Vorwort
Fremde im neuen Land – der Titel dieses Buchs hat eine doppelte Bedeutung. Er bezieht sich sowohl auf das Leben deutscher jüdischer Einwanderer in der neuen Heimat Palästina, das 1948 zum Staat Israel wurde. Und der Titel verweist zugleich auf die alte Heimat der Emigrierten, auf Deutschland, das sie ausgestoßen hatte. Auch dort sollte nach dem Willen der alliierten Mächte ein neues Land entstehen, ohne Antisemitismus und Rassismus, ohne Armee und Militarismus.
Viele ehemalige deutsche Juden hatten in ihrer neuen Heimat Palästina erhebliche Schwierigkeiten, sich dem dortigen Leben anzupassen. Sie blieben lange Zeit Fremde. Manche trauerten ihrem früheren Leben in Berlin, Köln oder München nach. Sie vermissten die Kultur, die Sprache und das gesellschaftliche Leben. Die Armut und die Primitivität des Alltags in Palästina schreckten sie ab. Hinzu kam die Erwartung der zuvor eingewanderten Juden, dass die Neuankömmlinge sich an die Gesellschaft anpassen und ihre alte Existenz umstandslos abstreifen sollten. Das aber war vielen der deutschen Juden nicht so leicht möglich.
Noch weniger konnten sich diese Menschen, die in Palästina damals geringschätzig als Jeckes bezeichnet wurden, nach dem Krieg vorstellen, nach Deutschland zurückzukehren, dorthin, wo ihre Verwandten und Freunde ermordet worden waren. Das besiegte Deutschland war besetzt, die nationalsozialistischen Organisationen aufgelöst und verboten, die wenigen überlebenden Juden befreit – doch die Überlebenden konnten und wollten diesen Deutschen, die doch einmal ihre Nachbarn gewesen waren, nach der Schoah nicht mehr trauen. Angesichts des Geschehenen bezweifelten sie, dass dort wirklich ein neues Land im Entstehen begriffen war. Die wenigsten der nach Palästina bzw. Israel ausgewanderten Juden sind nach dem Krieg in ihre frühere Heimat zurückgekehrt.
Aber natürlich wollten sie alle wissen, wie es um diese alte und nun so fremde Heimat stand. Viele Fragen drängten sich auf: Was war aus diesen Deutschen geworden, die millionenfachen Tod über einen ganzen Kontinent gebracht hatten? Hatten sie begriffen, welche Verbrechen sie begangen hatten? Welchen Weg würden die Deutschen gehen? Wie sahen die Städte und Dörfer nach dem Bombenkrieg aus? Stand das Haus noch, in dem man einmal glücklich gelebt hatte? Auch stellte sich die Frage, wie das jüdische Leben in Deutschland nach der Schoah aussah. Wer hatte den Massenmord überlebt, und wie ging es diesen Menschen in dem zerstörten Land? Würden sie den Ausgewanderten nach Erez Israel, dem Lande Israel, nachfolgen, oder dachten sie daran, in Deutschland einen neuen Anfang zu wagen?
In diesem Buch sind 22 Reportagen versammelt, die zwischen 1945 und 1950 in einer deutschsprachigen Wochenzeitung aus Tel Aviv erschienen sind. Diese Zeitung hieß »Mitteilungsblatt« (MB), und herausgegeben wurde sie vom Verband der eingewanderten deutschen Juden. Ihre Macher waren ebenso wie ihre Leser Jeckes, die größtenteils seit den 1930er Jahren in Erez Israel lebten. Beide, Journalisten und Abonnenten, hatten die gleichen Fragen.
Nun war – und ist, denn es erscheint nach wie vor – das Tel Aviver »Mitteilungsblatt« keine große Zeitung. Doch die geringe Auflage stand im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu der Qualität, die das Blatt auszeichnete. Hier schrieben keine drittklassigen Verbandsfunktionäre einer beliebigen, auf ihre Partikularinteressen pochenden Landsmannschaft, sondern ausgezeichnete Journalisten, Schriftsteller und Wissenschaftler, die es schon in der Weimarer Republik zu einiger Reputation gebracht hatten. Sie waren nicht auf Schnellschüsse bedacht. Die Macher des »MB« zeichnete aus, dass ihre Artikel über den Tag hinaus Gültigkeit haben sollten, dass die Autoren grundsätzliche Fragen berührten und sich vor vorschnellen Antworten hüteten – auch wenn ihre Urteile selbstverständlich nicht frei von Fehlern waren.
Noch während des Krieges erschienen die ersten Texte von Reportern des »Mitteilungsblatts« aus dem zerstörten Europa. Und schon kurz nach der Befreiung erreichten die ersten »MB«-Mitarbeiter, oft unter widrigen Umständen, das besetzte Deutschland. Sie schrieben aus und über ihre frühere Heimat, die ihnen gründlich fremd geworden war. Sie sprachen mit den besiegten Deutschen, alliierten Soldaten, mit den überlebenden deutschen Juden und mit denjenigen Juden, die schon bald auf der Flucht aus Osteuropa zu Hunderttausenden ausgerechnet im »Land der Täter« auf ihren Transit in eine neue Heimat warten mussten. Die Berichterstatter besuchten die zerstörten deutschen und österreichischen Großstädte, liefen durch die Ruinen der geschändeten Synagogen, besuchten Theatervorstellungen und verspürten als Israelis bisweilen ein klein wenig Heimweh, wenn sie der mitteleuropäische Frühling in seiner Pracht überraschte.
