Kapitel I
Aus einem reformierten Pfarrhaus
Das Wesentliche geschieht in unserem Herzen.
Frère Roger, 19811
Im Alter von 20 Jahren weiß der junge Roger Schutz, was er werden will: Schriftsteller und Bauer.2 Adèle Rosset, eine Großtante, deren Geschichten ihn als kleines Kind begeistert hatten, weckt in ihm schon früh den Wunsch zu schreiben. Von Bekannten wird die Tante als schwatzhaft bezeichnet, aber sie nimmt den kleinen Nachzügler ernst. Die Großen vergessen ihn gerne, denn er ist der letzte Junge nach einer langen Reihe von Mädchen und hat nur einen wesentlich älteren Bruder, Charles. Tante Adèle hingegen gibt seiner Vorstellungskraft Nahrung und holt ihn aus seiner Einsamkeit heraus. So eröffnen sich ihm neue Horizonte zwischen Fiktion und Geschichte, wodurch er sich mit den grundlegenden Gegebenheiten der menschlichen Seele und deren Unwägbarkeiten vertraut macht.
Tante Adèle bringt aus Paris den Duft der großen weiten Welt in das kleine Schweizer Dorf Provence. Sobald der kleine Roger seine Aufgaben erledigt hat, machen es sich die beiden im hinteren Teil des Gartens gemütlich. Dort, neben dem Rosenbeet, weit weg vom Haus, breitet sich vor ihnen die Landschaft aus, mit einem wunderbaren Blick über den See von Neuchâtel und an schönen Frühlingstagen bis zu den schneebedeckten Gipfeln der Alpen. So entsteht ein intensiver Austausch zwischen Roger und seiner Großtante. Sie erzählt ihm aus der Chronik der Familie, ohne das geringste Detail im Leben der Hauptpersonen zu übergehen. Sie zeichnet das Porträt einer Familie, die mit ihren weitreichenden Verzweigungen und ihren Schicksalswendungen sehr vielschichtig und schwer zu fassen ist. Aber sie erzählt nicht nur alte Anekdoten, sondern stellt auch den historischen Zusammenhang her. Wie alle Kinder hört der junge Roger gerne immer wieder dieselben Geschichten. Ob es ihm bewusst war oder nicht, die so verschiedenen Biografien und Milieus, die sich in seiner Familie in Frankreich und der Schweiz begegnen, werden sein weiteres Leben bereichern. Aus diesem Gemälde treten einige äußerst originelle Persönlichkeiten und Ereignisse hervor, die das Leben des Gründers der Communauté von Taizé auf besondere Weise prägen, andere werden hingegen ausgeblendet.
Eine balzacsche Atmosphäre
Als Erwachsener verspürt Frère Roger eines Tages das Bedürfnis, in den kleinen Ort Bachs nahe der deutsch-schweizerischen Grenze im Kanton Zürich zu fahren, um das bescheidene Haus der Familie Schütz zu besuchen, die im 17. Jahrhundert aus Deutschland in die Schweiz übersiedelt war. Roger hat seinen Großvater väterlicherseits, Hans-Ulrich Schütz (1831–1915), nicht mehr gekannt, doch Tante Adèle hat ihm von dessen Güte und Großzügigkeit erzählt. Im Alter von 18 Jahren, im Jahr 1849, verlässt dieser junge Mann sein Dorf und beginnt in Neuchâtel ein Jurastudium. Dort arbeitet er auch als Notargehilfe. Da er sich jedoch »aufgrund seiner Rechtschaffenheit«3, so die Tante, weder für eine juristische Laufbahn noch für den Anwaltsberuf geeignet fühlt, eröffnet er den vornehmen Bazar Schütz & Schinz, der schon bald floriert und aus dem später das renommierte Warenhaus Armourins wurde. Seine Geschäftsreisen führen ihn durch ganz Europa. Er spezialisiert sich auf sächsisches Porzellan und verwandelt das Erdgeschoss seines Hauses in der Rue de la Serre von Neuchâtel in eine Kunstgalerie.
Großeltern Schütz
Dieser Vorfahre Rogers ist fast 40 Jahre alt und hat 40 »arme Patenkinder«, als er Cécile-Eugénie Rosset, die Schwester eines Freundes, heiratet, die 15 Jahre jünger ist als er und aus einer angesehenen Familie mit hugenottischen Wurzeln stammt. Möglicherweise kommt daher Rogers Überzeugung, er habe väterlicherseits französisches Blut in den Adern. Aus dieser Ehe gehen drei Kinder hervor, zwei Mädchen und ein Junge, Charles (1877–1946), Rogers Vater. Im Gegensatz zu ihrem Mann, einem gläubigen Christen mit einem festen Platz in der Kollegiatskirche von Neuchâtel, steht seine Frau der Philosophie Voltaires nahe. Sie respektiert die Überzeugungen ihres Mannes, behält ihre eigenen jedoch bei und begleitet ihn sonntags nicht in die Kirche.
Schon bald nimmt das Paar den Vater von Cécile-Eugénie und ihre zwei unverheirateten Geschwister, Mary und Charles, bei sich auf. Monsieur Rosset, der Vater von Cécile-Eugénie, hat das Vermögen der Familie durch Fehlinvestitionen beim Bau der Eisenbahnlinie von Bern nach Lausanne verloren, und seine Frau hat sich von ihrem Kummer nicht mehr erholt. Stillschweigend übernimmt die ältere der beiden Rosset-Schwestern, Mary, im Hause Schütz die Leitung des Haushalts und den Vorsitz bei Tisch. Sie gibt dem Paar durch ständige Sticheleien deutlich zu verstehen, dass sie ihre Ehe missbilligt, obwohl die beiden eigentlich ihre Gastgeber sind. Das Ehepaar Schütz erträgt die Demütigungen klaglos, aber ihr Sohn Charles – Rogers Vater – leidet sehr darunter. Insgeheim nimmt Charles seiner Mutter deren passives Verhalten übel und hegt zeit seines Lebens eine gewisse Bitterkeit gegen den mütterlichen Zweig der Familie und dessen Selbstgefälligkeit. Er selbst wird immer ein einfaches Leben und den Kontakt zu den Ärmsten der Armen suchen.
