Kapitel 2
Angst oder Freude
Bevorzugte Bahnen im Gehirn
Wenn der Mensch in einer völlig natürlichen Umwelt aufwächst, lernt er gewisse Stimuli dieser Umwelt mit Lust, andere hingegen mit Unlust zu assoziieren. CAMPBELL (24) zeigt, daß dieser Lernvorgang physiologisch nachweisbar (und damit materieller und nicht rein »geistiger« Natur) ist: Es werden nämlich durch die Wiederholungen gewisser Lebenssituationen bevorzugte Nervenbahnen im Gehirn etabliert. Auch VESTER weist in seinem Buch »Denken, Lernen, Vergessen« (das die biochemischen Vorgänge hervorragend schildert) mit Nachdruck auf die biologisch meßbare Tatsache dieser Vorgänge hin! Dies ist für unser Verständnis von außerordentlicher Wichtigkeit, denn: Solange man meinte, Lernen sei »rein geistiges Verhalten«, meinte man auch, es sei wissenschaftlichen Meß- und Beschreibungsmethoden nicht zugänglich. Dieses resultierte aus der Annahme, daß jede Aussage über Lernprozesse letzten Endes ja nur »graue Theorie« darstelle, Theorien aber falsch sein könnten, womit man dann ein Nicht-Akzeptieren gewisser Sachverhalte entschuldigen konnte.
Heute aber, da man auch Lernen messen und exakt abgrenzen kann, muß man sich mit diesen Informationen auseinandersetzen, wenn man einsieht, daß ein Großteil unseres Distreß-Verhaltens auf erlernten Verhaltensmustern basiert!
Wenn Sie sich in die Brennesseln gesetzt haben, können Sie doch nur lernen, dies später nicht wiederzutun, weil Sie in der Lage sind, zwei Aspekte einer Situation miteinander in Verbindung zu bringen: Weil Sie später beim Anblick der Brennesseln das brennende Gefühl (taktiler Reiz) mit dem visuellen Reiz der Pflanze verknüpfen können.
Wenn nun eine Situation gute Gefühle ausgelöst hat, wird sie auch später mit guten Gefühlen assoziiert! Hat sie hingegen negative Gefühle ausgelöst, so wird sie auch später negative Assoziationen auslösen! Diesen lebensnotwendigen Mechanismus nutzen die meisten Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder täglich aus, ohne sich wirklich einmal Gedanken darüber zu machen, was sie dem Kinde damit eigentlich antun können!
Sicher hätten Sie Angst, wenn plötzlich eine Schlange vor Ihnen auftauchte und sich an Ihrem Bein hochzöge! Das ist auch gut so, denn jede fremde Schlange könnte unter Umständen Ihr Überleben gefährden.
Empfinden Sie Zorn, wenn jemand versucht, einem armen, hilflosen Greis etwas wegzunehmen? Das ist eine gesunde Reaktion; sie zeigt, daß Sie sich identifizieren und dessen Verlust mitempfinden können. Außerdem veranlaßt es Sie wahrscheinlich, wenn möglich, zu helfen.
Spüren Sie Abscheu, Abneigung oder gar Ekel vor manchen Dingen? Das ist prinzipiell gut, denn es soll Sie dazu veranlassen, Kontakte mit solchen Dingen zu meiden, wenn sie eine Gefahr für Leib und Seele darstellen könnten.
Achtung: ein wichtiges Experiment →
Experiment
Wie steht es mit Ihren Gefühlen auf die unten aufgeführten Worte? Wenn Sie bedenken, daß auch ein Gedanke vom Organismus als Stimulus verarbeitet werden muß, werden Sie verstehen, warum auch Gedanken echte (positive oder negative) Gefühle auszulösen vermögen. Stellen Sie nun einmal ganz bewußt fest, welche Gefühle die folgenden Stimuli auslösen, und tragen Sie diese neben dem jeweiligen Wort ein:
Stimulus: | Gefühlsmäßige Reaktion: |
N. B. Bitte nicht weiterlesen, ehe Sie nicht zumindest ein Gefühl eingetragen haben!6
Und jetzt fragen Sie sich einmal ernsthaft: Woher kommen denn diese Gefühlsregungen?
Woher kommt es, daß der eine Mensch die zärtliche, sexuelle Vereinigung gleichgeschlechtlicher Partner akzeptiert, während der andere mit Wut, Aggression u. ä. auf solche »Schweine« reagiert? Woher kommt es, daß Hans einer Spinne negative oder positive (Neugierde7 ist positiv) Gefühle entgegenbringt, während Eva schreiend und entsetzt, mit allen Anzeichen höchster Panik, reagiert?
