Frauen um Goethe – Goethe und die Frauen
Johann Wolfgang von Goethes Drang, sich selbst darzustellen, über sich selbst Rechenschaft abzulegen, ist bekannt. Seine dichterischen Werke bezeichnete er selbst einmal als «Bruchstücke einer großen Konfession». Gegen seine Absicht legitimierte diese Äußerung den oft platten Biographismus seiner Ausleger. Deutlicher autobiographische Zeugnisse sind jedoch seine zahlreichen erhaltenen Briefe, von denen weit über ein Zehntel an die Seelenfreundin Charlotte von Stein gerichtet sind. Hinzu kommen die Tagebücher, die autobiographischen Fragmente und die im Alter niedergeschriebenen Erinnerungen in «Dichtung und Wahrheit». Eine Biographie, die Goethes Leben aus seiner eigenen Sicht darstellen möchte, kann sich somit auf eine ungeheure Materialfülle stützen.
Anders sieht es mit den Frauen um Goethe aus. Versucht man herauszufinden, wie die Frauen, die von dem Dichter einst verehrt oder geliebt wurden, nun ihrerseits ihre Beziehung zu Goethe interpretierten, was sie ihnen bedeutete, so fehlt es häufig gänzlich an Selbstzeugnissen. Dies mag zum einen an der zufälligen Ungunst der Überlieferung liegen, beruht bisweilen jedoch auf der ganz bewussten Vernichtung wertvollen Quellenmaterials. Nicht nur hat Goethe selbst in einem großen Autodafé 1797 alle bis 1792 erhaltenen Briefe verbrannt, sondern schon Jahre zuvor, nach ihrem Bruch mit Goethe, hat Charlotte von Stein etwa ihre Briefe an Goethe zurückgefordert und vernichtet. So ergibt sich im Falle gerade dieser für Goethe so wichtigen Beziehung die eigenartige Situation, dass uns von Goethes Dialog mit Frau von Stein während seines ersten Weimarer Jahrzehnts lediglich die eine Hälfte überliefert ist, die Antworten der geliebten Freundin jedoch unbekannt geblieben sind. Auch sonst, bei Charlotte Buff-Kestner etwa oder Lili Schönemann-von Türckheim, setzen Selbstzeugnisse häufig erst in einer Zeit ein, in der ihre Beziehung zu Goethe längst abgeklungen ist. So gewinnt der Interpret oft nur aus vielfältigen Brechungen oder, um einen Ausdruck Goethes zu verwenden, aus «wiederholten Spiegelungen» seine Eindrücke und muss aus indirekten Quellen Rückschlüsse zu ziehen suchen, welche Bedeutung Goethe im Leben der jeweiligen Frauen besaß.
«Frauen um Goethe» – aus dieser Formulierung wird bereits deutlich, dass Goethe der Fokus ist, an dessen Biographie auch die Frauenviten sich zunächst einmal orientieren müssen. Die goethezentrierte Betrachtungsweise, die einst in der deutschen Geistesgeschichte Programm war (Goethe als die alles beherrschende Sonne, deren Strahlen den Menschen in ihrem Umkreis erst Licht verliehen), scheint damit zunächst einmal auch in diesen biographischen Skizzen zwar beibehalten, ist hier aber durch die Einsicht bedingt, dass die Quellenlage in einigen Fällen kein anderes Verfahren zulässt: Die einseitige und verzerrende Perspektive der Überlieferung erlaubt einen Blick auf die Frauen um Goethe oft nur aus der Sicht Goethes.
Diese Einsicht wiederum führt einerseits dazu, dass die ‹erotische Biographie› des Dichters als chronologischer Leitfaden durch die Lebensgeschichten der einzelnen Frauen dient; sie soll andererseits keineswegs verhindern, dass der Lebensweg dieser Frauen auch über die Zeit ihres Umgangs mit dem Dichter weiterverfolgt wird. Wo immer dies möglich ist, soll durch die Wiedergabe überlieferter Zeugnisse und Selbstzeugnisse auch diesen Frauen Gerechtigkeit widerfahren, sollen sie gleichsam aus dem Bannkreis Goethes herausgelöst und als die unabhängigen Persönlichkeiten charakterisiert werden, die sie waren.
Unabhängige Persönlichkeiten einerseits, typische Vertreterinnen der Frauen der Goethezeit andererseits: Dies waren sie allesamt, die Goethe auf ihrem Lebensweg begegneten. Die Generation seiner Eltern (Goethes patente Mutter), seine Altersgenossinnen (frühe Freundinnen wie Friederike Brion, Charlotte Buff, Lili Schönemann) und schließlich die Generation seiner Kinder (zu einem solchen ‹Kind› stilisierte sich insbesondere Bettine Brentano-von Arnim gern): Sie alle waren jeweils besondere Persönlichkeiten, trugen zugleich jedoch auch an den typischen Frauenproblemen der Goethezeit, die ihnen allen gemeinsam waren.
Das wichtigste Kennzeichen, nicht nur alle Generationen, sondern auch alle Stände durchziehend, stellte sicherlich der Kinderreichtum dar, verbunden mit einer nach heutigen Begriffen kaum vorstellbar hohen Kindersterblichkeit. Betrachten wir die Viten der Beamtengattin Charlotte Buff-Kestner (zwölf Kinder, davon zwei im Kindesalter gestorben), der Kaufmannsgattin Maximiliane von LaRoche-Brentano (dreizehn Kinder; Maxe selbst stirbt nach der Geburt ihres dreizehnten Kindes im Alter von erst siebenunddreißig Jahren), der Bankiersgattin Lili Schönemann-von Türckheim (sechs Kinder, davon eines im Kindesalter gestorben), der adligen Hofdame Charlotte von Stein (sieben Kinder, davon vier im Kindesalter gestorben), der Christiane Vulpius (fünf Kinder, davon vier im Kindesalter gestorben) und auch noch der Dichtersgattin und nachmaligen Schriftstellerin Bettine Brentano-von Arnim (sieben Kinder), so muten deren Lebenswege zunächst gleichförmig an: Der ständige und zermürbende Wechsel von anstrengenden Schwangerschaften über die Freude am Nachwuchs und seine Taufe bis hin zum Kinderbegräbnis bestimmte den Familienalltag häufig weit mehr als ein Jahrzehnt, oft zwei Jahrzehnte lang.
