Von großer Bedeutung für ein besseres Verständnis von Wanderungsbewegungen ist die Migrationsforschung: Sie soll Ursachen und Funktionen von Migration erhellen, systemische Zusammenhänge und reale Entwicklungen offen legen. Auf dieser Basis können das aktuelle Migrationsgeschehen begriffen, Ziele, Möglichkeiten und Resultate der Politik abgeschätzt und emanzipatorische Alternativen entwickelt werden (vgl. Hödl/Husa/Parnreiter/Stacher 2000:21).
Zahlreiche migrationstheoretische Ansätze wurden in den vergangenen Jahren in zunehmendem Maße wegen ihrer „gender blindness“ kritisiert. Vorwiegend männliche Forscher gingen vom Postulat des jungen, männlichen, abenteuerlustigen Migranten aus, der allein in der Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard aufbricht; Frauen wurden allenfalls als begleitende oder nachwandernde „Anhängsel“ ihrer Männer wahrgenommen. Doch wie kam es dazu, dass Frauen in der Migrationsgeschichte untergehen konnten?
Ich möchte zunächst aufzeigen, welch großes Wanderungspotenzial in Frauen steckt – schließlich nimmt seit einigen Jahrzehnten bei allen Migrationsformen in sämtlichen Regionen die „Feminisierung“ der internationalen Migration zu. Anschließend werde ich erläutern, wie „Gender“ als analytische Kategorie allmählich in die feministisch orientierte Forschung bzw. in die Migrationsforschung im Besonderen einfloss.
In der Literatur zur internationalen Migration waren Frauen als Migrierende lange Zeit entweder gar nicht, nur ansatzweise oder verzerrt als passive Objekte (z.B. im Zusammenhang mit Familiennachzug, Menschenhandel) präsent. Dieser androzentrische Blick auf migratorische Prozesse entspricht aber keinesfalls der Realität: JedeR zweite transnationale MigrantIn ist weiblich, Tendenz steigend. Dabei ist zu beachten, dass Frauen vermehrt allein wandern, um sich beispielsweise als Arbeiterinnen oder Hausangestellte anderswo durchzuschlagen (vgl. Hödl/Husa/Parnreiter/Stacher 2000:13). Als ausschlaggebend für die Zunahme weiblicher Migration gelten zum einen Prozesse der wirtschaftlichen Entwicklung und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Zwänge für Frauen in den Herkunfts- und Zielregionen; zum anderen wird weibliche Migration begünstigt oder eingeschränkt durch institutionelle Faktoren, die aus dem soziokulturellen System entstehen und die soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern andauern lassen.
Heute wird gern das Schlagwort „Feminisierung der Migration“ (Castles/Miller 1998:9) in den Mund genommen, was aber mit Vorsicht zu genießen ist: Es stimmt zwar, dass Frauen in einigen derzeit besonders auffallenden Wanderungsströmen, etwa der Arbeitsmigration im südostasiatischen Raum, einen sehr hohen Anteil ausmachen. Die Gesamtzahlen zur weltweiten Migration nach dem Zweiten Weltkrieg lassen jedoch keinen massiven Anstieg weiblicher Wanderungen erkennen – Frauen wurden lange Zeit einfach nicht zur Kenntnis genommen. Die weibliche Beteiligung an historischen und rezenten Migrationsprozessen ist jedenfalls beachtlich, was folgende Beispiele verdeutlichen sollen (vgl. Aufhauser 2000:102-104):
Circa ein Drittel, teilweise sogar die Hälfte der im 18. Jahrhundert von Afrika nach Amerika transportierten SklavInnen war weiblich.
Die irische Emigration Ende des 19. Jahrhunderts gestaltete sich als weibliche Massenbewegung.
Seit rund 50 Jahren migrieren konstant mehr Frauen als Männer in die USA.
Anfang der 1990er Jahre stellten Frauen knapp die Hälfte der MigrantInnen innerhalb der Europäischen Union. Interessanterweise verlassen überproportional viele Frauen Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich und Irland bzw. wandern überproportional viele Frauen nach Spanien, Griechenland, Italien und Großbritannien.
Mitte der 1990er Jahre arbeiteten 1,5 Millionen Asiatinnen außerhalb ihres Herkunftsstaates.
Folgende Feststellungen lassen sich für bedeutende Teilbereiche der internationalen Migration treffen (vgl. Aufhauser 2000:104-106): An mit dauerhafter Einwanderung verbundenen Migrationsströmen sind Frauen stärker als Männer beteiligt; auch Rückwanderungen sind seltener. Die klassischen Einwanderungsländer weisen heute eine ungefähr ausgeglichene Geschlechterstruktur der immigrierten Bevölkerung auf. Einen Männerüberschuss an ImmigrantInnen verzeichnen Neuseeland, Brasilien und Venezuela, frauendominiert sind Wanderungen nach Israel und in die USA, etwa ausgeglichen präsentiert sich die Zuwanderung nach Australien. Da der Familiennachzug in der Regel großzügig geregelt ist, lösen Immigrationen zunehmend Migrationsketten mit einer relativ ausgeglichenen Geschlechterstruktur aus.