Daraus sehen Sie, daß viele Ihrer Reaktionen durch Erziehungsprozesse auf gewisse Stimuli (inkl. Gedanken und Vorstellungen) »programmiert« worden sind. Der eine hat gelernt, daß Spinnen interessante und nützliche Tiere sind. Man reagierte in seiner Anwesenheit positiv, wenn er Spinnen studierte. So konnte er eine bevorzugte Nervenbahn (denn Lernprozesse bedeuten nichts weiter als sogenannte bevorzugte Bahnen) etablieren:
Spinne → Neugierde (Lustareal)
Der andere Mensch hingegen erlebte vielleicht das angsterfüllte8 Schreien seiner Mutter, d. h., er beobachtete ihre Alarm-Reaktion und assoziierte dann später die Angst der Mutter (die sich auf ihn übertrug) zum Stimulus, so daß seine bevorzugte Nervenbahn so aussieht:
Spinne → Angst (Unlustareal)
So werden Programme geschaffen. So lernen wir, auf gewisse Stimuli (inkl. Gedanken und Vorstellungen!) mit Angst, auf andere mit Wut, auf wieder andere mit Scham zu reagieren.
Prinzipiell ist dieser Prozeß gut, gesund und lebens-erhaltend. Wenn ein Kind immer wieder beobachtet, wie die Mutter mit Angst oder Erschrecken reagiert, wenn es plötzlich auf die Straße läuft, wird es eines Tages lernen, folgende bevorzugte Bahn zu etablieren:
Auf die Straße laufen → Angst (Unlustareal)
Wenn diese Nervenbahn einmal fest einprogrammiert worden ist, wird dieser Mensch später nicht mehr spontan auf die Straße laufen (außer in Zeiten allerhöchsten Stresses, z. B. bei einem Erdbeben).
Wir sehen also, daß Erziehungsprozesse gleichzeitig Programmierungsprozesse darstellen und daß wiederholte Paarung zweier Stimuli (z. B. Weihnachten und Freude oder Sexualität und negative Reaktionen der Umwelt) sog. bevorzugte Nervenbahnen etablieren. Solange diese Lernprozesse vor Gefahr schützen, sind sie gutzuheißen, z. B.:
Lauf nicht auf die Straße, ohne dich umzuschauen!
Faß die Herdplatte nicht an, sie ist heiß!
Wobei Lernprozesse durch Verhalten (man hat sich einmal verbrannt) wesentlich wirksamer sind als solche, die nur auf verbalen Wiederholungen derselben Nachricht basieren. Deswegen lernt ein Kind wesentlich schneller, leichter und freudiger, daß zwei Halbe ein Ganzes ergeben, wenn es diesen Prozeß mit einem Apfel selbst durchexerzieren darf, als wenn der »Herr Lehrer«, die »Frau Lehrerin« oder die Eltern ihm diese Nachricht nur immer wieder vorsagen!
Positive und negative Programme
Alle Programme, die das Leben, die Gesundheit und die Sicherheit des Individuums schützen, sind prinzipiell positiv zu nennen, auch wenn sie »negativ« klingen, z. B. »Tu das nicht!«
Alle Programme, die das Leben, die Gesundheit und die Sicherheit des Individuums gefährden, sind prinzipiell negativ zu nennen, auch wenn sie »positiv« klingen, z. B.: »Sei ein Mann!« oder »Verbirg deine Gefühle!«
Auf Seite 28 finden Sie einige Aussagen, die Sie als positiv (richtig) oder negativ (falsch) beurteilen sollen. Nehmen Sie obenstehende Definition zuhilfe, aber: Wenn Sie ein Programm als »negativ« einstufen, müssen Sie klar und präzise begründen können, warum dieses Programm Leben, Sicherheit oder Gesundheit des einzelnen gefährdet. Z. B.: Herr Meier findet die Aussage »Auch Männer dürfen sich untereinander lieben« negativ. Gefragt warum, sagt er: »Das weiß man doch!« Oder: »Die sollten sich was schämen!« Oder: »Das ist doch pervers!«
Woher weiß man das? Wem schadet es wirklich?
Frau Meier hingegen hat die Aussage »Orale Liebe ist gut« sofort negativ bewertet. Warum?
Lieber Leser, vielleicht haben vorangegangene Zeilen Sie schokkiert? Vielleicht sollten sie das sogar. Warum?
Es geht mich persönlich natürlich gar nichts an, welche Einstellung Sie gewissen Dingen gegenüber haben! Aber es gilt klarzustellen, daß solche Einstellungen gelernte Reaktionen darstellen! Wagen Sie es, sich mit Ihren Programmen denkend auseinanderzusetzen, ohne verärgerte, schockierte, entsetzte Reaktionen dabei? Erst dann werden Sie nämlich mit Hilfe Ihres Denkhirns entscheiden...