Der zweite Frauentypus, der nämlich der unverheiratet gebliebenen Frauen, begegnet uns auffallend häufig in Goethes Biographie – oft (freilich nicht notwendigerweise) entsprach dieser Frauentypus dem einer unnahbaren «Äbtissin». Der Keim hierzu mag in Goethes intensiver, latent inzestuöser Beziehung zu seiner Schwester Cornelia gelegt worden sein, von der er im achtzehnten Buch von «Dichtung und Wahrheit» selbst sagt: «Aufrichtig habe ich zu gestehen, daß ich mir, wenn ich manchmal über ihr Schicksal phantasierte, sie nicht gern als Hausfrau, wohl aber als Äbtissin, als Vorsteherin einer edlen Gemeine gar gern denken mochte. Sie besaß alles, was ein solcher höherer Zustand verlangt, ihr fehlte, was die Welt unerläßlich fordert.»
Seine Jugendliebe Friederike Brion starb unverheiratet, geliebt und geachtet zwar als ‹Tante› zahlreicher Patenkinder, aber ohne ihr Glück in einer sinnlichen Beziehung gefunden zu haben. Minchen Herzlieb starb in einer psychiatrischen Heilanstalt, nachdem eine von Anfang an unlustig eingegangene Ehe sie ähnlich wie Cornelia in die Katastrophe gestürzt hatte. Auch Ulrike von Levetzow, Goethes letzte Liebe, starb als hochbetagtes Stiftsfräulein in Böhmen. Nur die Hand, um die Goethe einst angehalten hatte, küsste man ihr ehrfurchtsvoll.
Ulrike von Levetzows Biographie spiegelt den typischen Lebenslauf einer unverheirateten Dame von Adel wider. Während einfachere junge Frauen wie Friederike Brion oft keine andere Wahl hatten, als ein Leben in völliger Zurückgezogenheit zu führen, abhängig zu sein davon, dass verheiratete Schwestern oder andere Verwandte ihnen Kost und Logis gewährten, fanden Damen von Adel ihr neues Zuhause häufig in einem Stift, einer religiösen Institution, die vom Landadel eigens zu diesem Zweck gegründet worden war und in der die Stiftsdamen zwar ähnlich wie Nonnen lebten, an eine klösterliche Regel oder gar ein Gelübde jedoch nicht gebunden waren. Manchmal konnte es geschehen, dass ein solches Stiftsfräulein doch noch heiratete und dann aus dem Stift wieder auszog. Diesen Weg ging etwa Goethes Briefvertraute Auguste zu Stolberg, die im Jahre 1783 im für damalige Begriffe hohen Alter von vierunddreißig Jahren den Grafen Andreas Peter von Bernstorff ehelichte. Meistens jedoch bedeutete, wie im Falle der Ulrike von Levetzow, die teure Aufnahme in ein Stift so viel wie ‹lebenslänglich›.
Neben die sozialen Gemeinsamkeiten (hier der Kinderreichtum der verheirateten Frauen, dort die Einsamkeit der Stiftsfräulein) treten die zeitgeschichtlichen Geschehnisse, insbesondere die für die Goethezeit so ungemein prägende Französische Revolution und die Ära Napoleons, die auch auf die Frauen um Goethe Auswirkungen zeitigen sollten.
Wir werden sehen, wie Revolutionskriege und Feldzüge Napoleons zunächst 1794 Lili von Türckheim betrafen, die in Straßburg dem Geschehen natürlich am nächsten war und aufgrund der politischen Ereignisse mit ihrer Familie ins Exil gehen musste, wie sie sodann Charlotte Kestner erreichten, die ein ganzes Jahrzehnt lang, von 1803 bis 1813, in Hannover unter französischen Einquartierungen zu leiden hatte, wie sie schließlich auch Weimar und Jena heimsuchten, wo französische Soldaten nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt von 1806 plündernd durch die Städte zogen.
Charlotte von Stein etwa verlor als Dreiundsechzigjährige einen großen Teil ihres Besitzes. Christiane Vulpius hielt tapfer zu ihrem Lebensgefährten, der es ihr noch während der Belagerung von Weimar damit dankte, dass er sie nach achtzehn gemeinsamen Jahren zu seiner legitimen Ehefrau machte – mit der Begründung, dass man in friedlichen Zeiten die Gesetze sehr wohl umgehen, in Zeiten politischer Wirren und chaotischer Zustände aber umso mehr sie achten müsse. Johanna Schopenhauer, gerade erst zugezogen in Weimar, bestand nach einem Diktum Goethes ihre Feuertaufe glänzend, da sie zahlreichen Betroffenen Hilfe und Trost gewährte.
Hier geht es jedoch nicht in erster Linie um eine exemplarische Studie über Frauen der Goethezeit. Auch und vor allem interessiert uns das Thema «Goethe und die Frauen». Die Biographie des Dichters fungiert somit nicht nur als historisches Gerüst, als chronologischer Leitfaden durch die Frauenviten. Vielmehr geht es gleichzeitig um...