In erster Linie aber versuchten sie, Antworten auf die bohrenden Fragen zu geben, die die Daheimgebliebenen in Erez Israel bewegten.
Nahezu 70 Jahre später erscheinen nun diese Reportagen zum ersten Mal für ein deutsches Publikum. Aus den Texten sind historische Momentaufnahmen geworden, die an eine scheinbar ferne Zeit erinnern. Die Artikel waren damals nicht für deutsche Leser geschrieben worden. Heute erinnern sie uns an ein Land, das wir uns so kaum mehr vorstellen können.
Vor allem aber zeigen diese jüdischen Reportagen aus dem besiegten Deutschland einen Blickwinkel auf, der anderen zeitgenössischen Texten aus den 1940er Jahren naturgemäß fehlen muss. Denn hier schrieben keine besiegten deutschen Journalisten, darum bemüht, die Artikel, die sie während der Zeit des Nationalsozialismus verfasst hatten, vergessen zu machen. Die Autoren zählen auch nicht zu den wenigen Widerständlern, die die NS-Zeit überlebt haben, und schon gar nicht sind es alliierte Kriegsberichterstatter oder Korrespondenten, die über ein gänzlich unbekanntes Land berichteten.
Die hier zu Wort kommenden Autoren waren einmal Deutsche gewesen. Die Nazis hatten sie ausgetrieben. Nun waren sie nach nur wenigen Jahren in ihre alte Heimat zurückgekehrt – selbstverständlich nur auf eine begrenzte Zeit. Fast alle waren sie in der Weimarer Republik großgeworden und sozialisiert. Viele von ihnen hatten die ersten Jahre der NS-Herrschaft aus eigener Anschauung miterleben müssen, mit all den Diskriminierungen und Schikanen gegen Juden. Die Reporter des »Mitteilungsblatts« kannten sich also hervorragend mit den Verhältnissen in Deutschland aus. Und doch konnte die Distanz zu den Bewohnern dieses besiegten Landes kaum größer sein. Sie lebten längst auf einem anderen Kontinent, sie standen fest zu ihrem neuen Land und fühlten sich als Israelis. Hier schrieb Tel Aviv.
Dieser große Abstand ist in den Texten spürbar. Allerdings waren die Jeckes-Reporter keineswegs begeistert von den Zerstörungen in ihrer früheren Heimat. Revanchegelüste sind in den Texten nicht auffindbar. Unisono lehnten sie zudem die Vorstellung von einer kollektiven Schuld aller Deutschen ab. Aber sie waren dennoch misstrauisch gegenüber ihren früheren Nachbarn. Sie glaubten nicht daran, dass jüdisches Leben dort erneut gedeihen könne – und wollten doch genau wissen, wie sich die Überlebenden organisierten. Sie waren nicht von der Vorstellung geleitet, dass jeder Deutsche ein Nazi (gewesen) sei. Aber sie trafen doch immer wieder auf Anhänger des untergegangenen Regimes.
Für die damaligen Leser des »Mitteilungsblatts« waren diese Texte ferne Grüße aus der früheren Heimat, die für sie während des Krieges zur mörderischen Bedrohung geworden war. Für die heutigen deutschen Leser sind es überraschende und scharfe Nahaufnahmen von einem besiegten Land, seinen deutschen Bewohnern, den überlebenden Juden und den alliierten Soldaten.
Die Reportagen aus dem »Mitteilungsblatt« werfen ein Schlaglicht auf das Leben der Juden in Deutschland unmittelbar nach der Schoah, eine Thematik, die erst jüngst das Interesse von Wissenschaft und Publizistik gefunden hat und die in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben ist. Kaum jemand weiß heute noch, dass zeitweise mehrere hunderttausend überlebende Juden aus Osteuropa im besetzten Deutschland und Österreich jahrelang auf eine neue Zukunft in Palästina, den USA oder in anderen Ländern warten mussten. Und nur wenigen ist die Geschichte des Judentums in Deutschland in den ersten Jahren nach dem Krieg bekannt, zu einer Zeit, als die meisten das »Land der Täter« zunächst auf dem schnellsten Wege verlassen wollten. Warum einige dennoch geblieben sind und damit dafür gesorgt haben, dass es heute überhaupt noch ein Judentum in der Bundesrepublik gibt, wird aus den Texten im »Mitteilungsblatt« und den sie ergänzenden Erläuterungen deutlich.
Zugleich ist dieses Buch eine Reminiszenz an den Jeckes-Verband »Irgun Olej Merkas Europa« und seine Zeitung. Es berichtet über die schwierige Integration der ab 1933 in großer Zahl ins damalige Palästina eingewanderten deutschen Juden und zeichnet die Geschichte des schon 1932 gegründeten »Mitteilungsblatts« von einem kleinen Verbandsblatt hin zu einer bedeutenden intellektuellen Stimme der Neueinwanderer nach, die bis heute als zweimonatliches Magazin »MB Yakinton« besteht. Das »Mitteilungsblatt« hat mit seiner vorurteilsfreien Berichterstattung über die Jahrzehnte unendlich viel dazu beigetragen, dass die Israelis nach der Schoah neues Vertrauen in die Politik der...