Ist die Psychoanalyse veraltet?
In seinem Buch »Zweihundert Jahre phantastische Malerei« hat der Kunsthistoriker Wieland Schmied hinsichtlich der Beziehung Salvador Dalis zur historischen Surrealismus-Bewegung folgende bemerkenswerte Feststellung getroffen: »Die historische Rolle, die Dali in der Gruppe der Surrealisten gespielt hat, besteht darin, daß er sie als einziger wirklich beim Wort genommen – und ad absurdum geführt hat«. Er, Dali, sei es gewesen, der ihr Glaubensbekenntnis, die Definition des Surrealismus im Ersten Surrealistischen Manifest, auf die Probe gestellt habe. In jenem Manifest hatte André Breton im Jahre 1924 geschrieben, der Surrealismus sei »Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen«, und diese nun sei die Formulierung gewesen, auf die sich Dali berufen habe, »als er den Surrealisten schon anfangs (aber zu Unrecht) als Koprophage suspekt war – er hatte in sein Bild ›Le Jeu Lugubre‹ (1929) sehr deutlich und genußvoll Kot hingemalt –, vor allem aber, wenn er Figuren seiner Bilder als ›Hitlerische Amme‹ zu deuten begann und man, wenn auch in noch so grotesken Verschlüsselungen, seine absurde Hommage an Hitler nicht mehr übersehen konnte«.1
Als es dann zur internen »Prozeßverhandlung« kam, berief sich Dali auf »die bewußt ausgeschlossene Kontrolle durch Prinzipien der Moral, auf die ecriture automatique, auf das Diktat der Träume – er habe diese Figuren gesehen, sie seien ihm im Traum, in Halluzinationen erschienen«, und so sei es also nicht verwunderlich, wenn sie nunmehr ihren Platz auf der Leinwand fänden. Marcel Jean, einem Zeugen der Verhandlung, zufolge, soll Dali behauptet haben: »Ich übertrage meine Träume, und ich habe deshalb nicht das geringste Recht, eine bewußte Kontrolle über ihren Gehalt auszuüben. Ist es mein Fehler, wenn ich von Hitler oder dem ›Angelus‹ von Millet träume?« Zurecht meint Schmied: »Seine Erklärung war korrektester Surrealismus.« Gleichwohl hätten die Surrealisten diese Erklärung nicht gelten lassen; sie verwarfen Dalis Verteidigung: »Mit Hitler, mit dem Faschismus wollten sie unter gar keinen Umständen auch nur das geringste zu tun haben.«2
Dali wurde also ausgeschlossen. Auf die Verurteilung hat er freilich gelassen reagiert: Der Unterschied zwischen den Surrealisten und ihm sei der, dass er Surrealist sei. Schmied meint dazu: »Nimmt man den Surrealismus der Manifeste, lag der Witz Dalis darin, daß er recht hatte«, fügt jedoch kommentierend hinzu: »Aber der Surrealismus war schon damals – zehn Jahre nach dem ›Ersten Manifest‹ – nicht mehr der der Definitionen Bretons. Dalis Ausschluß war ›eine Stunde der Wahrheit‹. In dieser Stunde zeigte sich deutlich, dass die programmatischen Definitionen Bretons unzureichend sind, das gewachsene komplexe Phänomen des Surrealismus zu erfassen. Indem er sich historisch entfaltet hatte, war der Surrealismus etwas anderes geworden als das, was Breton postuliert hatte. Indem er gewachsen war, hatte er mit jeder Realisation zugleich nicht realisierte Möglichkeiten vertan«.3
Dalis augenzwinkernde Beteuerung, der wahre Surrealist sei er, und nicht seine Widersacher (die eigentlichen Begründer und Theoretiker der Bewegung), erwächst aus einem Zustand, bei dem die Urheber der Maxime gewordenen Idee sich als unfähig erweisen, ihren eigenen theoretischen Forderungen nachzukommen – sie lässt an das Unstimmigkeitsverhältnis zwischen dem radikal vorgestellten Anspruch auf eine Konventionsüberwindung und dem gerade von Konventionsbehaftung geprägten Versuch seiner praktischen Verwirklichung denken. Im anstehenden Zusammenhang nimmt sozusagen die Vorstellung vom Kot als ästhetisch wertfreiem Gegenstand der malerischen Darstellung den Stellenwert einer nicht von vornherein eingestandenen Gegenposition zur nachmalig »wertfrei« vollzogenen Tathandlung, die da den Kot auf die Leinwand tatsächlich erscheinen lässt, an. In diesem bestimmten Sinne darf denn auch Schmied Dalis Ausschluss als »eine Stunde der Wahrheit« deuten: Denn Dali entlarvte gewissermaßen die Unzulänglichkeit der »programmatischen Definitionen« aus der Gründerzeit für die spätere konkrete Erfassung des »gewachsenen komplexen Phänomens des Surrealismus«. Er veranschaulichte das Versagen der Doktrin hinsichtlich der ihr obliegenden Aufgabe, einen genuin gewachsenen Bezug zu den Manifestationen dessen, was sich nachmalig für »Surrealismus« ausgeben wird, herzustellen. Praxisgerecht ausgedrückt: ihr Unvermögen, diese Manifestationen prognostizieren zu können.
