredet, um die Wahrheit über die Lüge herauszufinden. Für Sokrates und Platon war es schon gelogen, wenn man etwas nicht wußte, Gottfried Büchner benannte eine Disharmonie in Gedanken und Worten als Lüge, was jeden höflichen Menschen zum Schwindler werden läßt, und die Anhänger der Scharia schicken Sie mit einem Kopfschuß in das Reich Allahs, wenn Sie die Lüge von der Gleichberechtigung der Frau verbreiten.
Ist es gelogen, wenn einer davon überzeugt ist, ein UFO gesehen zu haben und diese Nachricht seinen Kindern weismacht? Lassen Sie sich als Lügnerin titulieren, wenn Sie bei einem Einstellungsgespräch zu erwähnen vergessen, daß es Ihr größter Wunsch ist, in nächster Zeit schwanger zu werden?
Für den Philosophen Christian Thomasius ist die Lüge zulässig, »wenn der Fall vorliegt, daß der Andere kein Recht auf die Wahrheit hat«.[1] Immanuel Kant zwingt mit kategorischem Imperativ zum Nachdenken über das ethische und rechtliche Verbot der Lüge, das selbst dann einzuhalten ist, »wenn ein Angreifer mit erklärter Mordabsicht und mit der Waffe in der Hand nach dem Aufenthaltsorte des Unschuldigen fragen sollte, den er zu ermorden gewillt ist«.[2]
Wie titulieren Sie den einen Zahnarzt, der Sie mit der Zange und den Worten »Der muß dringend raus!« von einem schmerzenden Zahn befreit, weil er keine andere Möglichkeit als die der Extraktion kennt, um Ihre Qual zu beenden; und wie den andern, der dasselbe tut, allerdings mit dem Wissen darum, daß eine konservierende Behandlung möglich wäre, sie aber nicht anwendet, weil er damit weit weniger verdient als an einer Brücke oder einem Implantat?
Martin Luther, dem unterstellt wird, daß er des öfteren mal »falsch Zeugnis wider seinen Nächsten« redete, hielt die Nutz- oder Notlüge für eine »läßliche« Sünde. »Lüge darf eigentlich nur die unwahre Rede heißen, die dem andern zu schaden bezweckt«, predigte er seinen Anhängern.[3] Johann Gottlieb Fichte dagegen kannte wie Immanuel Kant kein Pardon, selbst wenn’s ans Leben ging: »Stirbt die Frau an der Wahrheit, so laß sie sterben«, erklärte er einem Ratsuchenden auf die Frage, ob er seine sowieso schon sterbenskranke Frau mit der Wahrheit vollends zu Tode bringen dürfe, daß ihr einziges, innigst geliebtes Kind zu...