Die Immigration ins Europa der Nachkriegszeit (Zuzug aus ehemaligen Kolonien, Gastarbeiterwanderung, Flüchtlingsströme) war deutlich männlich geprägt, woran sich bis heute nicht viel geändert hat – sieht man von den frauendominierten Flüchtlingswellen aus dem ehemaligen Jugoslawien bzw. von der inoffiziellen Immigration von Frauen aus Osteuropa zwecks Hausarbeit, Kinderbetreuung und Prostitution ab. Deutlich weniger als 50 Prozent der ausländischen Bevölkerung in Mitteleuropa sind Frauen, was aber auch daran liegt, dass Frauen geneigter sind, die Staatsbürgerschaft des Aufnahmelandes anzunehmen. Ein relativ junges Phänomen stellt die starke legale und illegale Zuwanderung nicht-europäischer Frauen in die neuen Mittelschicht-Doppelverdiener-Haushalte der Großstädte Südeuropas dar, wo in der Regel Tätigkeiten im häuslichen Bereich verrichtet werden.
Bei der Zuwanderung aus Asien in den nordamerikanischen Raum spielten Frauen zunächst hauptsächlich als Ehefrauen von US-Soldaten eine Rolle, ab den 1970er Jahren auch als qualifizierte Arbeitskräfte und als Flüchtlinge. Zur Zeit partizipieren Asiatinnen an Wanderungen nach Nordamerika vorwiegend im Rahmen von Familienketten. Stark vertreten sind Südostasiatinnen als Arbeitsmigrantinnen, primär als Hausangestellte für die neuen Mittelschichten, in den arabischen Staaten Westasiens. Beginnend in den 1980er Jahren und beschleunigt Anfang der 1990er Jahre zog es eine Vielzahl von Frauen aus den weniger entwickelten Ländern Südostasiens in die „newly industrializing countries“, wo sie typischerweise Arbeiten als Hausangestellte oder Tänzerinnen annahmen.
Die nicht adäquate Beachtung von Frauen gilt auch für den Bereich der Flüchtlingsforschung. In so gut wie allen Artikeln über Flüchtlingsfrauen wird das Fehlen umfassender, verlässlicher Daten für die verschiedenen Phasen Verfolgung, Flucht, Asyl und Wiederansiedelung beklagt. Herkömmliche internationale Statistiken über Fluchtbewegungen lassen häufig soziale Charakteristiken wie Gender, Alter und Familienstatus außer Acht, obwohl diese eine Grunddimension von Bevölkerungsdynamiken darstellen (vgl. Kraly 1997:208-211). Entsprechende Statistiken wären einerseits wichtig, um Änderungen in der Bevölkerungsstruktur zu erkennen bzw. deren soziale Implikationen zu verstehen, andererseits dienen seriöse Statistiken als Grundlage für Hilfsprogramme. Seit den 1980er Jahren erkannten UNHCR sowie viele NROs zwar die Wichtigkeit einer Gender-Dimension in Flüchtlingsstatistiken, doch ihre Bemühungen wurden immer wieder durch die Art der von Ländern oder Organisationen eingereichten Daten, die aufgrund unterschiedlicher Erhebungsmethoden außerdem selten miteinander vergleichbar waren, untergraben. Neben Ignoranz sind auch logistische und finanzielle Probleme ein Hemmschuh für eine gendersensible Datensammlung.
Der Mangel an genderspezifischen Daten erscheint umso erstaunlicher, als der weibliche Anteil gerade an der Flüchtlingspopulation sehr hoch ist – höher als bei den Migrationen insgesamt. Im ehemaligen Jugoslawien waren etwa 1993 61,3 Prozent der Flüchtlinge Frauen, im Jahr darauf sogar 85,2 Prozent (vgl. Tošić/Djordjević 1997:496). Weltweit setzt sich die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge aus Frauen und Kindern zusammen; Schätzungen gehen von 75 bis 80 Prozent (50 bis 60 Prozent Kinder und 20 bis 30 Prozent Frauen) aus. Allerdings sind nur die Hälfte der von UNHCR betreuten Flüchtlinge weiblich (vgl. UNHCR 2002a:7). Dass Frauen und Kinder in der Regel in einem Atemzug genannt werden, mag Befremden auslösen, hat jedoch laut Weber (1996:13) seine Berechtigung: Zum einen lastet weltweit die vorwiegende und in vielen flüchtlingsproduzierenden Ländern die alleine Verantwortung für die Pflege der Kinder bei den Frauen. Zum anderen bilden Kinder eine Fluchterschwernis, manchmal sogar ein Fluchthindernis.
Anhand eines Beispiels aus Ostafrika möchte ich kurz darstellen, wie in der medialen Berichterstattung auf weibliche Flüchtlinge häufig einfach „vergessen“ wird – mit gravierenden Konsequenzen für ihre Zukunft. Die Odyssee Tausender Kinder und Jugendlicher, die Ende der 1980er Jahre wegen Kämpfen aus ihrer Heimat Sudan fliehen mussten und jahrelang durch die Savanne nach Kenia wanderten, berührte die Welt für kurze Zeit. Die USA erklärten...