Dass sich der Surrealismus zum damaligen Zeitpunkt durch seine historisch gewachsene Entfaltung von den ursprünglichen Postulaten Bretons objektiv wegentwickelt hatte, dass er zudem »mit jeder Realisation zugleich nicht realisierte Möglichkeiten vertan« hatte, will den Anschein erwecken, als habe Dali ohnehin, wenn schon keinem handfesten Anachronismus, so doch zumindest einer zusehends unzeitgemäß anmutenden Doktrin das Wort geredet. Dies mag vor allem zum besseren Verständnis der damals herrschenden Situation der Kultur registriert werden, ist im Übrigen aber auch für die nun folgenden Darlegungen von einiger Bedeutung.
Denn es prallt hier die Konsequenz einer theoretisch gefassten, praktischem Bezug zunächst abgewandten Doktrin auf die praktische Umsetzung ebendieser Doktrin im Kontext einer sich solch radikaler »Unvoreingenommenheit« objektiv entziehenden Realität. Die Idee und deren entäußerte Verwirklichung stehen sich dichotomisch gegenüber – das Problem von Theorie und Praxis erhebt sich vor uns in vollem Umfang seiner Ambiguität: Hat Dalis schelmisches »Beim-Wort-Nehmen« der surrealistischen Doktrin, sein »Auf-die-Probe-Stellen« des Glaubensbekenntnisses der Bewegung, diese tatsächlich »ad absurdum« geführt? Oder hat die sich in historischer Unmittelbarkeit manifestierende »Realität« dem Anspruch ihrer wahrheitsgerechten epistemischen Durchdringung ein Veto gesetzt? Konkreter: Hat Dalis konsequent eingestandene Affinität zu Hitler – und sei es zur Metapher »Hitler« – das jegliche »Vernunft-Kontrolle« und alle »ästhetischen oder ethischen Fragestellungen« abschlagende »Denk-Diktat« des Surrealismus gründlich widerlegt, das heißt: der praktischen Unbrauchbarkeit überführt? Oder sollte man eher meinen, das historisch gewachsene Auftreten Hitlers habe der linearen Vorstellung von einer Befreiung des Menschen im real obwaltenden Geschichtsprozess – und somit also auch der sich emanzipatorisch verstehenden Ausrichtung der surrealistischen Theorie – gleichsam »objektiven« Einhalt geboten?
Kein leichtes, womöglich auch nicht eindeutig entscheidbares Problem. Denn es impliziert die Konfrontation der ihm immanenten Grundfrage: Kann (oder sollte gar) Praxis als Gültigkeitskriterium einer der Praxis vorangestellten Theorie herangezogen werden? Genauer und schärfer noch: Kann (oder sollte) Praxis – verstanden als eine sich »objektiv« manifestierende historische Realität einerseits, aber eben auch als bewusst unternommener Versuch äußerlicher Verwirklichung einer theoretisch projizierten Idee andererseits – zum Maßstab der »Stimmigkeits«-Bewertung einer der Theorie einwohnenden ethischen (oder ästhetischen) Maxime erhoben werden?
Die Antwort hierauf berührt zwangsläufig eine dieser Fragestellung eng verwandte Problematik, die sich mit dem Begriff des »Möglichen« befasst. Es sei in diesem Zusammenhang an Ernst Blochs Diktum verwiesen: »Denkmöglich ist alles, wobei überhaupt etwas als in Beziehung stehend gedacht werden kann, doch darüber hinaus gilt für alle weiteren Arten des Kannseins: Mögliches ist partiell Bedingtes, und nur als dieses ist es möglich«.4 Versteht man unter »allen weiteren Arten des Kannseins« zunächst die Auswirkungsmöglichkeiten praktischen Handelns, so fällt die scharfe Sonderung des Denkmöglichen vom Bereich des Handlungsmöglichen ins Auge: Nicht nur wird dem Denken – als philosophische Praxis zumal – eine nahezu autonome Sphäre bescheinigt, sondern es wird auch der Spielraum des Denkbaren einer Beschränktheit des real Umsetzbaren implizit gegenübergestellt. Darüber hinaus wird aber vor allem die Unbedingtheit des Denkens in kontrastierendem Gegensatz zur Bedingtheit des Handlungsmöglichen hervorgehoben. Es ist dies ein Postulat, dem der Gedanke innewohnt, Bedingtheit, soweit erfassbar, lasse sich von vornherein denkend, nur begrenzt jedoch im Nachhinein handelnd überwinden.
Die hier analytisch zum Ausdruck gebrachte Trennung der Idee vom handelnd unternommenen Versuch ihrer praktischen Umsetzung lässt an eine implizit vorausgesetzte Autonomie der in der Idee angelegten ethischen Forderung gegenüber den praktischen Gestaltungen ihrer Verwirklichung denken. Das dürfte wohl kaum Sache des mit der Kategorie des »Prinzips Hoffnung« als Motivations- und Handlungsträger operierenden Philosophen Ernst Bloch sein. Nicht die Souveränität des Denkmöglichen, sondern eben doch »alle weiteren Arten des Kannseins« als geschichtlich »partiell Bedingtes« sind primärer Gegenstand seiner historiosophischen Erörterung.
Dieser Begriff einer immanent wechselläufigen Bedingtheit von Theorie und Praxis formuliert sich bei Max Horkheimer als Alternative zur bestimmten Festlegung auf einen der herkömmlichen philosophischen Standorte: »Das Verhältnis von Praxis und Theorie ist anders, als es sowohl dem Relativismus wie der absoluten Wertlehre gemäß sich darstellt. Die Praxis bedarf dauernd der Orientierung an fortgeschrittener Theorie. Die Theorie, auf die es ankommt, besteht in der möglichst eindringenden und kritischen Analyse der historischen Wirklichkeit, nicht...