Dessen ungeachtet steht das Haus allen offen, auch der Großtante Adèle, die plötzlich mit ihren drei Kindern in Paris von Gerichtsvollziehern bedrängt wird, nachdem sich ihr verschwenderischer Ehemann an der Börse ruiniert und sich, ohne eine Adresse zu hinterlassen, aus dem Staub gemacht hat. Sie verlässt ihr Palais in der Nähe der Champs-Élysées. Ihr Schwager hilft ihr, die Angelegenheiten in Paris zu regeln, und lädt sie nach Neuchâtel ein. Doch alte Liebe rostet nicht, und eines schönen Tages kehrt ihr Mann mit prall gefülltem Geldbeutel aus Indien zurück, nimmt sein früheres Leben in Paris wieder auf, verschleudert erneut alles Hab und Gut und stirbt.
Schon lange bevor er mit der Literatur in Berührung kommt, versteht der kleine Roger seinen Vater auf intuitive Weise. Manchmal erzählt er später trotz seiner sonst eher zurückhaltenden Art von der balzacschen Atmosphäre seiner Kindheit und erinnert sich an die traurigen Erzählungen seiner Großmutter in Neuchâtel: »Zum ersten Mal war ich in den Ferien von zu Hause fort und hatte mich so auf meine Großmutter väterlicherseits gefreut. Ich hörte ihr stundenlang zu. Ganz in Schwarz gekleidet saß sie stocksteif und aufrecht da und sprach über das unendliche Leid ihrer Kindheit. Ihre Mutter hatte sich drei Wochen lang die Augen über das harte Los der Familie ausgeweint und starb. Schon nach wenigen Tagen überkam mich Langeweile. Ich wollte wieder nach Hause, zu meinen Bäumen.«4 Damals lebt die unverheiratete Tante Cécile Schütz bei ihrer Mutter in Neuchâtel und hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihrem Neffen Manieren beizubringen. Diese indirekte Kritik an seinen Eltern macht dem jungen Roger schwer zu schaffen.
Die Zeit in Neuchâtel vermittelt Roger die unvergessliche Erfahrung, dass er in eine großzügige Familie hineingeboren worden ist, in der wahre Solidarität gelebt wird. Gleichzeitig stört ihn schon damals, welche Rolle das Geld in den Gesprächen der Erwachsenen spielt. Doch die unerschütterliche Güte seines gedemütigten Großvaters wird er nie vergessen.
Was ich sehe, ist schön
Wenn die Tante aus Paris zu Besuch ist, treten jedes Mal neue Persönlichkeiten aus dem Schatten hervor. Tante Adèle kennt nämlich auch den mütterlichen Zweig der Familie recht gut. Da gibt es zuallererst den Urgroßvater Delachaux, genannt Gay, aus der kleinen Stadt Le Locle im Kanton Neuchâtel. Als Uhrmacher lebt er auf seinen Geschäftsreisen sein Fernweh aus. Mit seiner Person verbinden sich Überfahrten nach Amerika, ein Geschäft in Boston … lauter magische Worte, die Rogers Fantasie beflügeln und ihn träumen lassen. 1971, auf seiner ersten Reise in die Vereinigten Staaten, muss Roger daran zurückdenken: »Mit dem Flugzeug von Paris nach New York … ein Kindheitstraum. Habe ich nicht die letzten Tage vor Freude getanzt beim Gedanken an die Überquerung des Atlantiks? Amerika, das habe ich mir immer gewünscht – die Geschichten meines Urgroßvaters. Seitdem fühle ich eine Sehnsucht nach unendlichen Weiten, nach einem Land ohne Grenzen.«5
Die Frau des Urgroßvaters Delachaux, die geborene Elsässerin Olympe Kullmann (1833–1907), ist noch jung, als ihr Mann und zwei ihrer Söhne an Tuberkulose sterben. Kurz vor ihrem Tod wird sie von einem ihrer Enkel gefragt: »Sie haben so vieles durchgemacht im Leben, würden Sie mir, der ich nicht an Gott glauben kann, etwas mit auf den Weg geben?« Was sollte sie, selbst wenn sie die Kraft hätte, auf diese Frage antworten? Als der junge Mann acht Tage später an ihr Sterbebett zurückkehrt, flüstert sie ihm mit letzter Kraft zu: »Was ich sehe, ist schön!«6 Diese Geschichte seiner Urgroßmutter hat Roger sehr beeindruckt. Auch viele Jahre später erzählt er davon und zeigt dabei auf das Foto, das er von ihr aufbewahrt.
Ihre Tochter Marie-Louise Delachaux, (1857–1921), verheiratet mit Louis Hippolyte Marsauche (1846–1912), ist Rogers Großmutter mütterlicherseits. Nach dem Tod ihres Mannes, der Pfarrer in Nordfrankreich war, zeigt sich die starke Persönlichkeit dieser Frau. Auf der Karte, mit der sie ihre Tochter Amélie vom Tod des Vaters in Kenntnis setzt, schreibt sie...